Bevor sie loslegten mit Pläneschmieden, brachte Brunetti erst einmal Alaimo auf den aktuellen Stand. Auch Griffoni hörte aufmerksam zu. Er begann seinen ausführlichen Bericht mit dem, was Duso ihm von dem beunruhigenden nächtlichen Besuch seines besten Freundes erzählt hatte. Um Vios Seelenqualen begreiflich zu machen, gab er auch Nieddus Geschichte von den Afrikanerinnen wieder, die ertränkt worden waren. Seine Vermutung sei, dass Vio an Bord des Bootes gewesen war, mit dem man Blessing an Land gebracht hatte.
Alaimo hörte mit ausdrucksloser Miene zu, wurde jedoch immer bleicher und rutschte auf seinem Stuhl immer weiter nach hinten, als wolle er instinktiv Abstand schaffen zwischen sich und dem, was er da hörte.
Als Letztes erwähnte Brunetti das telefonino, das Nieddu der Frau gegeben hatte.
»Wissen Sie, wie viele solcher Handys sie verteilt hat?«
»Nein«, sagte Brunetti, aber dann fiel ihm ein, wie aufgewühlt Nieddu gewesen war, und er fügte hinzu: »Wahrscheinlich eine Menge.«
Alle drei schwiegen. Brunetti dachte: Was für ein seltsames Volk wir sind, oft als oberflächlich verschrien, rührselig und selbstverliebt, nicht sehr vertrauenswürdig, allenfalls höflich. Und doch, jüngst, in jenen schrecklichen, unvergesslichen Zeiten: Wie viele Ärzte und Schwestern waren gestorben? Wie viele waren aus dem Ruhestand zurückgekehrt, hatten in den Krankenhäusern ihr Leben aufs Spiel gesetzt und sich am Ende selbst unter die zahllosen Toten eingereiht? Nieddus Geste entsprang demselben ebenso unerklärlichen wie unwiderstehlichen Drang, anderen Menschen Gutes zu tun. Einem Angehörigen, einem Fremden: Der Drang zu helfen liegt uns im Blut. Brunetti rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Worte über Worte.
»Die Schwachstelle, von der Sie sprachen«, kam Griffoni auf Alaimos Bemerkung zurück. »Wie wollen Sie sich die zunutze machen?«
Der Capitano warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Wenn er auf die Giudecca zurückgekehrt ist, wird er wohl wieder bei seinem Onkel arbeiten.«
»Mit einer gebrochenen Rippe?«, wandte Griffoni ein.
»Er ist von der Giudecca«, erwiderte Alaimo.
»Dass ich nicht lache, Ignazio«, platzte sie heraus. »Ich kann es nicht mehr hören, dieses Gerede, die Giudecchini seien noch richtige Männer. Jeder Mann ein Rambo, der über Häuser springen kann! Dabei hocken in Wirklichkeit nur ein paar alte Knacker in den Bars, spielen Scopa und halten Vorträge, wie die Regierung es besser machen könnte und dass wir einen starken Führer brauchen, der den Leuten sagt, wo es langgeht.«
Alaimo nickte. »Nur dass die alten Knacker«, sagte er lächelnd, »nicht in Angst und Schrecken leben – im Gegensatz zu Borgatos Neffen und der ganzen Nachbarschaft von Borgato, wie ich vermute.«
»Was ist Ihnen sonst noch zu Ohren gekommen?«, fragte Brunetti.
Alaimo hatte diese Frage offenbar schon erwartet, denn er legte sofort los. »Borgatos Boote laufen immer nachts aus – nicht die Transportboote, sondern die Passagierboote, die zwei Mira 37 mit den großen Motoren. Leer geräumt bieten sie sehr viel mehr Platz als die Transportboote und können tonnenweise Schmuggelware befördern.« Ruhiger fügte er hinzu: »Oder was anderes.«
Er wandte sich zu Griffoni. »Auch das mag nach einem Vorurteil klingen, aber auf der Giudecca kennt jeder jeden. Und alle Welt weiß von den nächtlichen Ausfahrten. Aber wenn wir so dumm wären, die Leute danach zu fragen, würden sie sich ahnungslos stellen. Oder bestenfalls sagen, dass Borgato womöglich zum Angeln rausfährt«, schimpfte Alaimo.
