Am nächsten Morgen erhielt Brunetti eine von Signorina Elettra weitergeleitete Mail der Carabinieri mit den Namen der zwei Männer, die die jungen Frauen vor dem Krankenhaus abgelegt hatten. Marcello Vio, wohnhaft auf der Giudecca, Filiberto Duso in Dorsoduro. Der Name »Duso« weckte in Brunetti irgendeine positive Erinnerung, aber er las erst einmal weiter.
Die Carabinieri von der Wache am Ponte dei Lavraneri hatten die beiden identifiziert und fügten hinzu, auf Vio hätten sie »ein Auge«, erklärten aber nicht, warum.
Brunetti suchte die Website der Wache heraus – seit wann hatten eigentlich irgendwelche Polizeiwachen, zumal auf der Giudecca, eine eigene Website?, fragte er sich – und wählte die Nummer. Er meldete sich mit Rang und Namen und sagte, er habe die Nachricht bekommen, jemand habe die zwei Männer auf den von der Questura übermittelten Fotos erkannt, und bat, den Chef zu sprechen.
Es knisterte und knackte in der Leitung, dann sagte eine Altstimme, ob männlich oder weiblich, blieb Brunetti vorerst ein Rätsel: »Nieddu. Womit kann ich dienen?«
»Hier spricht Brunetti. Commissario. Von San Lorenzo.«
»Ah«, sagte Nieddu. »Ich habe von Ihnen gehört.«
Brunetti stöhnte unwillkürlich auf. »Das fängt ja gut an«, meinte er. In das Schweigen hinein fügte er hinzu: »Hoffentlich nichts Schlechtes.«
Das Lachen war unverkennbar weiblich, die Stimme weiterhin tief und freundlich. »Ja, natürlich. Sonst hätte ich es nicht gesagt.«
»Eine gute Überlegung«, meinte Brunetti. »Vorsicht ist besser als Nachsicht.«
Nach kurzer Pause fragte Nieddu: »Sie rufen wegen der zwei Männer auf den Fotos an, ja?«
»Allerdings«, antwortete Brunetti. »Ich wäre Ihnen für alles dankbar, was Sie mir über die beiden erzählen können.«
»Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen würden, warum«, gab sie zurück.
»Ah«, sagte Brunetti. »Ist das jetzt 1:1 unentschieden?«
»Nein, Commissario, wo denken Sie hin.« Es gelang ihr, amüsiert und gekränkt zugleich zu klingen, und ganz gleich, ob sie im Ernst oder im Scherz sprach, der tiefe Alt ihrer Stimme erinnerte ihn an ein Cello.
»Ich kenne Ihren Rang nicht«, erklärte Brunetti. »Also verzeihen Sie bitte, dass ich Sie nicht korrekt angesprochen habe.«
»Capitano«, sagte sie knapp.
»Also, Capitano, gibt es hier etwas auszuhandeln?«
»In gewisser Weise, ja.«
»Dann sollten wir uns besser treffen, oder was meinen Sie?«
»Einverstanden«, meinte sie freundlicher.
Brunetti war drauf und dran, im scherzenden Ton zu fragen: »Bei Ihnen oder bei mir?«, dachte aber noch rechtzeitig an die neuen Verhaltensvorschriften, die das Ministerium in Rom im Kampf gegen sexuelle Belästigung erlassen hatte; schon fielen ihnen Karrieren zum Opfer, vom ungezwungenen Umgang miteinander ganz zu schweigen. In der gegenwärtig herrschenden Atmosphäre käme er kaum damit durch, er habe sich durch die Schönheit ihrer Stimme zu dem Spruch hinreißen lassen, also verzichtete er auf jede Koketterie und wurde förmlich.
»Da ich es bin, der um Informationen bittet, sollte ich wohl die Reise zu Ihnen antreten.«
»Wenn Sie die Überfahrt zur Giudecca als Reise ansehen.«
»Capitano«, sagte Brunetti. »Für mich kommt die Fahrt zur Giudecca einer Arktisexpedition gleich.«
Jetzt lachte sie, und er meinte, in einer Stunde könnte er da sein. Sie erklärte sich einverstanden und fragte, ob er wisse, wo das commissariato sei.
