An Deck des Vaporetto informierte Brunetti Signorina Elettra per Telefon, die beiden Verdächtigen seien eindeutig identifiziert und sollten zur Vernehmung in die Questura gebracht werden. Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, nahm er den Umschlag aus der Tasche und diktierte ihr die Kontaktdaten. Auf ihre Frage hin bat er sie, eine gerichtliche Vorladung zu besorgen. Patta werde bestimmt einverstanden sein, schließlich seien Mitarbeiter der Amerikanischen Botschaft von dem Fall betroffen. Brunetti erinnerte sich, wie Patta vor einigen Jahren in der internationalen Presse gelandet war: Die New York Times persönlich hatte Pattas Namen erwähnt zusammen mit der Floskel, die Festnahme habe »der ’Ndrangheta einen schweren Schlag versetzt«. Für die internationale Presse waren alle Schläge gegen die Maf‌ia »schwer« oder »vernichtend«. Auch in den verbreiteteren europäischen Sprachen boten sich offenbar keine angemesseneren Wörter wie »sinnlos« oder gar »ins Leere gehend« an.

Brunetti schärf‌te ihr ein, die beiden Männer dürf‌ten, sobald sie in Polizeigewahrsam waren, mit niemandem sprechen oder telefonieren. Dass sie in getrennte Vernehmungszimmer gebracht werden sollten, brauchte er ihr nicht zu sagen, und dass die Carabinieri auf einen der beiden »ein Auge hatten«, musste sie nicht wissen.

»Sagen Sie Pucetti, er soll Vio abholen, und schicken Sie Vianello mit einem zweiten Boot zu Duso. Beide wissen

»Natürlich, Commissario«, sagte Signorina Elettra. »Soll ich schon mal mit Recherchieren anfangen?«

»Ein Capitano der Carabinieri hat mir eben erklärt, die hätten in ihren Unterlagen nichts gefunden«, sagte Brunetti.

Er hörte so etwas wie ein Klicken. Schnalzte sie ungläubig mit der Zunge? Oder war es ein Ausdruck ihrer Enttäuschung?

Jedenfalls brachte das Geräusch Brunetti wieder auf Kurs, und er fügte eilig hinzu: »Aber Sie sollten auf alle Fälle mal genauer nachsehen, Signorina«, worauf sich der Griff um sein telefonino unwillkürlich entspannte. Wie jemand, der mit einem Blumenstrauß sein schlechtes Benehmen wettzumachen versucht, setzte er noch obendrauf: »Einer der beiden hat einen Onkel auf der Giudecca. Pietro Borgato. Vielleicht können Sie sich den auch einmal näher ansehen?«

»Wissen Sie schon, wann Sie es ermöglichen können hierherzukommen, Signore?«, fragte sie mit einem Zartgefühl, von dem Brunetti sich erst einmal erholen musste. Er sah auf die Uhr: schon nach eins, stellte er überrascht fest.

»Bis zwei müsste ich es schaffen.«

»Gut. Wäre das alles, Signore?«

»Die beiden sind in der Stadt aufgewachsen«, sagte Brunetti so beiläufig wie möglich.

»Verstehe«, quittierte sie seine ebenso formlose wie gesetzeswidrige Auf‌forderung, sich in den gesperrten Akten

»Würden Sie ausrichten, dass ich in Kürze eintreffe?«, kam Brunetti auf Vianello und Pucetti zurück. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, sollen sie mich anrufen.«

»Selbstverständlich, Signore«, antwortete Signorina Elettra.

Brunetti dankte ihr und legte auf. Erst da fiel ihm ein, dass Paola ihn zum Mittagessen erwartet hatte. Hoffentlich war sie nicht beunruhigt oder verärgert, weil er nicht angerufen hatte. Vielleicht erwischte er sie ja noch, bevor das Essen auf den Tisch kam.

Nach dem vierten Klingeln meldete sich eine fremd klingende Stimme: »Ristorante Falier. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unser Restaurant heute geschlossen hat. Bitte versuchen Sie es ein andermal. Danke für Ihr Verständnis.« Dann wurde aufgelegt.

