Als sie aus der Questura ins Freie traten, war jede Spur von Wärme aus der Luft gewichen. Grif‌foni ging als gebürtige Neapolitanerin niemals ohne wenigstens eine zusätzliche Kleidungsschicht aus dem Haus. Heute trug sie eine karamellfarbene Wildlederjacke über dem Arm, die in Brunettis Augen weitaus attraktiver aussah als das Sandwich, das er tags zuvor gegessen hatte.

»Hast du die in Neapel gekauft?«, fragte er, während sie in die Jacke schlüpf‌te und den Reißverschluss zur Hälfte schloss.

»Ja.«

»Sieht gut aus. Leider passt sie mir nicht, sonst würde ich dich niederschlagen und sie selbst anziehen«, scherzte Brunetti.

»Zu viel Zeit mit Kriminellen verbracht, würde ich meinen«, gab sie zurück. »Mein Onkel hat einen Laden.«

Brunetti warf den Kopf zurück und lachte schallend.

Unsicher, ob sie gekränkt sein sollte oder nicht, fragte Grif‌foni: »Was ist?«

»Ein Freund von mir – vielleicht sogar mein bester – ist Neapolitaner, und der hat, sowie mir irgendetwas gefällt, immer einen Onkel, eine Tante oder einen Cousin, der es mir zufällig beschaffen kann. Zu einem sehr guten Preis.«

»Sachen, die vom Lieferwagen gefallen sind?«, fragte Grif‌foni.

Wieder prustete Brunetti. Als er sich gefangen hatte,

»Und ihr habt sie behalten? Ich meine, dein Sohn hat sie behalten?«

»Selbstverständlich«, sagte Brunetti. »Wenn ich sie zurückgeschickt hätte, wäre Giulio für den Rest des Jahres beleidigt gewesen.«

Sie gingen in einträchtigem Schweigen weiter. Schließlich meinte Grif‌foni: »Na ja, er ist Neapolitaner.«

»Und?«

»Wie sonst sollte er auf eine solche Kränkung reagieren?«

Brunetti blieb stehen und sah sie an. »Kennst du ihn etwa?«

»Wen?«

»Giulio. Giulio D’Alessio. Meinen Freund.«

Grif‌foni fragte zögernd: »Heißt sein Vater Filippo?«

Brunetti starrte sie entgeistert an. »Ja«, sagte er.

»Mein Vater kennt ihn. Den Vater, meine ich.«

Brunetti hielt sich beide Ohren zu und drehte sich auf der Stelle. »Mein Gott«, stöhnte er. »Eine Verschwörung. Ich bin von ihnen umzingelt.«

»Von Neapolitanern?«, fragte sie und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

Grif‌foni schob ihn sanft von sich weg. »Was bist du für ein Kindskopf, Guido.« Genau dasselbe sagte auch Paola immer, wenn seine Phantasie über die Stränge schlug, doch das sagte er Grif‌foni wohlweislich nicht, sondern wurde wieder ernst: »Erzähl mir, was du sonst noch erfahren hast.«

Sie zog einen dunkelbraunen Seidenschal aus ihrer Handtasche und schlang ihn sich um den Hals. »Ich kann nicht begreifen, wie du dieses Wetter aushältst«, meinte sie, als habe Brunetti die Kälte bestellt. Und als erinnere sie das an etwas: »Die zwei wurden am Samstagabend auf dem Campo Santa Margherita gesehen. Die Zeugin, ein junges Mädchen, erinnert sich, weil eine der beiden sich Lucy nannte und dieser Name in einem Lieblingssong ihrer Mutter vorkommt.«

»Ist das alles?«, fragte Brunetti. Andere mussten sie doch auch gesehen haben. Irgendwer – im Hotel, im B&B oder Freunde, bei denen sie wohnten – musste doch bemerkt haben, dass sie verschwunden waren oder jedenfalls nicht in ihren Betten geschlafen hatten.

»Die Zeugin sagt, die beiden hätten sich mit zwei Männern unterhalten, dann habe sie aber Freunde getroffen und das nicht weiter mitverfolgt. Die Amerikanerinnen seien ihr erst heute früh wieder eingefallen, als sie den Namen Lucy im Gazzettino sah.« Die Schlagzeile hatte Brunetti auch gesehen: »Lucy und JoJo. Wer sind sie?«

Brunetti wollte gerade fragen, ob Grif‌foni Neuigkeiten über die andere junge Frau im Krankenhaus in Mestre habe,