»Ganz am Ende, auf Sacca Fisola, richtig?«
»Ja. Nennen Sie dem Wachhabenden an der Brücke Ihren Namen, dann lässt er Sie vor.«
»In Ordnung, danke.«
»Mein Rang ist Capitano«, sagte sie. »Aber mein Name ist Laura.«
»Und ich heiße Guido«, erklärte Brunetti und antwortete mit einem »Ciao« auf die Freundlichkeit in ihrer Stimme, während er die sprachliche Brücke zur Herzlichkeit überschritt.
Brunetti sah sich extra nicht die Polizeiakten der beiden Männer an, bevor er losging, um unvoreingenommen herauszuhören, warum die Carabinieri auf einen der beiden »ein Auge hatten«. Er nahm die Nummer zwei nach Sacca Fisola, ohne groß auf die Pracht zu beiden Seiten des Kanals zu achten, ging ein Stück die riva hinunter und hielt dann auf die Carabinieri-Wache am anderen Ende der Insel zu. Die Gegend bestätigte ihn in seiner Meinung von der Giudecca: triste Betonquader, vollkommen schmucklos. Öde Wohnkästen, noch schlimmer durch die – zumindest für ihn – schreckliche Aussicht; denn jenseits der trägen Wasser der laguna wucherte der petrochemische Horror von Marghera, Reihen um Reihen riesiger Schlote, die Tag und Nacht ihre Giftwolken in den Himmel spuckten … Brunetti stockte, wusste er doch so wenig wie alle anderen Einwohner Venedigs, was genau da in dicken Wolken aus diesen Schloten kam und regelmäßig verharmlost wurde.
Polizeiboote auf nächtlicher Streifenfahrt trafen dort regelmäßig Fischerboote an, gefüllt mit Muscheln, die sie mit beschwerten Schleppnetzen vom Grund der laguna kratzten und dabei die Meeresfauna zerstörten. Die Muscheln gediehen prächtig von dem, was sie da unten zu fressen fanden, in den Rückständen der Flüssigkeiten, die seit Generationen aus den Riesentanks der petrochemischen Industrie in die laguna sickerten.
Brunetti und seine Familie aßen keine Muscheln und auch sonst keine Schalentiere, die aus örtlichen Gewässern stammten. Chiara als Vegetarierin verzichtete ohnehin auf Fisch und andere Meerestiere. Er wusste noch, wie sie als Zwölfjährige einmal einen Teller spaghetti alle vongole mit den Worten von sich weggeschoben hatte: »Die haben mal gelebt.« Sie aß sie immer noch nicht, jetzt aber war sie besser informiert und begründete ihren Verzicht mit: »Die sind tödlich«. Ihre Familie tat Chiaras Ansichten zwar als übertrieben ab, doch der Appetit war ihnen allen vergangen.
Brunetti überquerte den Ponte dei Lavraneri und näherte sich dem Wachhäuschen. Der Carabiniere drinnen schob das Fenster auf: »Sì, Signore?«
»Ich möchte zu Capitano Nieddu.«
»Und Ihr Name, Signore?«
»Brunetti.«
Der Mann drehte sich auf seinem Stuhl und wies linker Hand in dem hohen Maschendrahtzaun auf ein Tor, hinter dem ein Kiesweg zwischen fast bis zum Boden zurückgeschnittenen Rosenrabatten zum Hauptgebäude führte. »Das Büro ist ganz hinten. Ich gebe dem Capitano Bescheid, dass Sie kommen.«
Brunetti dankte und ging zu dem Tor, das vor ihm aufsprang und sich hinter ihm automatisch wieder schloss. Beim Anblick der Rosen fragte er sich, ob man sie im Herbst wirklich so weit zurückschneiden sollte – aber was wusste er schon von Pflanzen und ihrer Pflege. Hinter den Rosen war ein Grasstreifen und dahinter nackte dunkle Erde, offenbar frisch umgegraben und geharkt. Dort sollten wohl im Frühjahr größere Gewächse gepflanzt werden.
Aber das hier war eine Carabinieri-Wache, keine Gärtnerei. Er gelangte zu einem zweigeschossigen Backsteingebäude mit einer Ziegelmauer dahinter. Die Mauer war stärker verwittert und offensichtlich älter als das Gebäude.
Er drückte auf die Klingel neben der Metalltür und trat zwei Schritte zurück, damit er durch den Türspion gut zu erkennen war. Dann zog er seine Dienstmarke aus der inneren Jackentasche, erkannte zu spät, dass er diese Bewegung besser unterlassen hätte, und hielt die Marke vor das Guckloch.