Zur Buße für seine Pflichtvergessenheit bestellte Brunetti in einer der vielen Bars an der Riva degli Schiavoni zwei tramezzini, schaffte aber von jedem nur einen Bissen; der Wein war völlig ungenießbar. Nicht ärgern, sagte er sich und setzte seinen Weg fort, bis er die Bar am Ponte dei Greci erreicht hatte; er grüßte Sergio, den Inhaber, und bat um ein Tramezzino mit Spargel und Ei und eins mit Thunfisch und Tomate. Er aß im Stehen, trank dazu ein Glas Pinot Grigio und hinterher einen Kaffee. So viel zum Mittagessen für einen, der arbeiten muss, sagte er sich auf dem Weg zur Questura. Demnächst würde er ein Stück Pizza aus der Hand essen oder im Gehen Spaghetti aus einer Pappschachtel schlürfen. »Oder auf den Treppenstufen der

Er betrat das Gebäude, erwiderte den Gruß des Wachhabenden und ging zu Signorina Elettras Büro hinauf. Er hatte vor dem Besuch bei den Carabinieri nicht bei ihr vorbeigeschaut, daher sah er erst jetzt ihre herbstliche Kleidung. Brauner Pullover, beige Hosen, braune Schuhe. Doch was fehlte, war eine Anspielung auf rot oder gelb verfärbtes Herbstlaub oder gar das satte Orange reifer Kakifrüchte. Nichts zu sehen vom pompösen Scharlachrot der Granatäpfel. Beim Anblick der gedeckten Töne fühlte Brunetti sich irgendwie betrogen. Die Vase mit roten Chrysanthemen reichte nicht aus, sein Verlangen nach Buntheit zu stillen.

Lächelnd fragte er: »Gibt es Neuigkeiten?«

Als sie sich auf ihrem Stuhl umdrehte, erhaschte Brunetti einen Blick auf den Ärmel der Jacke, die über der Lehne hing: theaterroter Samt, wie er einem jener völlig verrückten Herrscher gefallen hätte: Heliogabal, vielleicht. Das munterte ihn auf und gab ihm den Glauben zurück – woran, hätte er selbst nicht sagen können.

»Foa hat angerufen, er ist«, sie sah auf ihre Uhr, »er ist in zehn Minuten hier.«

»Welche Zimmer sind frei?«, fragte Brunetti.

»Zwei und vier«, nannte sie die am unfreundlichsten eingerichteten Vernehmungsräume, graugrün gestrichen und mit nichts als einem billigen Plastiktisch und vier Plastikstühlen ausgestattet. Obwohl drinnen und draußen Rauchverbotsschilder hingen, stank es in beiden Zimmern nach Zigaretten, und immer, sooft sie auch weggefegt wurde, lag Asche auf dem Boden. Seit Jahren gab es Beschwerden über

Brunetti rief Grif‌foni von seinem Handy an. »Du hast gehört, dass wir sie abholen?«

»Ja.«

»Einer wird in zehn Minuten hier sein. Möchtest du …«

»Sì«, sagte sie so laut, dass er das Handy vom Ohr weghalten musste. Man hörte ein Geräusch, einen lauten Schlag, gefolgt von metallischem Klappern und Schritten.

Er ging auf den Flur hinaus zur Treppe. Und schon sah er sie sich oben, linke Hand am Geländer, um die Kurve schwingen und die Stufen hinuntereilen. Als sie ihn bemerkte, nahm sie die Hand vom Geländer und verlangsamte ihre Schritte.

»Sie sind noch nicht da«, rief er beruhigend zu ihr hoch.

Kaum stand sie vor ihm, bat Grif‌foni: »Erzähl.« Ihr noch vom Sommer gebräuntes, jetzt zusätzlich gerötetes Gesicht bildete einen umwerfenden Kontrast zu ihren blonden Haaren und den grünen Augen. Kaum zu glauben, dass sie aus dem Süden stammte.

