Die Dinge zogen sich hin. Lucy Watson lag immer noch im Ospedale dell’Angelo, ihr Zustand unverändert. JoJo Peterson hatte, wie der Questura per Mail mitgeteilt wurde, ihren Rückflug vorverlegt und war bereits wieder in den Vereinigten Staaten. Selbstverständlich stehe sie für weitere Auskünfte jederzeit zur Verfügung.
Gegen Marcello Vio wurde Anklage wegen Fahrerflucht erhoben, auch wenn noch längst nicht alle Fragen bezüglich des Unfalls geklärt waren. Sein Anwalt erklärte, es sei Sache der Stadt, die Sicherheit ihrer Wasserstraßen zu garantieren. Sein Klient habe bei dem Unfall einen Schock erlitten. Auch wenn er übereilt gehandelt haben mochte, so sei es sein einziger Gedanke gewesen, die Mädchen und sich selbst an einen sicheren Ort zu bringen. Die Unfallstelle habe er allein aus Sorge um ihr Wohlergehen verlassen. Selbst verletzt, habe er es dennoch auf sich genommen, die Verletzten persönlich zum Krankenhaus zu bringen, ohne lange auf das Eintreffen von Hilfe zu warten. Dass er später zu ebenjener Notaufnahme zurückgekehrt war, zu der er die Mädchen gebracht hatte, wurde als Beweis für seine Fürsorge hingestellt.
Brunetti las die Ausführungen des Anwalts und bewunderte das Geschick, mit dem sowohl die Anwesenheit Filiberto Dusos als auch die Tatsache, dass Marcello Vio die Verletzten im Zustand völliger Hilflosigkeit auf dem Steg ausgesetzt hatte, unter den Teppich gekehrt wurden. Auch unterschlug das Schriftstück, dass Vio nicht aus eigenen Stücken die Notaufnahme aufgesucht hatte, sondern von der Questura dorthin gebracht worden war.
Brunetti faszinierte, wie der Anwalt mit der Wahrheit Katz und Maus spielte – bis er auf der letzten Seite den Namen des wendigsten aller Winkeladvokaten entdeckte. Ihm entwich ein Lachen, wie wenn der ehemalige Exxon-Boss in den Vorstand des WWF berufen worden wäre.
Marcello Vio war weiß Gott in guten Händen, wenn Manlio De Persio ihn vertrat. Der Mann war mit allen Wassern gewaschen, es gab kaum einen Polizisten, dem nicht schon mal ein Fall unter den Fingern zerbröselt war, sowie De Persio den Beschuldigten verteidigt hatte; und wenn sein Mandant dennoch verurteilt wurde, verstand sich im ganzen Veneto kein Anwalt besser darauf, die Sache so lange von einem Berufungsgericht zum nächsten zu schleppen, bis die Verjährungsfristen abgelaufen waren und das Verfahren eingestellt wurde.
Seine Kollegen zollten De Persio widerwillig Respekt – eine Mischung aus Neid und Bewunderung –, aber richtig leiden konnte ihn niemand.
Einen Anwalt wie ihn hätte Marcello Vio sich niemals leisten können. Offenbar war sein Onkel bereit, jeden Preis zu zahlen, damit es nur ja nicht zu einem Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit einem seiner Boote und seiner Familie kam. Angesichts seines Geizes würde Borgato nur für einen Dritten zahlen, wenn es seinen eigenen Interessen diente. Das hieß, er bezahlte nur, wenn er damit sich selbst – und seine Boote – aus dem Radar der Behörden fernhielt.
Eine weitere, ebenso interessante Information kam von Signorina Elettra, die sich mit Pietro Borgatos Finanzen beschäftigt hatte. Der Mann besaß ein Bankschließfach bei einer kleinen Privatbank in Lugano und dort auch ein Sparkonto mit knapp dreihunderttausend Euro, in den letzten fünf Jahren nach und nach in bar eingezahlt. Ein weiteres Sparkonto hatte er in Venedig, bei der San-Salvador-Filiale von UniCredit, hier ruhten rund neuntausend Euro. Zusätzlich gab es ein Geschäftskonto für seine Transportfirma. Dieses Konto wurde offenbar hauptsächlich von seiner Sekretärin bedient, die seit Gründung der Firma für Borgato arbeitete.