Er hörte ein Geräusch, die Tür ging auf, und vor ihm stand eine ungewöhnlich große Frau. Sie war in den Dreißigern, trug schulterlanges dunkles Haar und eine Uniformjacke mit einem Streifen unter den drei Sternen auf den Epauletten. Demnach war sie ein primo capitano und stand vermutlich höher im Rang als die meisten Männer der Einheit.
Er trat vor und reichte ihr die Hand. »Guten Morgen, Laura. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte sie mit ihrer tiefen Stimme und gab die Tür frei. »Gehen wir in mein Büro, da können wir reden.« Jetzt endlich zeigte sich ein Lächeln, fast so attraktiv wie ihre Stimme. Ihre Augen waren grün, mit winzigen Fältchen darum, die ihrer Schönheit keinen Abbruch taten. Beim Anblick ihrer taillierten Uniformjacke fragte sich Brunetti, wo die Carabinieri seiner Jugend – fett, schnauzbärtig, verknittert – geblieben waren.
Sie schritt mit ihren langen Beinen durch den Flur voraus. Brunetti spähte in die erste offene Tür, an der sie vorbeikamen, und dann, wie ein Schneider im Atelier eines Konkurrenten, verlangsamte er seine Schritte und sah zu jeder offenen Tür hinein, auch wenn er selbst nicht wusste, wonach er eigentlich suchte. Was er zu sehen bekam, glich mehr oder weniger den Räumen in der Questura: uniformierte Beamte, die an Computern saßen, Stapel von Akten und Papieren auf den Schreibtischen, daneben Fotos von Frauen und Männern und Kindern, Katzen und Hunden, eins von einem Mann in kurzen Hosen am Strand, einen Fisch hochhaltend, der fast so lang war wie er selbst. An den Wänden die üblichen Tafeln und Karten, Fotos des Staatspräsidenten, in einem Büro ein Kruzifix, in einem anderen die Löwenflagge von San Marco.
Vor der letzten Tür rechts blieb sie stehen und winkte ihn hinein. Auch hier nichts Besonderes, nur dass der Schreibtisch nicht so übersät war wie die anderen. Computer, Tastatur, ein Buch, das aussah wie ein Band des Strafgesetzbuchs. Im Eingangskorb nur eine schmale Akte; der Ausgangskorb war voll.
Sie schloss die Tür hinter ihm und nahm an ihrem Schreibtisch Platz. Brunetti entschied sich für den Stuhl näher am Schreibtisch. Bevor er sich setzte, wies er auf den Eingangskorb und sagte: »Da kann man nur neidisch werden. Gratuliere.«
»Zum Auftakt Schmeicheleien, Guido. Das funktioniert immer«, erwiderte sie lächelnd.
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Brunetti. »Obwohl mir die Methode nicht unbekannt ist.«
Unterdrückte sie ein Lachen? Nieddu beugte sich vor, nahm eine Akte aus dem Ausgangskorb und reichte ihm ein paar Blätter.
Wie er erwartet hatte, waren die von Signorina Elettra übersandten hochvergrößerten Aufnahmen der Kamera an der Notaufnahme darunter. Zudem ein paar Seiten mit Bleistiftnotizen in gut lesbaren Druckbuchstaben. Bevor er sich an die Lektüre machte, sah Brunetti kurz auf, sagte aber nichts. Interessant, dachte er: keine Computerausdrucke, nur Handschriftliches, also offenbar inoffiziell. Sie blieb stumm, und er vertiefte sich in die Akte.
Er schob die Fotos beiseite und las. Brunetti hatte Beweismaterial für eine Verbindung der Männer mit den Opfern erwartet, aber diese Notizen klangen nach einem zweitrangigen Buddy-Film. Junge Männer, vor vierundzwanzig Jahren in derselben Woche geboren; einer der Sohn eines erfolgreichen Anwalts, der andere Sohn eines Gelegenheitsarbeiters, der in einer Chemiefabrik in Marghera die Tankcontainer reinigte. Dieser war vor neun Jahren außerhalb der Arbeitszeit betrunken mit seinem Auto von der Straße abgekommen und an einem Betonpfeiler gelandet. Zwar hatte er überlebt, war seither jedoch geistig und körperlich behindert. Die abschließende Bemerkung dazu ließ Brunetti frösteln: »In eine Anstalt eingewiesen.«
Brunetti hob den Kopf und sah zu Capitano Nieddu, aber die war in eine andere Akte vertieft, die von unsichtbarer Hand vor ihr aufgetaucht war, und blickte nicht auf. Er wandte sich wieder den Notizen zu. Marcello Vio, einziger Sohn des Schwerverletzten, hatte zwei jüngere Schwestern, die noch zur Schule gingen; dazu kam die Mutter. Um seine Familie zu unterstützen, verließ er mit fünfzehn die Schule und begann in der Spedition seines Onkels zu arbeiten, wo er bis zum heutigen Tag beschäftigt war.
