Am Montagmorgen fand Brunetti in seiner Mail eine Nachricht von Signorina Elettra. Sie bestätigte mit konkreten Daten und Fakten, was Grif‌fonis Freunde und Verwandte gesagt hatten: Alaimo war sauber.

Als Grif‌foni zu ihm ins Büro kam, teilte er ihr das mit und erzählte dann von seinem Gespräch mit Mr. Watson. Als Grif‌foni fragte, wie es der jungen Frau gehe, hob Brunetti die Hand, ließ sie auf sein Knie zurückfallen und wiederholte, was seine Mutter früher immer in der Not gesagt hatte: »Wir alle sind in Gottes Hand.«

Grif‌foni schwieg lange. Dann richtete sie sich entschlossen auf, wie um die Wucht von Brunettis Bemerkung abzuschütteln. »Ich habe gebeichtet«, sagte sie.

»Was meinst du damit? Bei wem?«

»Bei Alaimo«, und, Brunettis Blick ausweichend: »Das mit seiner Tante. Und was ich daraus geschlossen hatte.«

»Ah«, entwich es Brunetti. »Wie hat er reagiert?«

»Er hat …«, begann sie. »Er hat es gnädig aufgenommen.«

Brunetti verkniff sich den Hinweis, dass Alaimos Jahre im Norden ihn womöglich gegen Misstrauen abgehärtet hatten, und nickte nur.

Gemeinsam überlegten sie, wie sie ihn in ihre Ermittlungen in Sachen Borgato einbeziehen könnten, und waren sich bald einig: Sie würden Alaimo über ihre bisherigen Erkenntnisse informieren und ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen versuchen.

»Alaimo weiß bestimmt, ob Frauen auf diesem Weg eingeschleust werden«, vermutete Grif‌foni. »Hier oben, meine ich. Im Süden ist das normal.«

Brunetti fehlten die Worte. Sie machten sich auf den Weg nach unten zu Foa und seinem Boot.

 

Zwanzig Minuten später hielt das Polizeiboot vor der Capitaneria; ein junger Mann in weißer Uniform kam gerade noch rechtzeitig aus dem Gebäude, um das Tau aufzufangen, das Foa ihm zuwarf. Offenbar verständigten die beiden sich mit irgendeiner Seemannsgeste, denn der junge Mann vertäute das Boot nicht, sondern hielt es nur dicht an der riva, bis die zwei Passagiere ausgestiegen waren, dann warf er Foa das Tau zu, salutierte vor den zwei Commissari und führte sie in das Gebäude und weiter zu Alaimos Büro.

Alaimo erhob sich hinter seinem Schreibtisch und kam ihnen entgegen. Sein Lächeln war deutlich wärmer als bei ihrem ersten Besuch. Als Erstes nahm er Grif‌fonis Hand: »Ah, Claudia, hätte ich das alles nur gleich gewusst! Wir hätten viel Zeit sparen können.«

»Ach, Ignazio«, erwiderte sie, »man kann nie vorsichtig genug sein.«

Sie wandte sich lachend zu Brunetti. »Guido, das ist Ignazio, der, wie sich herausgestellt hat – jedenfalls wenn er in Neapel ist – mit dem Mann meiner Kusine Tennis spielt.«

Brunetti staunte: Das also war die Basis, auf der man in Neapel Freundschaften schloss und einander Vertrauen schenkte? Er gestattete sich ein kleines, neugieriges »Aha?«.

»Und der hierher versetzt wurde, weil …«, wollte sie fortfahren.

Alaimo unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Das tut nichts zur Sache, Claudia.«

Sie sah ihn fragend an: »Ich soll das nicht sagen?«

Alaimo antwortete nicht, sondern schüttelte nun auch Brunetti die Hand. Dann verteilten sie sich wie von selbst auf die Sitzgelegenheiten vom letzten Mal.