Natürlich hatte Signorina Elettra sich auch diese Frau genauer angesehen: Elena Rocca, 53, wohnhaft in Sacca Fisola, verheiratet mit einem Bootsmechaniker, zwei Töchter und vier Enkelinnen. Sie und ihr Mann besaßen ein Postsparbuch, auf dem sich genau zweitausendundzwölf Euro befanden, seit Eröffnung des Kontos vor neun Jahren Monat für Monat angespart. Signorina Elettra schrieb, ihres Wissens sei dies Signora Roccas gesamtes Vermögen, abgesehen von der Wohnung, in der sie und ihr Mann seit sechsundzwanzig Jahren lebten.
Brunetti blickte von den Papieren auf und sah aus dem Fenster. Ein Bankschließfach und dreihunderttausend Euro in der Schweiz gebunkert. Ja, er mochte recht haben mit seiner Vermutung, dass Borgatos Handeln von Raffgier bestimmt war.
Er dachte an eine Geschichte, die er vor Jahren gehört hatte – zweifellos unwahr wie so viele der besten Geschichten: Da ging es um einen sagenhaften amerikanischen Millionär aus einer Epoche, in der eine Million Dollar noch ein gewaltiges Vermögen war. Dieser Mann wurde einmal gefragt, ob er wisse, was »genug« bedeute.
Nach längerem Nachdenken soll er geantwortet haben: »Natürlich weiß ich das. Es bedeutet noch ein wenig mehr.«
Da er nichts mehr zu lesen hatte, studierte Brunetti die Aussicht vor seinem Fenster. Wolken und ein kleiner Streif blauer Himmel.
Die Tage vergingen, und Brunetti machte seine Arbeit, immer gefasst auf einen Anruf von Duso. Einmal rief er Alaimo an und fragte, ob seine Leute die Gegend um Cortellazzo nach einem möglichen Landeplatz ausgekundschaftet hätten. Der Capitano antwortete, seine Leute seien dabei, sich mit dem Gelände zu beiden Seiten des Piave vertraut zu machen, und betonte, dass sie unauffällig vorgingen und keinerlei Spuren hinterließen. Im Übrigen blieb Brunetti viel Zeit, Papierkram zu erledigen.
Er las die Rapporte seiner Untergebenen, bat den einen oder anderen zu sich, ließ sich nähere Auskünfte zu Dingen geben, die sie in ihren offiziellen Berichten vielleicht nicht zu erwähnen gewagt hatten, und teilte ihnen verschiedene Aufgaben zu.
Die einzige größere Neuigkeit kam von Lucy Watsons Arzt, der Brunetti aus dem Ospedale dell’Angelo anrief und mitteilte, die junge Frau habe das Bewusstsein wiedererlangt. Brunetti hörte ihm die Freude an, mit der er erzählte, sie sei am späten Vormittag aufgewacht und habe als Erstes ihren Vater neben sich am Bett erblickt, der gerade mit seinem Handy beschäftigt war. »Was machst du hier, Daddy?«, habe sie gefragt.
Der Arzt erklärte, sie erkenne ihren Vater und könne normal sprechen, aber ihre Erinnerung reiche nur bis zum Beginn der Bootsfahrt mit den Italienern zurück, die sie an jenem Samstagabend kennengelernt hatte. Sie verstehe nicht, warum sie im Krankenhaus liege und was ihre Verletzungen und die Anwesenheit ihres Vaters zu bedeuten hätten.
Auf Brunettis Nachfrage erläuterte der Arzt, es sei möglich, aber nicht sicher, dass Lucys Erinnerung an die Ereignisse zurückkehren würde; seine Kollegen von der Neurologie seien zuversichtlich, dass sie keine dauerhaften Schäden davongetragen habe.
