Wieder allein, lehnte Brunetti sich in den gepolsterten Sitz zurück und schlang die Jacke um sich, ließ aber den Reißverschluss noch offen. Das Vibrieren des Motors und das sanfte Schaukeln des Boots, beides hatte etwas Tröstliches. Seine Gedanken kehrten zu dem abrupt beendeten Dinner zurück und zu der Frau, die er an der Anlegestelle hatte stehenlassen. Er hatte für diesen Abend nicht mit dem Anruf gerechnet, aber dennoch nur zwei Glas Wein getrunken und den Grappa zum Nachtisch abgelehnt. Jetzt wünschte er, er hätte wenigstens einen Kaffee genommen, oder auch zwei, bevor er an Bord dieses Boots gegangen war und nun keinen anderen Trost hatte als das Schaukeln und …
»Guido, Guido«, hörte er eine Stimme rufen und war sofort hellwach. Erst da vermisste er seine Pistole. Die lag wohlverwahrt in der Metallbox zu Hause im Kleiderschrank; der Schlüssel dazu war alles, was er auf sich trug. Er sah nach rechts hinüber. Die zwei Matrosen schliefen immer noch, der dritte war weiterhin mit seinem Handy beschäftigt.
In der Tür stand Alaimo. »Jetzt besteht kein Zweifel mehr: Sie fahren nach Cortellazzo.«
»Wie weit sind wir von ihnen entfernt?«, fragte Brunetti.
»Ungefähr zwei Kilometer«, erklärte Alaimo ruhig.
Brunetti konnte ihn mühelos hören. Das Motorengeräusch war verstummt, wenn das Boot auch weiter voranzugleiten schien. Die plötzliche Stille machte ihn nervös. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Wir fahren jetzt mit dem Elektromotor«, antwortete Alaimo.
»Oddio, was für ein Unterschied.«
»Borgato ist einen Kilometer vor der Mündung.«
»Folgen wir ihm?«
»Wenn mein Team grünes Licht gibt.« Alaimo wedelte mit seinem Handy. »Sie haben sich gemeldet. Sie haben zwei leere Lieferwagen entdeckt, geparkt in der Nähe des Zufahrtswegs. Und vor sich können sie Stimmen hören.«
»Wie stark ist Ihr Team?«
»Vier Mann, dazu Claudia und Capitano Nieddu.«
Sogleich in Sorge um die Frauen, fragte Brunetti: »Und diese Marineleute sind wirklich gut?«
»Und ob die gut sind«, sagte Alaimo und verschwand wieder nach oben.
Brunetti rieb sich das Gesicht, fuhr sich durch die Haare, stand auf und ging nach oben. Kalter Wind schlug ihm entgegen und trieb ihm Tränen in die Augen. Er trat an den Bootsrand und spähte über die Schulter: Es war stockfinster, nur einige winzige Lichtpunkte schimmerten in unbestimmter Ferne. Im gedämpften Leuchten des Steuerpults waren gerade noch die Umrisse der zwei Männer davor zu erkennen, Alaimo und der Bootsführer.
Brunetti stellte sich hinter sie. Auf dem Bildschirm vor den beiden Männern waren die konzentrischen Kreise zu sehen. Der Lichtbalken drehte sich vom bitteren Nord zum trüben West und ließ bei jeder Umdrehung an immer derselben Stelle ein Pünktchen aufleuchten.
Alaimo zeigte auf den hellen Punkt. »Das ist Borgatos Boot«, flüsterte er.
Ebenso leise fragte er den Bootsführer: »Was meinst du, Crema?«
»Ich würde sagen, in zehn Minuten erreicht er die Mündung, Signore, dann sind es noch einmal ungefähr zehn zum Landeplatz.«
Alaimo nickte, tippte eine Nachricht in sein Handy und behielt das Display im Auge, bis die Antwort kam. Die meldete sich mit einem kaum vernehmbaren Vibrieren, und dass Brunetti es hören konnte, machte ihm die Stille auf dem Boot erst recht bewusst. Alaimo stellte sein Handy auf lautlos. »Tun Sie das auch«, sagte er zu Brunetti, als sei der einer seiner Leute. Brunetti gehorchte.
»Du auch, Crema.«
»Schon geschehen, Signore«, raunte der Bootsführer.