»Über die zwei Motoren mit mindestens 250 PS verliert niemand ein Wort: Sie sind um ein Vielfaches stärker als die in jenen Booten, die Supermärkte mit Mineralwasser oder Putzmitteln beliefern. Mit diesen Motoren könnte er«, ereiferte sich Alaimo, »das ganze Gebäude hier wegschaffen, wenn man es auf ein ausreichend großes Floß stellen würde.«
An Brunetti gewandt, fuhr er fort: »Und im Lauf der Jahre hat er es geschafft, alle seine Nachbarn zu überreden, ihm ihre Anlegestellen an der riva zu verkaufen, wo er sein Lagerhaus hat.«
»Ausgeschlossen«, rief Brunetti unwillkürlich. »Kein Mensch verkauft seine Anlegestelle. Niemals. Die sind doch seit Generationen in Familienbesitz.«
Alaimo spreizte die Hände, als wolle er zeigen, dass er davon nichts verstehe. »Mag sein. Aber er hat nur drei Jahre gebraucht, sie alle zu überreden.«
»Um wie viele geht es?«, fragte Brunetti.
»Sechs.«
»Ausgeschlossen«, wiederholte Brunetti.
»Genau das«, fuhr Alaimo lächelnd fort, »höre ich von jedem Venezianer, dem ich das erzähle. Ausgeschlossen. Es ist aber so.«
»Hat sich jemand beschwert?«
»Falls ja, dann wohl eher bei Ihnen, nicht bei uns. Wir sind für Probleme auf See zuständig – und Sie für Probleme an Land.«
»Er besitzt also jetzt den ganzen Kanal?«, fragte Brunetti.
»Fast.«
»Wer hat sich quergestellt?«
»Niemand«, sagte Alaimo. »Aber bei einem Grundstück sind die Besitzverhältnisse ungeklärt.«
»Auf der Giudecca?«, fragte Griffoni und hielt sich erschrocken den Mund zu. »Entschuldige, Guido.« Offenbar war sie davon ausgegangen, dass niemand auf der Giudecca ein Grundstück besitzen könne, für das sich ein Rechtsstreit lohnte. Brunetti ließ ihr die Bemerkung durchgehen; so aus der Luft gegriffen war sie ja schließlich gar nicht.
»Also gut«, fuhr Brunetti fort. »Wir sind uns einig, er hat Dreck am Stecken, und«, er überlegte sich die Formulierung genau, »aller Wahrscheinlichkeit nach hat er mit Menschenhandel zu tun.« Die gefalteten Hände zwischen die Knie geklemmt, beugte er sich vor und fuhr fort: »Aber wir haben nichts Greifbares: keine Beweise, keine glaubhaften Zeugen, niemanden, der uns konkret sagen kann, wo er das macht.« Er richtete sich auf und nahm die Hände auseinander.
»Das Geld?«, fragte Griffoni zu beider Überraschung.
»Was?«, fragte Alaimo.
»Er verkauft diese Frauen doch«, entfuhr es ihr. »Diese Mädchen. Wer sind die Käufer, und wie wird Borgato bezahlt? Wenn nicht in bar, müsste man es doch auf seinen Konten sehen?«
»Vielleicht hat er die im Ausland«, meinte Alaimo.