Brunetti fiel ein Stein vom Herzen, Hoffnung bestand also nicht nur für die junge Frau und ihren Vater, sondern auch für Vio, auf dessen Gewissen nun weniger lastete. Erleichtert widmete er sich wieder dem täglichen Einerlei und wartete auf Nachricht von Duso.
Er und Paola waren bei Freunden zum Essen, als sein telefonino klingelte. Mit einer Hast, die unhöflich erscheinen mochte, kramte Brunetti das Handy aus der Tasche, erkannte Dusos Namen auf dem Display, bat um Verzeihung und eilte aus dem Wohnzimmer.
»Sì?«, fragte er, so ruhig er nur konnte.
»Eben hat mich Marcello angerufen«, begann Duso.
Brunetti sah auf die Uhr. Kurz nach elf.
»Pietro hat angerufen, er habe Arbeit für ihn.«
»Sonst noch etwas?«
»Nein, nur das. Marcello ist schon auf dem Weg zum Bootshaus.«
Brunetti hatte mit Alaimo vorab besprochen, wie sie vorgehen würden, sowie Dusos Anruf käme. »Gehen Sie zur riva vor Ihrer calle«, sagte er. »In wenigen Minuten wird ein Boot der Capitaneria Sie dort abholen und zum Piazzale Roma bringen.« Duso brummte zustimmend. »Ziehen Sie sich warm an«, sagte Brunetti und legte auf.
Dann rief er Alaimo an. »Duso hat sich gemeldet. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll ihn abholen. Er wartet in seiner calle. Ich bin nicht zu Hause. Sie treffen mich in zehn Minuten an der Haltestelle Santo Spirito an.« Alles andere hatten sie bereits besprochen.
Als Nächstes kontaktierte er Griffoni. Während er und Alaimo das Boot nahmen, würde sie mit Duso und Nieddu fahren, die an der Aktion beteiligt war, weil es um ein internationales Verbrechen ging. Man würde Griffoni mit einem Boot abholen, das wie ein Taxi aussah, und zum Piazzale Roma bringen: Borgato sollte um diese Stunde nur ja nicht auf ein Polizeiboot aufmerksam werden. Von dort würden sie mit Duso in zwei Zivilautos und einem Lieferwagen nach Cortellazzo fahren.
Er steckte das Handy ein und ging, ein verlegenes Lächeln im Gesicht, zu den anderen zurück. So war das nun mal, die Arbeit ging vor. Reumütig den Kopf schüttelnd, sah er zu seinem Gastgeber. Donato war ein alter Freund, der ihm jedes Wort glaubte. »Tut mir leid, Donato. Die Arbeit. Man braucht mich für ein Verhör in Mestre«, erklärte er mit einer Mischung aus leichter Verärgerung und Schicksalsergebenheit.
Paola, der die Falschheit in seiner Stimme nicht entgangen war, legte ihre Serviette ab und erhob sich. Sie lief um den Tisch herum, verabschiedete sich von den anderen Gästen, küsste Donato und dessen Frau auf beide Wangen, nahm Brunettis Arm und sagte: »Ich begleite dich wenigstens noch zur Vaporetto-Haltestelle.« Ihr Lächeln war so künstlich wie seine Ausrede, tat aber bei den Leuten am Tisch dieselbe Wirkung.
Vor dem Haus zeigte Brunetti zur Anlegestelle. »Dort werde ich abgeholt.«
»Und dann nehmt ihr diese Leute fest?«
»Hoffentlich.«
Sie fröstelte in der Abendluft. »Du hast die falsche Jacke an«, sagte sie. Und mit einem Lachen: »Ich meine, sie ist zu dünn, draußen auf dem Wasser wird es kalt sein.« Sie nahm ihren langen dunkelgrünen Kaschmirschal ab und wickelte ihn ihrem Mann um den Hals.
Brunetti wollte ihn schon abnehmen und ihr zurückgeben, doch als er die Wärme an seiner Haut spürte und den Duft ihres Körpers, zog er den Schal fester und warf sich mit verwegener Geste ein Ende über die Schulter.
»Danke«, sagte er gerührt.