Als Gastgeber ergriff Alaimo die Initiative: »Ich war neulich genauso … auf der Hut.« Er wandte sich lächelnd zu Brunetti. »Ich kenne Ihren Namen, Guido, und weiß von Ihrem guten Ruf, aber Claudia kannte ich nicht, wir hatten noch nie an einem gemeinsamen Fall gearbeitet, weshalb ich sie nur nach dem beurteilen konnte, was sie an diesem Tag zeigte.« Er holte Luft und fuhr fort: »Nachdem ich meine fromme Tante erwähnt und damit ihren Argwohn geweckt hatte, spielte sie mir sehr überzeugend eine Frau vor, der ich nicht in meinen kühnsten Träumen Vertrauen schenken würde.«

Brunetti, der Grif‌foni gegenübersaß, sah sie erröten. Was ihn überraschte – und erleichterte: Hatte er sie doch immer

Alaimo, dem das anscheinend auch nicht entging, hob beschwichtigend die Hand. »Wenn Sie gedacht haben, ich lüge, um Ihr Vertrauen zu gewinnen, Claudia, war es klug von Ihnen, sich in Acht zu nehmen.«

Er schwieg und fügte schließlich lächelnd hinzu: »Ich habe mich aus demselben Grund ganz genauso verhalten. Als Sie von Vio und Duso anfingen und dann beiläufig Vios Onkel erwähnten, klang das für mich, als wollten Sie mir auf den Zahn fühlen.«

»War ich wirklich so plump?«, fragte Grif‌foni.

Die Frage schien den Capitano in Verlegenheit zu bringen. »Jedenfalls spürte ich, dass ich Ihr Misstrauen erregt hatte, konnte mir das aber nicht erklären. Je mehr Sie sprachen, desto weniger wollte ich mit Ihnen zu tun haben.« Er schwieg wieder, lächelte. »Und als Sie Vio und seinen Onkel erwähnten, gingen bei mir die Alarmglocken los.«

Alaimo warf beide Hände hoch, sah zu Brunetti, dann zu Grif‌foni, und kam kurz entschlossen – Schluss mit dem Geplänkel – zur Sache. »Ich beobachte die zwei schon seit langem. Deswegen habe ich Sie, als Claudias Verhalten mir so merkwürdig schien, damit vertröstet, mich umzuhören. Ich wollte nicht, dass die Polizei Nachforschungen anstellt und den Argwohn der beiden weckt.«

Alaimo war noch nicht fertig. In herzlicherem Ton fuhr er fort: »Es war gut, dass ich von Ihnen gehört hatte, Guido, denn nur deshalb habe ich ein paar Freunde in Neapel angerufen und über Sie«, er sah lächelnd zu Grif‌foni, »Erkundigungen eingezogen.«

»Enrico hat den Ausschlag gegeben.«

Grif‌foni hob fragend die Braue, und Alaimo bestätigte lächelnd: »Enrico Luliano.«

Grif‌foni erstarrte. Sie wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Brunetti fragte so beiläufig und uninteressiert wie möglich: »Wer ist das? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Alaimo löste seinen Blick von Grif‌foni und sah zu Brunetti. »Ein Richter. Ein sehr guter.«

Grif‌foni wurde plötzlich unruhig, schlug die Beine andersrum übereinander und sagte mit einer Stimme, die Brunetti ein wenig zu fest vorkam: »Mit zwei Bodyguards und drei Wohnungen, in denen er nach dem Zufallsprinzip die Nächte verbringt.«

»Klingt nicht nach einem besonders erstrebenswerten Leben«, versuchte Brunetti sich vergeblich in Ironie.

»Können wir zum Thema zurückkommen?«, fragte Grif‌foni schroff.

Alaimo nicke, stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit drei Mappen zurück.

Er setzte sich, gab jedem der beiden eine und schlug seine eigene auf. »Das sind alle dieselben«, erklärte er. »Schauen Sie sich das einmal an. Und dann gebe ich Ihnen ein paar inoffizielle, unbestätigte Informationen dazu.«

Die nächste Viertelstunde verbrachten sie mit Aktenstudium. Immer wieder war Pietro Borgato vor seinem Verschwinden aus Venedig auf‌fällig geworden. Dazu bemerkte Alaimo lediglich, dieses Muster sei vor vierzig Jahren für junge Giudecchini aus der Arbeiterklasse nichts

Dann war er weg, und die fehlenden Jahre lagen im Dunkeln.