Sie nickte. »Gut möglich. Aber dort nützen ihm die Einkünfte nichts.« Sie dachte kurz nach. »Eigentlich ist es gar nicht so entscheidend, wohin das Geld fließt«, meinte sie schließlich und fuhr, bevor die anderen etwas sagen konnten, fort. »Zur Bank kann er es nicht bringen. Noch mehr Boote und Grundstücke kann er nicht kaufen, denn wenn er weiter mehr ausgibt, als er offiziell einnimmt, wird die Guardia di Finanza früher oder später aufmerksam und ihn genauer unter die Lupe nehmen.«
»Was macht er also damit?«, fragte Alaimo.
Griffoni hob abwehrend die Hände. »Keine Ahnung.« Dann, lächelnd: »Ich stand noch nie vor der Frage, was man mit zu viel Geld anfangen könnte, und habe noch nie darüber nachgedacht.«
»Dann sollten wir das jetzt tun«, sagte Brunetti.
»Was?«, fragte Alaimo.
»Nachdenken«, antwortete Brunetti.
»Für Witwen und Waisen gibt er es bestimmt nicht aus«, sagte Griffoni kühl.
»Er ist geschieden«, meinte Alaimo. »Und er scheint niemand Neuen zu haben.«
»Geschlecht egal?«, fragte Griffoni.
»Seltsame Frage«, meinte Brunetti.
»Sicher«, gab sie zu, »aber er macht ja auch einen recht seltsamen Eindruck.«
»Inwiefern?«, fragte Alaimo.
»Zum Beispiel ist er homophob«, sagte Griffoni, und dann zu Brunetti: »Du hast mir erzählt, was Duso gesagt hat. Dusos Freundschaft mit seinem Neffen passt ihm ganz bestimmt nicht.«
»Vielleicht sind es Drogen«, meinte Alaimo nicht sonderlich überzeugt.
Plötzlich fiel Brunetti etwas ein, das Paola ihm vor Jahrzehnten einmal vorgelesen hatte. An den Anlass erinnerte er sich nicht mehr, vermutlich hielt sie damals ein Seminar über den amerikanischen Roman. Jedenfalls las sie ihm eine Szene vor, in der ein Mann heimlich eine Frau beobachtete, die im Haus gegenüber auf dem Bett lag. Sie besaß einen geheimen Schatz, Goldmünzen, die sie über ihren nackten Leib rieseln ließ. Und er erinnerte sich an die Erregung, die in ihm aufgestiegen war, als Paola – mit ihrem goldenen Haar auf dem Sofa liegend – ihm diese Szene vorlas.
»Oder wie wäre es mit Frauen?«, fragte Alaimo, an Brunetti gewandt, als glaube er, ihre geballte Männlichkeit werde die Sache entscheiden.
»Vielleicht ist es einfach nur Geldgier«, sagte Brunetti.
»Was?«, fragte Alaimo, als widerstrebe es ihm, ein sexuelles Motiv für Borgatos Taten auszuschließen.
»Genau das. Gier. Vielleicht will er einfach nur Geld haben, mehr und immer mehr davon.« Brunetti dachte darüber nach, als habe nicht er, sondern einer der anderen das gesagt. »Manche Leute sind so. Ich selbst kenne ein paar. Es ist die Triebfeder von allem, was sie tun.«
Wie aus weiter Ferne oder über eine schlechte Verbindung fragte Griffoni gedehnt: »Ist das wirklich so wichtig, warum er es tut?« Und als niemand antwortete, setzte sie nach: »Wirklich?« Und als immer noch niemand etwas sagte: »Nein. Es spielt keine Rolle; entscheidend ist nur, dass er es tut. Uns sollte es ausschließlich darum gehen, ihn auf frischer Tat zu ertappen.«
Sie sah zwischen den beiden hin und her, wartete auf irgendeine Reaktion, und als keine kam, sagte sie in das anhaltende Schweigen hinein: »Was uns wieder zu der Schwachstelle führt.«
Irgendwie hatte Griffoni das Kommando übernommen: Die zwei Männer zogen ihre Sessel näher an den Tisch heran, und zu dritt entwickelten sie einen Plan, um Pietro Borgato zur Strecke zu bringen.