Sie nahm seine Hand. »Ich warte mit dir, bis sie kommen.«
Der Mond hing als sehr schmale Sichel am Himmel, doch während sie Hand in Hand zum embarcadero gingen, schauten sie beide zu ihm auf wie frisch Verliebte. Bald näherte sich von rechts Motorengeräusch. Und schon glitt ein Boot dicht an die Anlegestelle heran. Brunetti gab Paola einen Abschiedskuss und ging an Bord. Drei Uniformierte wuselten an Deck umher, ein weiterer stand am Steuer. Das Boot fuhr los, und Brunetti winkte seiner Frau mit dem Ende des Schals. Sie hob eine Hand, winkte aber nicht. Sie behielten einander im Blick, bis das Boot einen Schwenk machte und Paola außer Sicht geriet.
Brunetti begann gerade zu spüren, wie kalt es geworden war, als Alaimo aus der Kajüte heraufkam und ihm eine Tarnjacke mit Kapuze reichte, die der Commissario dankbar entgegennahm. Den Schal schlang er sich zusätzlich um den Kragen.
Das Dröhnen des Motors machte jedes Gespräch unmöglich. Brunetti war geradezu schockiert von dem Lärm, der sich so gewaltsam an der Nacht vergriff.
Alaimo kam dicht an ihn heran, bildete um Brunettis Ohr mit beiden Händen einen Trichter und schrie: »Wir haben auch Elektro.«
Wie betäubt von dem Krach, hörte Brunetti zwar, was er sagte, war sich aber nicht genau klar, was es bedeutete.
Das Boot fuhr an San Giorgio vorbei, dessen Mauern den Motorenlärm zurückwarfen. Einer der Matrosen verzog sich in die Kabine und ließ die anderen mit dem Krach allein.
Brunetti versuchte, etwas zu sagen, verstand aber sein eigenes Wort nicht. Er sah die anderen im bleichen Licht des Steuerpults, aber die Geräuschkulisse betäubte ihn.
Alaimo legte dem Bootsführer eine Hand auf die Schulter und rief ihm etwas zu. Kaum entfernte er die Hand wieder, wurde das Boot langsamer und mit einem Schlag auch deutlich leiser.
»Danke«, sagte Brunetti und tätschelte erleichtert Alaimos Jackenarm. Tagsüber hatte es geregnet, die Feuchtigkeit hing noch in der Abendluft.
Alaimo nickte. »Auf See ist es immer ein paar Grad kälter, nachher auf offenem Wasser wird es noch schlimmer.« Er sah nach links, wo die Giardini vorüberglitten. »Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass es jederzeit losgehen kann?«
»Doch, aber wir waren bei Freunden eingeladen, und ich hatte keine zweite Jacke dabei.«
Alaimo zuckte die Schultern. »Die Dinge passieren immer im ungünstigsten Moment.«
Brunetti fragte: »Was haben Sie vorhin von Elektro gesagt?«
Alaimo antwortete lächelnd: »Der Antrieb kann auf Elektromotor umgeschaltet werden.«
»So ist es viel angenehmer«, sagte Brunetti. Tatsächlich war jetzt nur noch ein tiefes Brummen zu hören, doch immerhin so kraftvoll, wie Brunetti es noch auf keinem Boot dieser Größe je vernommen hatte.
»Das ist immer noch der normale Motor«, erklärte Alaimo. »Nachher schalten wir auf Batteriebetrieb um.«
»Und dann?«
»Läuft der Motor vollkommen geräuschlos. Man hört nichts mehr. Sie würden das Boot nicht einmal bemerken, wenn es direkt an Ihnen vorbeifährt.«
»Kaum zu glauben«, sagte Brunetti.
»Bei Autos geht es doch auch«, sagte Alaimo und fügte lächelnd hinzu: »Dies ist ein Prototyp: stärker als die üblichen Motoren.«
»Und wie funktioniert das?«, fragte Brunetti.