»Wir wollen uns schließlich nicht von eintreffenden Nachrichten verraten lassen«, sagte Alaimo. Er steckte das Handy ein und fragte den Bootsführer: »Denkst du, du kannst ihnen folgen?«
»Ja, wenn sie an der Stelle abladen, die Sie mir auf der Karte gezeigt haben, Signore. Wenn er weiter flussaufwärts fährt, muss einer von uns sich in den Bug legen und mit einem Ruder die Wassertiefe messen.«
Das kam in irgendeinem Film vor, dachte Brunetti, behielt es aber für sich. Er rückte zur Seite, spähte über den Bug nach vorn und malte sich aus, dort zu liegen, eine Hand an die Reling geklammert, mit einem Ruder in der anderen die Wassertiefe prüfend, wie er es als Junge draußen in der laguna getan hatte.
Der Matrose, der mit seinem iPhone gespielt hatte, kam die Kabinentreppe herauf und stellte sich zu ihnen. »Sind wir gleich da, Signore?«, fragte er Alaimo leise.
»Ja.«
Der junge Mann nickte, sah nach dem Steuerpult und drehte sich um. »Ich wecke die anderen.«
»Gut. Sag ihnen, wir nähern uns dem Landeplatz.«
»Ich schalte jetzt auf Nachtsicht, Signore«, sagte der Bootsführer und legte einen Schalter um. Brunetti blickte auf, aber da war nur noch Dunkelheit.
Alaimo tätschelte seinen Arm und wies auf einen Bildschirm links neben dem Radar. Der zeigte die nahe Küste, jedoch nur in verschieden stark leuchtendem Grün auf schwarzem Hintergrund. Brunetti erkannte Bäume zu beiden Seiten, sogar dünne Ranken, die daran hingen. In der Mitte eine dunkle Spur, die in noch tiefere Dunkelheit führte.
»Ist das der Fluss?«, fragte Brunetti.
»Ja«, flüsterte Alaimo.
»Soll ich ihnen folgen, Signore?«, fragte der Bootsführer.
»Warte«, antwortete Alaimo. Das Boot hielt an. Er tippte eine Nachricht in sein Handy und schickte sie ab. Keine Minute später kam die Antwort.
»Die Leute sind am Fluss entlang postiert. Borgatos Boot legt gleich an.«
Der Bootsführer trat ungeduldig von einem Bein aufs andere.
»Los geht’s, Crema«, sagte Alaimo, und sogleich setzte sich das Boot wieder in Bewegung.
Von pechschwarzer Nacht umgeben, konzentrierte Brunetti sich auf den Bildschirm, voller Bewunderung, wie akkurat ihr Boot sich in der Flussmitte hielt. Das Wasser war glatt wie ein Spiegel. Jede Welle, die das andere Boot hinterlassen haben mochte, hatte sich schon wieder gelegt.
Alaimo verschickte die nächste Nachricht auf seinem Handy und flüsterte dann Brunetti zu: »Meine Leute sind zwischen den Bäumen hinter der Mole. Drei Männer sind auf dem Steg.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu. »Zwei mit Gewehren.«
Brunetti nickte. Das Boot glitt geräuschlos wie eine Schlange durch das schwarze Wasser.
Wieder blickte Alaimo auf sein Handy, dann hielt er es Brunetti hin, und der las: »Wo seid ihr?«
Der Capitano nahm das Handy zurück und antwortete. Dann flüsterte er Crema zu: »Mach jetzt Tempo, wenn’s geht. Ich möchte sie stellen, solange sie vor Anker liegen.«
Brunetti spürte, wie das Boot beschleunigte, vernahm aber weiterhin keinen Laut. Da nach vorn nichts zu sehen war, starrte er auf den grünen Bildschirm. Er hatte jedes Gefühl für Entfernungen verloren. Diese grünen Gebilde vor ihnen, wie weit waren sie davon weg? Die unsichtbaren Ufer, wie nah waren sie? Und wie hoch waren in diesem Tidefluss die Böschungen, wie leicht kämen sie aus dem Wasser, falls sie das Boot schwimmend verlassen mussten?
Ganz allmählich begann er, die Geräusche der Natur zu hören: Es knisterte in den Bäumen, Vögel gaben Laut, andere Tiere raschelten am Boden. Wie geheimnisvoll und beängstigend die Natur sein kann, so uninteressiert an dem, was wir tun und was wir sind.
Er und Alaimo hörten die Stimme im selben Augenblick: männlich, wütend, gebieterisch. »Nein, da drüben.« Dann ein »Pst«, noch einmal, dann Stille. Von wo kam das? Auf dem Bildschirm war nichts zu sehen.
Und dann doch. Erst hielt Brunetti sie für Gespenster, so bleich, so ätherisch erschienen die Gestalten. Einige Figuren waren in eine Art Trauergewänder gehüllt, die bis zum Boden reichten; andere hatten Arme und Beine; sie alle ächzten und stöhnten leise, machten unheimliche Geräusche. Alaimo packte den Bootsführer an der Schulter. Sogleich wurde das Boot langsamer und hielt lautlos an.