Filiberto Duso war in diesem unwahrscheinlichen Drehbuch der junge Prinz. Er und Vio waren auf der Schule unzertrennlich, bis Duso aufs liceo wechselte und Abitur machte, während Vio arbeiten ging. Sie blieben aber beste Freunde und waren regelmäßig miteinander in der laguna unterwegs, immer auf der Suche nach Abenteuern. Man hielt sie allgemein für »bravi ragazzi«.
Gerüchten zufolge bewegte sich Vio mit seinen Aktivitäten in letzter Zeit zunehmend am Rand der Legalität, angeblich schmuggelte er Zigaretten aus Montenegro und half beim Transport illegal geernteter Muscheln. Im Zusammenhang damit wurde nicht Duso, sondern Vios Onkel erwähnt, Genaueres dazu fehlte. Brunetti las drei kurze Anmerkungen, in denen vom schlechten Einfluss des Onkels auf seinen Neffen die Rede war. Doch auf der Giudecca wimmelte es nur so von Gerüchten, und Brunetti hütete sich, Geschichten, die mit keinerlei halbwegs glaubhaften Tatsachen belegt wurden, allzu viel Glauben zu schenken.
Er las zu Ende, raschelte mit den Papieren, und als Nieddu schließlich aufblickte, fragte er: »Deswegen haben Sie ›ein Auge‹ auf Vio?«
Nieddu nickte. »Er tritt in die Fußstapfen seines Onkels, Pietro Borgato.«
»Und auf den haben Sie auch ein Auge?«
»Sogar noch mehr. Und seit langem. Es gibt Gerüchte.«
»Welcher Art?«, fragte Brunetti.
Nieddu setzte zu einer Antwort an, zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. »Sie wissen ja, wie das ist. Die Leute sagen, er habe mit irgendwelchen Schurkereien zu tun, aber wenn man nachfragt, wissen sie nichts Genaues. Aber sie hätten es aus glaubwürdiger Quelle.« Sie ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken, und fügte hinzu: »Eine Nachbarin eines meiner Männer behauptet, er sei Schmuggler, aber was er schmuggelt, weiß sie nicht.« Sie winkte ab. »Genauso gut kann es sein, dass sie ihn einfach nicht mag und ihn nur deshalb für einen Schmuggler hält, weil er ein Boot besitzt.«
Was sollte Brunetti dazu sagen? Er schwieg eine Weile, wies dann auf die Fotos und fragte: »Woher wissen Sie, dass es diese beiden am Steg vor der Notaufnahme waren?«
Nieddu nahm die Akte aus dem Eingangskorb, blätterte darin, bis sie die gesuchte Seite fand, und hielt sie ihm hin.
Oben angeheftet war ein Foto von zwei jungen Männern, die Arm in Arm entspannt in die Kamera lächelten. Sie trugen kurze Hosen und T-Shirts. Beide waren tief gebräunt. Einer war sehr muskulös und hatte seine Sonnenbrille hochgeschoben, der andere, schlankere, trug einen Lorbeerkranz auf dem Kopf, wie Studenten ihn zur Feier ihres erfolgreich abgeschlossenen Studiums tragen. Von einer Schleife am Kranz hingen rote Seidenbänder herab. Der junge Mann hatte den Mund weit aufgerissen, als wollte er einen großen Bissen vom Planeten Erde nehmen. Brunetti musste an die Freude denken, an den unbändigen Stolz, mit dem er selbst einen Tag lang so einen Kranz getragen hatte: Er konnte die Begeisterung des jungen Mannes nachempfinden, bei dem es sich zweifelsfrei um Duso handelte.