»Da unten«, sagte Alaimo und zeigte Richtung Kabine, »und vorn im Bug sind Batterien.«
Brunetti spähte an dem Bootsführer vorbei und sah Teakholztafeln, die sich augenscheinlich öffnen ließen. Was sollte er jetzt fragen? Nach der Anzahl der Batterien, nach ihrer Größe, nach ihrer Leistung? Wie wenig er von alldem wusste! Schließlich meinte er: »Wie schnell kann es fahren?«
Alaimo wandte sich an den Bootsführer. »Was würdest du sagen, Crema?«
Weiter nach vorn blickend, antwortete der junge Mann: »Ich habe schon mal fünfundfünfzig Knoten geschafft, Capitano.«
»Und wenn ich nicht dabei wäre und ein Freund dir diese Frage stellen würde – was würdest du antworten?«
Der junge Matrose senkte grinsend den Kopf, sah wieder nach vorn und sagte: »Nun, Signore, wenn Sie wirklich nicht dabei wären, würde ich sagen: sechzig – aber wirklich nur, wenn ich allein auf dem Boot wäre.«
Jetzt musste auch Alaimo grinsen. »Das ist schneller als Borgatos Boote«, sagte er.
»Kann er auch auf Elektroantrieb umschalten?«
»Aber sicher. Zwei seiner Boote haben das, aber er hat nicht so viele Batterien an Bord.« Bevor Brunetti nachfragen konnte, erklärte Alaimo: »Vergessen Sie nicht, er braucht Platz für seine Ladung.«
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Brunetti.
Alaimo wandte sich ab und schien plötzlich großes Interesse an der Anzeige auf dem Steuerpult zu haben. Ah, dachte Brunetti, typischer Fall von Quellenschutz. Er kam dem entgegen und fragte: »Wie lange noch?«
»Was meinst du, Crema?«, fragte der Capitano.
Der Bootsführer beugte sich über einen Bildschirm mit einem hellen Kreis, um dessen Mittelpunkt sich ein Lichtbalken drehte. Brunetti fühlte sich an U-Boot-Filme erinnert, auch hier blinkte jedes Mal an derselben Stelle ein Pünktchen auf, wenn der Lichtbalken darüberglitt. »Das ist er«, sagte der Bootsführer und zeigte darauf. »Anderthalb Stunden, Signore. Es sei denn, er gibt richtig Gas: Dann könnte er es in gut einer Stunde schaffen.« Alaimo dankte ihm, zog fröstelnd die Schultern hoch und sagte: »Gehen wir in die Kabine. Wir haben noch Zeit.«
In der Kabine war es deutlich weniger kühl als oben an Deck. Zwei Matrosen hatten sich nach hinten verzogen und waren von der Wärme in ihren Ecken eingeschlafen. Der dritte, der sich schon länger dort aufhielt, trug immer noch seine Ohrstöpsel und nickte nur kurz, als Alaimo und Brunetti eintraten, dann vertiefte er sich sofort wieder in sein iPhone.
Die beiden Männer nahmen einander gegenüber auf den Polsterbänken Platz und besprachen sich, weit vorgebeugt beim Geräusch des Motors, das hier unten etwas lauter war. Alaimo erklärte, von den vielen Schiffen, die in der Adria Richtung Norden fuhren, seien nur zwei am Abend langsamer geworden und lägen jetzt vierzig Kilometer nordöstlich von Venedig vor Anker. Bei rechtzeitiger Abfahrt könnten sie am späten Vormittag Triest erreichen und Ladung löschen und neue aufnehmen. Das eine sei ein Öltanker unter britischer Flagge, das andere ein Frachtschiff unter maltesischer Flagge.
»Wenn Vio seinem Freund erzählt hat, er fährt heute Nacht raus, kann er nur zu einem dieser beiden wollen«, sagte Alaimo.
»Und was machen wir?«, fragte Brunetti.
»Wir haben die Verbindung zu dem Sender an Vios Handgelenk fest auf dem Schirm und können weit im Hintergrund bleiben, bis sie die Fracht von dem großen Schiff geholt haben. Sollten wir von dessen Radar erfasst werden, wird man uns für Fischer halten: Drei Fischerboote sind uns bereits begegnet.«
»Das habe ich gar nicht mitbekommen«, meinte Brunetti verblüfft.