Die Seitenwand der Basilica erschien zu ihrer Rechten, und schon standen sie auf dem Campo. Vor ihnen ragte das Ospedale auf, und während sie quer über den Platz zu dessen Eingang gingen, rückte auch die Fassade von SS Giovanni e Paolo näher. Grif‌foni verlangsamte ihre Schritte und sah von einem Gebäude zum anderen, als sollte sie einem davon einen Preis verleihen und könnte sich nicht entscheiden. Für gewöhnlich war diese Basilica – in ihrer unvergleichlichen Majestät – Brunettis Lieblingskirche in der Stadt; manchmal aber auch, er wusste selbst nicht, warum, San Nicolò dei Mendicoli, und früher, als er ein Mädchen gekannt hatte, das dort in der Nähe wohnte, Santa Maria dei Miracoli, bis er des Mädchens und damit auch der Kirche überdrüssig geworden war.

Er bot Grif‌foni gar nicht erst an, sie zur Befragung der Frau zu begleiten. Schließlich waren es Männer gewesen, die sie in diesem Zustand vor dem Krankenhaus abgeladen hatten. Er wünschte Grif‌foni viel Glück, verabschiedete sich und ging nach Hause.

 

Dort war noch niemand, also machte Brunetti sich einen Teller Oliven zurecht, schenkte sich ein Glas gekühlten Falanghina ein, trug beides ins Wohnzimmer, setzte sich und trank erst einmal einen Schluck.

Vergrößerte Fotos der zwei Männer aus dem Krankenhausvideo waren nicht nur an alle Polizeibeamten in Venedig, sondern auch an die Guardia Costiera, die Carabinieri und die Guardia di Finanza geschickt worden. Brunetti

Von dem Boot, mit dem die beiden angeliefert worden waren, war nichts zu erkennen, schließlich war die Überwachungskamera für die großen Sanitätsboote gedacht. Man hatte einzig die zwei Männer hastig ihre Last abladen und ebenso schnell wieder verschwinden sehen.

Brunetti nippte an dem Wein, aß ein paar Oliven und legte die Kerne auf den Tellerrand. Er lehnte sich zurück, trank noch einen kleinen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch. Nachdenklich klopf‌te er die Daumen aneinander, was ihn an die Fingerspiele erinnerte, die er und sein Bruder als Kinder gespielt hatten. Bei einem davon formte man die Hände zu einer Kirche, deren Tor sich öffnen ließ: Das konnte er noch. Bei einem anderen musste man die Hände irgendwie so zusammenfügen, dass man so tun konnte, als ob das erste Glied des Daumens abgetrennt sei. Als seine Kinder klein waren, hatte er sie damit immer wieder begeistert, aber jetzt wollte ihm das kleine Kunststück einfach nicht mehr gelingen. Er verschränkte die Hände wieder und hielt sie still.

Campo Santa Margherita. Samstagabend. Solange es nicht regnete, kamen dort an Sommerabenden regelmäßig Hunderte von Schülern und Studenten zusammen. Schwatzen, trinken, von einer Gruppe zur anderen gehen, Freunde treffen oder neue Freundschaften schließen. In seiner Jugend war es nicht anders gewesen. Nur ohne Drogen und mit weniger Alkohol.

Die zwei jungen Frauen hatten laut der Zeugin mit zwei Männern gesprochen, und ein paar Stunden später wurden

»Was stimmt hier nicht?«, murmelte Brunetti. Er dachte an ein Buch, das Paola ihm jahrelang ans Herz gelegt hatte: Drei Männer in einem Boot. Er hatte es schließlich gelesen, es aber ganz und gar nicht gemocht. Jetzt ging es um lediglich zwei Männer in einem Boot, aber wer waren sie, und überhaupt, was hatten sie um drei Uhr morgens in einem Boot zu suchen? Und woher wussten sie, wo sie die zwei Frauen hinbringen, abladen oder loswerden konnten, je nachdem, wie ihr Verhalten zu interpretieren war? Wenn das Boot ihnen gehörte, waren sie mit der laguna vertraut, mussten aber nicht unbedingt Venezianer sein. Andererseits dürf‌ten nur Venezianer die Anlegestelle des Ospedale kennen. Wenn sie die Mädchen auf dem Campo Santa Margherita kennengelernt hatten, waren es womöglich Studenten. Wenn es ihnen gelungen war, mit den Mädchen ins Gespräch zu kommen, mussten sie ein wenig Englisch gekonnt haben, was darauf schließen ließ, aber noch nicht bestätigte, dass es sich in der Tat um Studenten handelte.