Er studierte die Gesichter noch ein wenig länger, dann griff er nach den von Signorina Elettra geschickten Fotos, legte sie links und rechts neben das Bild der beiden und verglich sie sorgfältig. Kein Zweifel: Der mit der Sonnenbrille war Marcello Vio.
»Dusos Examensparty?«, fragte Brunetti und wies auf das Foto in der Mitte.
»Ja. Diesen Sommer.«
»Wer hat das aufgenommen?«
Capitano Nieddu zögerte kurz. »Einer meiner Männer.«
Brunetti ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. »Und wie sind Sie daran gekommen?«
»Er hat die Fotos gesehen, die uns geschickt wurden, und mir dieses hier heute früh mitgebracht.«
Brunetti legte sich das zurecht. Offenbar war der Beamte, wenn er das Foto gemacht hatte, ein Freund, vielleicht ein Verwandter eines der Männer auf dem Bild. »Darf ich Ihnen zu dem Treffer gratulieren?«
Sie hob abwehrend die Hand. »Nein – das Foto hat doch der Kollege entdeckt.«
»Der also vermutlich auf der Giudecca lebt, oder wenigstens in der Stadt.«
»Richtig«, sagte sie. »Ein guter Mann.«
»Jung?«, fragte Brunetti.
»Nein, er ist sechzig und wartet nur noch auf seine Pensionierung.«
»Verstehe«, sagte Brunetti, beeindruckt vom Mut dieses Mannes. Er schlug die Beine andersrum übereinander, beugte sich vor und tippte auf das erste Blatt der handschriftlichen Notizen. »Haben Sie oder der Kollege, von dem Sie diese Informationen haben, irgendwelche Beweise für das, was hier steht?«, fragte er.
»Abgesehen vom Aktenkundigen? Nein. Niemand würde zugeben, irgendetwas gesagt zu haben. Nur der übliche Tratsch«, erklärte sie. »Hörensagen und selbst Wissen, dass etwas geschieht, ist schön und gut. Aber das wird kein Richter als Beweis akzeptieren.« Sie verschränkte die Arme und schlug ihrerseits die Beine übereinander. »Und natürlich darf niemand erfahren, dass man etwas ausgeplaudert hat.« Sie verstummte, offenbar auf Bestätigung wartend.
Brunetti nickte aufmunternd.
»Seit ich hier angefangen habe«, begann sie betont langsam und deutlich, vielleicht um ihren leichten sardischen Akzent zu überspielen, »bitte ich die Männer und die eine andere Frau in der Einheit, auf Klatsch und Tratsch zu achten, auf Gerüchte und alles, was man sich in den Bars erzählt. Sie sollen das aufschreiben und mir geben. Ich kopiere es dann und vernichte die Originale, so dass alles einzig in meiner Handschrift vorliegt, sollte es jemals Schwierigkeiten geben.«
»Schwierigkeiten?«, fragte Brunetti.
Sie wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster, hinter dem nur die alte Backsteinmauer zu sehen war. Sie betrachtete die Mauer, zog die Lippen zusammen und drehte sich wieder zu ihm um.
»Nach allem, was ich über Sie gehört habe, Commissario, verstehen Sie bestimmt, dass ich als Frau es in diesem Job nicht gerade leicht habe. Im Gegenteil, oft ist es für mich schwerer.«
Als sie nicht weitersprach, pflichtete Brunetti ihr bei: »Das bezweifle ich nicht. Viele meiner Kollegen halten nicht viel von Frauen im Polizeidienst.«
»Oder außerhalb, wage ich zu behaupten«, entfuhr es ihr, ehe sie zu ihrem freundlichen Ton zurückfand. »Ich habe noch etwas für Sie«, sagte sie, zog eine Schublade auf und nahm einen Umschlag heraus. Sein Name stand darauf. »Das sind die Fakten über die beiden. Vollständiger Name, Adressen, Telefonnummern, gegenwärtige Beschäftigung, Arbeitsstelle.« Dann: »Keine Vorstrafen. Vio bekam drei Bußen als Raser in der laguna. Sonst nichts.« Doch dann setzte sie noch hinzu: »Aber was man so über ihn hört, wird immer … suspekter.« Sie räusperte sich und erklärte trocken: »Das Foto, das mein Kollege gemacht hat, existiert nicht.« Irgendwie klang ihre Stimme nicht mehr so schön, als sie hinzufügte: »Sie haben das nicht gesehen, Commissario.«
Brunetti nickte und schob den Umschlag ungeöffnet in die Innentasche seiner Jacke.