»Die Carabinieri von der Giudecca haben die beiden erkannt«, sagte Brunetti. »Beide sind nicht vorbestraft.«

»Aber sie sollen nicht zusammen verhört werden, oder?«, fragte Grif‌foni.

»Claudia«, meinte Brunetti mit leisem Tadel.

»Entschuldige, entschuldige«, erwiderte sie. »Schon klar.« Und dann, unruhig, einen Schritt zurückweichend,

»Die in Mestre?«

»Ja.« Sie senkte den Blick.

Brunetti wartete, aber sie blieb stumm. »Und?«, fragte er schließlich.

Grif‌foni fuhr sich mit der Hand über den Mundwinkel, wie immer, wenn sie nervös war. Den Blick gesenkt, schüttelte sie den Kopf. »Guido«, sagte Grif‌foni, »sie ist neunzehn.« Und ihm in die Augen sehend: »Sie ist noch nicht wieder bei Bewusstsein, und operieren kann man sie erst, wenn sie aufwacht.«

Plötzlich hörten sie unten Stimmen. Ein Mann sagte etwas, ängstlich und aufgeregt, dann begann Pucetti, die Ruhe selbst: »Wenn Sie mich bitte begleiten wollen …« Der Rest war nicht mehr zu hören, wohl weil sie sich in Richtung des Vernehmungszimmers im hinteren Teil des Gebäudes entfernten. Die lautere Stimme sagte noch: »Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir …«, dann war auch von dieser Person, vermutlich Vio, nichts mehr zu hören.

Brunetti blieb nicht mehr viel Zeit, Grif‌foni alles zu erklären; er wies mit dem Kopf nach den verklingenden Schritten unten im Flur und sagte: »Der da arbeitet als Bootsführer, und sein Freund, der bei der Geschichte dabei war, ist Anwalt in der Kanzlei seines Vaters. Ich weiß bisher nur, dass die Carabinieri der Giudecca auf den mit dem Boot ›ein Auge haben‹. Es gibt Gerüchte, dass er Zigaretten und Muscheln geschmuggelt haben soll.«

Grif‌foni kommentierte das mit einem verächtlichen Schnauben.

»Nur Gerüchte?«, hakte sie nach.

Doch da erschien Pucetti unten an der Treppe und rief hinauf: »Commissari, ich habe ihn in Zimmer vier gebracht.«

»Danke, Pucetti«, sagte Brunetti im Heruntergehen zu dem pflichteifrigen Beamten. »Möchten Sie gern dabei sein?«

»O ja, Signore«, kam die Antwort, vielleicht ein wenig zu begeistert.

»Claudia?«, fragte Brunetti.

»Unbedingt. Kommen Sie, Pucetti. Wir wollen doch mal sehen, ob er wirklich über Boote Bescheid weiß.«

Der junge Mann im Vernehmungszimmer stand hinter einem Stuhl, auf die Lehne gestützt wie jemand auf dem Sprung. Er trug dieselbe Sonnenbrille wie auf dem Foto, das Brunetti gesehen hatte, verwaschene Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt. Unter den hochgeschobenen Ärmeln zeigten sich kräftige Unterarme, einer mit einem Tattoo wie ein Armband. Rundes Gesicht mit Stupsnase, die Frisur nach der aktuellen Mode an den Seiten kurzgeschoren und oben lang. Aber trotz dieser jugendlichen Aufmachung wirkte er älter als auf dem Foto, das Capitano Nieddu ihm gezeigt hatte: dunkle Ringe um die Augen und eine schmerzverzerrte Miene. Seine Haut war trocken und bleich unter den Resten der Sommerbräune, und Brunetti glaubte, seinen Atem zu hören.