»Weil Ihnen die Erfahrung fehlt«, bemerkte Alaimo trocken. Brunetti nahm das hin und fragte: »Was machen wir, wenn er sich dem Schiff nähert?«
»Wir bleiben, wo wir sind, und verhalten uns wie Fischer: eine Zeitlang an Ort und Stelle bleiben, dann ein Stück weiterfahren.«
Es klopfte an die Kabinentür. Alaimo bedeutete Brunetti zu warten und stieg an Deck. Nach einer Weile wollte Brunetti ihm nach, machte aber kehrt und setzte sich wieder. Als er zum zweiten Mal aufstand, blickte der Matrose von seinem Handy auf, schüttelte den Kopf und winkte ihn auf seinen Platz zurück. Brunetti gehorchte.
Zehn Minuten vergingen, und noch einmal zehn, dann erstarb das Motorengeräusch. In der Stille hörte Brunetti jemanden die Treppe hinunterkommen und stand auf. Alaimo kam herein. »Es ist das Schiff unter maltesischer Flagge«, sagte er. »Borgatos Boot ist dort vor einer Viertelstunde längsseits gegangen, jetzt fährt es nach Westen Richtung Küste.« Er nahm sein Handy und tippte eine ziemlich lange Nachricht ein.
Als er fertig war, erklärte er: »Ich habe das Team nach Cortellazzo entsandt. Das ist die günstigste Stelle, Fracht abzuladen.« Brunetti entging nicht, dass er es vermied, die Fracht beim Namen zu nennen.
»Sind Sie sicher?«, fragte er.
Alaimo lachte.
»Was ist daran so komisch?«, fragte Brunetti.
»Und ob«, sagte Alaimo grinsend. »Voriges Wochenende habe ich mit einem Kollegen, unseren Söhnen und vier ihrer Freunde, alle in Pfadfinderuniform, einen Ausflug zur Piave-Mündung gemacht. Wir sind ein Stück weit den Fluss hinaufgefahren, haben an verschiedenen Stellen angehalten und den Jungen die Gezeiten und die Unterschiede zwischen Salzwasser- und Süßwasserfischen erklärt.«
Alaimo bemerkte Brunettis skeptischen Blick und erklärte: »Wie sonst hätte ich mir die möglichen Landeplätze ansehen können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen?« Er zuckte verlegen lächelnd die Schultern. »Nur für den Fall, dass Borgato dort Freunde hat, die ihm erzählen könnten, jemand habe an diesem Flussabschnitt herumgeschnüffelt.«
»Und wie war’s?«
»Kalt. Aber die Kinder fanden es toll und liegen mir seither ständig in den Ohren, wann wir das noch einmal machen.«
»Kinder«, sagte Brunetti mit jener Mischung aus Tadel und Bewunderung, die Eltern manchmal an den Tag legen.
Alaimos Handy vibrierte. Er las die Nachricht, blickte auf und sagte: »Die Mannschaft ist eingetroffen. Sie verstecken die Autos und den Lieferwagen und machen sich dann auf den Weg zu der Stelle, wo die vermutlich an Land gehen werden.«
»Laufen sie nicht Gefahr …«, setzte Brunetti an.
»… jemand zu begegnen?«, brachte Alaimo die Frage für ihn zu Ende.
»Ja.«
»Genau deswegen lassen sie die Fahrzeuge stehen. Und gehen dann zu Fuß Richtung Mündung.«
Erst da fiel Brunetti ein, danach zu fragen: »Wer genau sind Ihre Leute?«
»Ein Spezialkommando der Marine. Die haben die Stelle ebenfalls ausgekundschaftet und sind bestens ausgebildet für hochriskante nächtliche Einsätze.«
Brunetti ließ sich diese Bemerkung durch den Kopf gehen. Wie bedrohlich das aus dem Mund eines Mannes klang, der aus Erfahrung sprach. »Riskant für wen?«, fragte er.
Alaimo legte sich seine Worte genau zurecht, doch sie verhießen dennoch Unheil: »Für alle Beteiligten.«