Sie schwiegen eine Weile. Brunetti wartete gespannt, was noch alles kommen würde. Capitano Nieddu, der das nicht entging, kam auf ihr ursprüngliches Thema zurück. »Ich denke, diese Gerüchte haben einen wahren Kern. Wir haben sie aus verschiedenen Quellen, unter anderem von einer früheren Freundin Vios und einem entfernten Cousin.« Zu Brunettis Überraschung entkräftete sie ihre eigene Bemerkung mit einem Schulterzucken.
Ihre Notizen beschäftigten sich nicht mit der Frage, ob Vio tatsächlich Zigaretten schmuggelte; auch Brunetti verfolgte das nicht weiter, dagegen ließ sich ohnehin kaum etwas unternehmen. »Wie schätzen Sie ihn ein?«
Während Nieddu sich eine Antwort überlegte, rieb sie an einem unsichtbaren Fleck auf der Tischplatte. Schließlich sagte sie: »Ich vermute, er oder sie alle beide haben tatsächlich etwas mit Schmuggelware zu tun. Geschäftlich.« Sie sah zu Brunetti und fügte hinzu: »Kinder von Freunden sind mit Vio zur Schule gegangen. Sie sagen, er sei nicht besonders klug, im Grunde aber ein guter Junge.« Dann: »Im Gegensatz zu seinem Onkel.«
»Und der andere? Duso?«
Wieder dieses Schulterzucken. »Sein Vater ist Anwalt.« Jetzt klingelte bei Brunetti endlich etwas: Duso hieß der Anwalt eines seiner Freunde, der begeistert war von dessen Kompetenz und Integrität.
Doch er sah keinen Anlass, dies Nieddu zu verraten, wartete vielmehr schweigend, dass sie weitersprach. »Der Junge arbeitet bereits in der Kanzlei seines Vaters«, erklärte sie schließlich. »Er tut gut daran, sich von dunklen Machenschaften fernzuhalten, in die sein Freund womöglich verwickelt ist.« Gut daran tat er bestimmt, aber das bewies noch lange nicht, dass Duso auch ein guter Junge war.
»Und die Zigaretten?«, fragte Brunetti in unbeteiligtem Ton.
»Mein Gott, wen kümmern die schon?«, rief sie.
Da sich ihre Sicht der Dinge so deckte, schlug Brunetti vor: »Informieren wir uns gegenseitig über alles, was wir herausfinden?«
»Aber gern«, antwortete Nieddu und fügte dann hinzu: »Wie Sie bemerkt haben werden, habe ich nicht noch einmal nachgefragt, warum Sie sich für die beiden interessieren. In der Zeitung stand, sie hätten die jungen Frauen zum Pronto Soccorso gebracht.«
Brunetti nickte.
»Eine Nachbarin von mir arbeitet dort«, fuhr sie fort; ihre Stimme klang plötzlich heiser. »Sie hat mir erzählt, wie die junge Frau aussah, als die Männer sie auf dem Steg abgeladen haben.«
»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte Brunetti, obwohl sich das wie eine Ausrede anhörte.
»Aber wir wissen, wer sie dort ausgesetzt hat«, stieß Nieddu hervor. Dann, immer zorniger: »Das tut man keinem Hund an.«
Brunetti stand auf, schüttelte sein rechtes Hosenbein auf, strich den Stoff mit beiden Händen glatt und richtete sich auf. »Danke, Laura, für Ihre Zeit und die in Aussicht gestellte Zusammenarbeit. Wenn möglich, werden wir uns die beiden noch heute vorknöpfen.« Er fragte, ob sie ihre Telefonnummern austauschen sollten. Sie stimmte lächelnd zu und zückte ihr telefonino.
Nachdem das erledigt war, wandte Brunetti sich zum Gehen; sie machte keine Anstalten, ihn zur Tür zu begleiten. Dort angekommen, drehte er sich um und sagte: »Eines noch. Ich werde mir nicht anmerken lassen, dass ich über ihn oder seinen Onkel Bescheid weiß. Ich fische nicht in fremden Gewässern.«
Sie nickte. »Also dann, viel Erfolg.« Brunetti ging zurück zur riva und nahm die Nummer zwei nach San Zaccaria.