Plötzlich ein dumpfes Platschen und wildes Hin und Her, etwas Sperriges war ins Wasser gefallen. Die Männerstimme zischte: »Cazzo.«
Eine andere Stimme sagte: »Hol sie raus, verdammt. Wir müssen sie lebendig abliefern.« Dort, wo der Steg sein musste, tat sich etwas, man hörte ein Plumpsen und gedämpftes Rufen. Zwei grüne Schemen lagen auf dem Steg und griffen nach unten. Langsam zogen sie ein um sich schlagendes Wesen mit zwei Köpfen hoch und ließen es achtlos fallen. Das Geschrei hörte auf.
Alaimo nahm das Megaphon aus der Halterung neben dem Steuerrad und schaltete es ein. Er tippte dem Bootsführer auf die Schulter, und sofort tauchten drei Suchscheinwerfer am Bug die Szene in grelles Licht: den Steg und die Leute darauf, das am Steg vertäute Boot und das Ufer dahinter. Und in dem Licht erstarrte alles: die zwei Männer mit Gewehren, der dritte neben etwas kniend, das wie ein Kleiderhaufen aussah, und ein dichtgedrängter Kreis Frauen, die schweigend dastanden, wie gelähmt.
»Runter mit den Waffen«, dröhnte Alaimos Stimme. Die zwei Männer dachten offenbar gar nicht daran; einer richtete sein Gewehr auf die blendenden Scheinwerfer.
Aus den Bäumen hinter dem Steg bellte eine Männerstimme: »Runter mit den Waffen, hat er gesagt!« Der zweite, der sich nicht bewegt hatte, bückte sich langsam und legte sein Gewehr vor sich auf den Boden. »Jetzt schieb es mit den Füßen weg«, befahl die Stimme. Der Mann gehorchte. »Arme über den Kopf«, und auch das befolgte der Mann.
»Ich warte«, sagte die Stimme, und der erste warf sein Gewehr hin, als habe er es plötzlich satt, es zu halten. »Arme hoch«, schrie die Stimme, und die Arme gingen hoch.
Alaimo rief auf Englisch: »Does one of you ladies speak English?« Als habe seine Stimme sie aus einem Bann befreit, begannen die Frauen, untereinander zu reden, und fielen sich in die Arme. Einige schluchzten laut auf. Schließlich sagte eine Frauenstimme: »Ja, ich. Sir.«
Alaimo sprach langsam. »Sagen Sie Ihren Freundinnen, sie sollen sich von diesen Männern entfernen und ans Ufer gehen.« Dieselbe Frauenstimme sagte etwas in einer anderen Sprache, worauf eine Frau in einem langen geblümten Rock mit der an ihr Handgelenk geketteten Leidensgenossin losging, noch eine andere am Arm packte und sie den Steg hinunter ins Gelobte Land am Ende des Stegs führte.
Die anderen drängten unbeholfen nach – nur fort von diesen Männern.
Alaimo sprach mit normaler Stimme in das Megaphon: »Gut so, gehen Sie weiter bis zum Waldrand. Dort warten Leute, die Ihnen helfen werden.«
Jetzt kam Nieddu, begleitet von Griffoni, hinter den Bäumen hervor und winkte den Frauen. Laut schluchzend und offensichtlich noch zu schockiert, um schnell zu reagieren, setzte sich das Trüppchen zögernd in Richtung der beiden Frauen in Bewegung: Garanten ihrer Sicherheit, insbesondere Nieddu in Uniform, die mit ihrer Dienstwaffe die beiden Männer auf dem Steg in Schach hielt.
Drei bewaffnete Soldaten in Tarnkleidung tauchten zwischen den Bäumen auf. Ein vierter, unbewaffnet, trat hinter die beiden mit erhobenen Armen dastehenden Schlepper, legte ihnen Handschellen an, kassierte ihre Gewehre und führte sie ab.
Blieb noch das Boot. Fachmännisch vertäut, schaukelte es friedlich auf dem Wasser. Es glich einer riesigen Toblerone. Brunetti betrachtete die flach gegeneinander aufgestellten und fest verschraubten Kupferplatten. Wie von Alaimo beschrieben, würden Radarwellen davon nach oben abgelenkt, und das Boot blieb unsichtbar. Auch etwaige Passagiere waren nicht zu sehen.