Die folgenden zwei Seiten begannen mit seiner Rückkehr nach Venedig und dokumentierten nicht nur die Gründung und Expansion seiner Transportfirma, sondern auch seinen zunehmenden Reichtum. Hierzu erklärte Alaimo: »Wir wissen nicht, woher er das Geld hatte, jedenfalls hat er sich davon eine Wohnung, das Lagerhaus samt Anlegestelle und zwei kleine Boote gekauft. Wie Sie sehen, hat er die Transportfirma unmittelbar nach seiner Rückkehr eröffnet.«

»Und die ist gut gelaufen?«, fragte Brunetti.

Alaimo blickte von der letzten Seite auf, wo Borgatos Vermögenswerte aufgelistet waren. »Richtig aufmerksam sind wir geworden, als er zwei weitere Boote kauf‌te, sehr große Boote, und zusätzlich drei Immobilien in der Stadt. Woher hatte er all das Geld?«

Ohne auf Brunettis Frage einzugehen, fuhr Alaimo fort: »Vor sechs Monaten rief mich dann ein Freund bei der Guardia di Finanza an. Die Firma expandiere zwar, aber auch Borgatos Aufwendungen nähmen zu, und doch könne er sich immer größere Boote leisten.« Alaimo lächelte. »Mein Freund sagte, das habe ihn und seine Leute neugierig gemacht.«

Alaimo ließ die Papiere sinken und sah zu Brunetti. »Ich habe Tage gebraucht, sie zu überreden, nichts gegen ihn zu unternehmen, sondern ihn uns zu überlassen.«

»Weil wir ihm Menschenhandel zur Last legen, nicht bloß Steuerhinterziehung.«

Endlich war es ausgesprochen, dachte Brunetti: Menschenhandel. Seinen Ursprung hatte der Handel – wie seit Jahrhunderten – bei den Ärmsten der Armen in Afrika, Asien, Südamerika. Die Importierten kommen nach wie vor bei den Kolonisatoren an, die sie dann für sich arbeiten lassen und sie mit ihrem Geld zwingen, Feldfrüchte anzubauen und zu ernten, sich um ihre Alten und ihre Kinder zu kümmern, ihre Betten zu wärmen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen, inklusive Extras.

Oder aber die Menschen werden, überlegte Brunetti, wie in der Vergangenheit einfach weiterverkauft, so dass ihr Schicksal in den Händen desjenigen liegt, der bereit ist, den Preis zu bezahlen für diesen heißen Stoff. Und werden dann ausgebeutet als Hausdiener, Feldarbeiter, Sexspielzeug, womöglich wird sogar mit ihren Organen gehandelt, und all dies raubt nach und nach nicht nur ihrer Person alles Menschliche, sondern auch den Seelen ihrer Besitzer – falls man bei ihnen davon überhaupt noch sprechen konnte.

Als Brunetti sich wieder Alaimo zuwandte, sagte der gerade: »Erst als ich ihnen zusicherte, sie könnten ihrerseits Anklage erheben, sowie wir ihn verhaftet hätten, kamen wir zu einer Einigung.«

»So lange haben sie stillgehalten?«, fragte Grif‌foni.

Alaimo ließ den Kopf hängen, als trüge er die Schuld an der Verzögerung. »Wir brauchten ausreichend Beweismaterial für einen Haftbefehl, doch um diesen zu erlangen, mussten wir behutsam zu Werke gehen.«

»Sie als Venezianer kennen das doch: Man berührt das Spinnennetz hier«, sagte Alaimo, zeigte auf eine Stelle vor seiner linken Schulter und dann auf eine ebenso unsichtbare Stelle weit rechts oben, »und es zittert da. Besonders – wenn ich das hinzufügen darf – auf der Giudecca.«

Brunetti nickte. »Was haben Sie herausgefunden?«

Alaimo blieb erst einmal stumm, doch weder Brunetti noch Grif‌foni brachen das Schweigen: Sie warteten einfach ab, dass Alaimo fortfuhr. Schließlich warf er seine Mappe auf den Tisch, bildete mit den Händen ein Dreieck und tippte mehrmals die Fingerspitzen aneinander: »Sie werden denken, das klingt nach Sciencef‌iction.«

Die zwei Commissari taten keinen Mucks.