Er rief sich ins Gedächtnis, wie die Männer die zwei bewusstlosen Amerikanerinnen auf dem Steg abgelegt hatten: Einer stieg vorsichtig die Leiter hoch, vertäute das Boot und sah dann dabei zu, wie der andere sie nacheinander aus dem Boot hob und auf die Planken legte. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ins Boot zurückzuklettern und dem anderen zu helfen? Und worum war es in dem kurzen Wortwechsel gegangen? Was passte hier nicht ins Bild?

»Bist du noch im Ospedale?«

»Sì.«

»Bei der Amerikanerin?«

»

»Kann sie sich an irgendwas erinnern?«

»Warte mal kurz«, meinte Grif‌foni, und er glaubte, einen Stuhl scharren zu hören. Sie hielt die Sprechmuschel zu und sagte etwas. Dann hörte er Schritte in einer längeren Pause. »Sie waren auf einem Campo mit vielen Studenten«, meldete Grif‌foni sich zurück. »Von der Zeugin wissen wir, es war der Campo Santa Margherita. Dort haben sie zwei Jungen getroffen, die sie zu einer Rundfahrt eingeladen haben.«

»Rundfahrt?«

»Die beiden hatten ein Boot, und sie sagt, die Männer hätten einen netten Eindruck gemacht, deshalb seien sie mitgegangen.« Grif‌foni verstummte, doch Brunetti drängte nicht.

»Das Boot war in der Nähe einer Brücke geparkt, wie sie sich ausdrückte.«

Er kannte die Brücke am Ende des Campo Santa Margherita, mit einer riva auf der anderen Seite.

»Sie sagt, anfangs war es sehr aufregend. Sie fuhren auf einem großen Kanal, mit großen Häusern links und rechts. Dann kamen sie an ein paar Kirchen vorbei, und plötzlich merkte sie, dass sie auf offenem Wasser waren.«

»Und?«

»Sie fand das unheimlich, weil es dort außerhalb der Stadt stockfinster war. Die einzigen Lichter waren weit

»Und wie ging es weiter?«

»Ab da kann sie sich an nichts mehr erinnern. Kurz davor, das wusste sie noch, wurde ihr schlecht, und sie schrie die Jungen an, sie sollten langsamer fahren. Und dann war sie im Krankenhaus, weiß aber nicht, wie sie dort hingekommen ist.«

»Und die jungen Männer?«, fragte Brunetti.

»Die haben ihnen erzählt, sie seien Venezianer. Das heißt, einer von ihnen. Sie sagt, er sprach ziemlich gut Englisch. Der andere hat nicht viel gesprochen, nur Italienisch.«

»Hat sie ihre Namen erfahren?«

»Der Englisch gesprochen hat, heißt angeblich Phil. Der Name des anderen fing mit M an – Mario, Michele, sie weiß es nicht mehr.«

»Sonst noch etwas?«

»Einer der beiden, sagt sie, hatte ein Tattoo am linken Handgelenk: schwarz und irgendwie geometrisch, wie ein Armband.«

»So wie tausend andere«, sagte Brunetti. »Erinnert sie sich, wie sie nass geworden ist?«

Grif‌foni stöhnte. »Mehr weiß sie wirklich nicht mehr, Guido.«

»Was sagen die Ärzte?«

»Dass die Erinnerung zurückkommen könnte, aber erst

Bevor Brunetti noch etwas fragen konnte, erklärte Grif‌foni: »Man ruft mich. Ich muss wieder rein«, und legte auf.

Brunetti blieb allein mit seinen Olivenkernen, einem leeren Glas und immer noch keiner klaren Vorstellung von dem, was da am Samstagabend passiert war. Er dachte an die junge Frau mit dem zerschundenen Gesicht: Wie konnte ein Chirurg, der sie nie zuvor gesehen hatte, ihr Gesicht wiederherstellen? Dass sie wieder so aussah wie vorher?

Er ließ diese sinnlosen Spekulationen und konzentrierte sich auf die Fakten. Die zwei Männer waren Venezianer, sie hatten Zugang zu einem Boot, arbeiteten vielleicht sogar damit. Brunetti hatte keine Ahnung, wie viele Männer und Frauen in der Stadt auf die eine oder andere Weise mit Booten zu tun hatten. Hunderte? Oder noch viel mehr? Wie in den Zeiten, als die Serenissima Herrscherin der Meere gewesen war, blieb die Arbeit oft über Generationen hinweg in der Familie, und wie alle, die ständig ihr Leben aufs Spiel setzen, hielten die Bootsleute zusammen wie Pech und Schwefel.

Brunetti brachte das Glas und den Teller mit den Olivenkernen in die Küche und stellte beides neben die Spüle. Dann holte er sich in Paolas Arbeitszimmer etwas zu lesen, bis die Familie zum Essen nach Hause kam.