Alaimo rief: »Noch jemand auf dem Boot? Alle rauskommen, Hände über dem Kopf. Es ist vorbei.«
Nichts. Zeit verging. »Ihr auf dem Boot. Ergebt euch, Hände über dem Kopf. Es ist vorbei.«
Alaimo wartete, dann nahm er zum dritten Mal das Megaphon. Offenbar besaß er die Geduld, seine Aufforderung so oft zu wiederholen, bis die Männer auf dem Boot genug hatten und mit erhobenen Händen herauskamen. Doch bevor Alaimo zum dritten Versuch ansetzte, drangen Schreie zu ihnen herüber.
Zwei laute Männerstimmen, dann Rumpeln und Krachen. Plötzlich knallte etwas gegen eine der Kupferplatten; sie brach oben los und klappte ins Wasser.
Alaimo und Brunetti eilten auf den Steg. Beim Anblick des goldenen Boots musste Brunetti plötzlich an jene Boote denken, die die alten Ägypter an die Wände ihrer Grabkammern gemalt hatten. Wieder schrie jemand, dann erschien Marcello Vio in dem offenen Spalt in der Metallverkleidung. Er war schon mit einem Bein auf dem Steg in Sicherheit, da ertönte hinter ihm wütendes Gebrüll, und eine Hand krallte sich in seine Schulter. Vio befreite sich mit aller Kraft und stieß sie weg. Aus dem Boot drang lautes Krachen; Vio wollte sich umdrehen, schrie jedoch vor Schmerz auf, sank auf die Knie und umklammerte seinen Brustkorb mit den gebrochenen Rippen.
Von irgendwo, von nirgendwo, schoss eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor und sprang auf den Steg. Duso. Den hatte Brunetti fast vergessen. Er machte den Soldaten ein Zeichen und rief: »Lassen Sie ihn. Er gehört zu uns.«
Duso warf sich neben Marcello auf die Knie. Er nahm ihn behutsam in den Arm und sagte: »Komm, Marcello. Du kannst hier nicht bleiben.«
Alle starrten die beiden jungen Männer an, die da miteinander knieten. »Berto«, sagte Vio. »Berto, du hier?« Er hob lächelnd eine Hand und berührte Dusos Gesicht.
Niemand konnte von dieser rührenden Szene den Blick abwenden. Außer Griffoni, die sich kaum merklich dem Steg genähert hatte, als sei sie unsichtbar – die Augen nicht auf die Männer gerichtet, sondern auf das Boot.
Und sie sah denn auch als Erste Pietro Borgato in der Lücke zwischen den Kupferplatten auftauchen, mit einem Bootshaken in der Hand. »Passt auf!«, schrie sie, und die beiden jungen Männer drehten sich nach ihr um.
In diesem Moment sprang Borgato vom Boot auf den Steg und stürzte sich auf seinen Neffen. »Borgato«, schrie Brunetti, um ihn aufzuhalten, und rannte los.
Doch bevor Brunetti ihn erreichte, war Borgato schon bei den beiden Knieenden. Er hob drohend den Bootshaken und stieß seinen Neffen mit einem Fußtritt beiseite. Dann baute er sich breitbeinig vor Duso auf und holte zum Schlag aus. »Du willst meinen Neffen ficken?«, schrie er den erstarrten Duso an. »Jetzt besorg ich es dir!« Man hörte Duso aufschreien, doch Borgato war nicht mehr zu halten, bis die gebogene Spitze Dusos Brust durchbohrt hatte.
Zu spät erst war Brunetti zur Stelle. Borgato, der die Stange wieder freibekommen hatte, fuhr herum und schlug nun nach Brunetti, doch dieser konnte, anders als Duso, dem Hieb ausweichen. Borgato holte abermals aus, diesmal aber verfing sich der Haken in Brunettis Kaschmirschal.
Borgato ließ die Stange fallen und starrte Brunetti rasend vor Wut an.
»Betrüger, Betrüger!«, brüllte er und ging auf Brunetti los. Der aber machte wie ein Stierkämpfer einen Schritt zur Seite, und Borgato prallte gegen das Holzgeländer des Stegs. Brunetti stürzte sich auf ihn und meinte, Wahnsinn in seinen Augen flackern zu sehen. Borgato riss seine Faust hoch, um auf Brunetti einzudreschen.
Da aber hatte Brunetti den zum Schlag erhobenen Arm schon an Handgelenk und Ellbogen gepackt und hieb ihn voller Wucht auf das Geländer. Er hörte den Knochen brechen, spürte das Knacken unter seinen Händen. Er taumelte einen Schritt zurück und stieß mit einem der Soldaten zusammen.
»Jetzt übernehmen wir, Signore«, sagte der Soldat, und Brunetti ließ den Ort des Geschehens hinter sich, aber nicht das, was er soeben getan hatte.