»Einer unserer Männer angelt gern«, begann Alaimo, »und hat Verwandte in Chioggia. Seit Jahren erzählt er uns von einer Stelle, wo zwei Strömungen zusammentreffen und jede Menge Fische zu finden sind. Ob auf offener See oder in der laguna, das verrät er uns nicht. Nur ein paar Chioggiotti kennen die Stelle, sagt er. Mit denen hat er sich im Lauf der Zeit angefreundet. Zumindest nutzen sie die Stelle gemeinsam und verraten keinem, wo sie ist.«

Brunetti begann sich zu fragen, wohin diese Geschichte führen sollte: Seemannsgarn folgte verschlungenen Wegen, nicht geraden Linien. Nach Sciencef‌iction hörte es sich bis jetzt jedenfalls gar nicht an.

»Wie auch immer, einer von denen, die dort zum Angeln rausfahren, ist Bootsbauer«, fuhr Alaimo fort. »Und der erzählte eines Tages von einer Erfindung, die er gemacht

Alaimo stellte es auf den Tisch, nahm zwei längliche Briefumschläge und fügte sie zu einem flachen Zelt über dem Boot zusammen.

Er zeigte darauf und fuhr fort: »Radarstrahlen, wenn sie von der Seite kommen, also etwa von einem anderen Schiff, werden von den Kupferplatten abgelenkt.« Er fuhr mit ausgestrecktem Finger auf das Boot zu und ließ diesen, kurz bevor er das Boot berührte, nach oben steigen.

»Sehen Sie?«, sagte er. »Die Radarstrahlen werden nach oben gelenkt und zeigen folglich nichts an. Es ist, als gäbe es das Boot gar nicht. Bei Dunkelheit macht ein Patrouillenboot also gar nicht erst die Suchscheinwerfer an, weil der Radar nichts Verdächtiges anzeigt.«

Er baute den Radarschutzschirm ab und schob das Boot in die Mitte des Tischs.

»Bitte weiter«, sagte Brunetti.

»Wenn das Mutterschiff außerhalb der Zwölfmeilenzone bleibt, also in internationalen Gewässern, können wir nichts unternehmen. Wir vermuten, dass die kleineren Boote – ausgestattet mit diesen Kupferplatten – zu dem Mutterschiff hinausfahren und dort die Frauen abholen.« Nach einer Pause fügte er verbittert hinzu: »Die Fracht. Wahrscheinlich kommen immer gleich mehrere Boote zum Einsatz. Jedes kann in einer Nacht mehrmals hin- und herfahren.«

»Das wissen wir nicht. Wir sind nachts rausgefahren und haben mehrfach die großen Schiffe geortet, aber wir haben einfach nicht genug Leute, sie die ganze Zeit zu beobachten, und rechtlich haben wir sowieso keine Handhabe. Wir dürfen sie nicht entern, können also nicht feststellen, was sie transportieren.«

»Und dann?«

»Fahren wir zurück, gehen nach Hause und legen uns schlafen.«

»Wie ließe sich das ändern?«, fragte Grif‌foni.

»Ah«, seufzte Alaimo tief. »Wir müssten wissen, wann und wo die Übergabe stattfindet und wo sie an Land gehen wollen.«

»Um ihnen aufzulauern und sie zu schnappen?«, fragte Grif‌foni.

»Se Dio vuole«, meinte Alaimo.

»So Gott will«, stöhnte Grif‌foni lachend. »Das höre ich andauernd von den Frauen in meiner Familie. Egal, ob es um die Olivenernte geht, ob der Zug pünktlich ist, ob jemand wieder auf die Beine kommt, ob ein Kind gesund geboren wird.« Sie überlegte kurz. »Und jetzt kommen Sie damit an, wenn ich frage, ob wir es schaffen, diese Männer zu fassen.«

»Eben deshalb interessiere ich mich für ihn.«

»Borgato?«, fragte Brunetti.

»Nein. Marcello Vio«, antwortete Alaimo und verzog den Mund zu einem Grinsen, das Brunetti durch Mark und Bein ging. »Er ist die Schwachstelle.«