»Nehmen Sie Platz, Signor Vio«, sagte Brunetti und ging zum Tisch. Er wartete, dass Vio den Stuhl herauszog und sich setzte. Dann schaltete er das Aufnahmegerät ein:

Vio hatte sich umständlich auf den Stuhl niedergelassen, eine Hand auf die Lehne gestützt. Brunetti kam es vor, als setzte Vio das argumentum ad misericordiam in Szene: einen Appell ans Mitleid. Er verscheuchte den Gedanken an die bewusstlose junge Frau im Krankenhaus und ermahnte sich, nicht aufgrund dessen, was das Mädchen erlitten hatte, die Schuld dieses Mannes als gegeben vorauszusetzen. Vio saß, die Lehne nicht berührend, so stocksteif da wie eine viktorianische Jungfrau und versuchte gar nicht erst, seine Nervosität zu verbergen, während sein Blick unstet umherwanderte. Er hatte einen Zweitagebart und die perfekten Zähne seiner Generation. Sein Atem ging flach und schnell.

Brunetti hatte nichts Schriftliches mitgebracht. Manche Leute fielen aus allen Wolken, wenn er ihnen Einzelheiten aus ihrem Leben präsentierte, ohne in den Akten nachsehen zu müssen. Grif‌foni hatte links neben Brunetti Platz genommen, er selbst saß Vio gegenüber. Pucetti stand rechts von ihnen mit hängenden Armen an die Wand gelehnt in der Rolle des uniformierten Beamten, der sich beim kleinsten Anzeichen von Fehlverhalten auf den Befragten stürzt.

»Könnten Sie mir sagen, wo Sie arbeiten, Signor Vio?«, begann Brunetti in sachlichem Ton.

»Arbeiten?«, wiederholte Vio, als sei ihm das Wort unbekannt. Er hustete und hielt sich die Hand vor den Mund.

Vio versuchte, sich bequemer hinzusetzen, zuckte zusammen und nahm wieder seine steife aufrechte Haltung ein. »Ja. Tu ich. Arbeiten, meine ich. Bei meinem Onkel.« Jeder Venezianer hätte an seiner Art zu reden erkannt, dass er von der Giudecca kam, aus einer Familie von Arbeitern, Generationen von Arbeitern womöglich, und sich nicht gewundert, wenn er vorzeitig die Schule verlassen hätte.

»Und was machen Sie für Ihren Onkel?«, fragte Grif‌foni.

Vios Augen schossen in Richtung ihrer Stimme, als dürfe die Frau eigentlich gar keine haben. Er dachte über die Frage nach und antwortete dann Brunetti, nicht ihr: »Ich lade und entlade die Lasten, die mein Onkel in die Stadt transportiert. Manchmal führe ich das Boot, manchmal nicht.« Er atmet, dachte Brunetti, wie ein alter Mann: Wie kann er sein Geld mit dem Schleppen schwerer Gegenstände verdienen? Sein Onkel muss ja sehr nachsichtig sein.

»Das heißt, manchmal steuern Sie das Boot selbst?«, fragte Brunetti.

»Ja.«

»Haben Sie eine Zulassung, Signor Vio?«

»Ja, habe ich«, sagte er. Als er sich unwillkürlich nach links drehte, um in seine Hosentasche zu greifen, zuckte er zusammen, erstarrte, nahm vorsichtig wieder die frühere Haltung ein und blickte auf.

»Schon gut, Signor Vio«, sagte Brunetti. »Das können wir leicht überprüfen.«

Vios Augen weiteten sich, er entgegnete aber nichts.

»Was für eine Art Boot fahren Sie für Ihren Onkel?«, fragte Grif‌foni.

»Verstehe«, sagte Grif‌foni. »Und Ihre Zulassung gilt für alle drei Bootsgrößen?«

Vio nickte, und sie bemerkte nicht unfreundlich: »Sie haben uns etwas zu sagen, Signor Vio.«

Der junge Mann räusperte sich. »Zu sagen? Was?«, fragte er. Brunetti hatte den Eindruck, Vio versuche, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen, was ihm aber nicht gelang, weshalb er sich mit ein paar hastigen Atemzügen begnügte.

Brunetti sah ihm lächelnd ins Gesicht und erklärte in onkelhaftem Ton: »Das Gespräch wird aufgezeichnet, Sie müssen also sprechen, sonst hört man nichts.«

»Oh, verstehe«, murmelte Vio und schielte nach dem Gerät. »Danke. Ja. Die Zulassung. Meine gilt für alle diese Boote.«

»Besitzen Sie auch selbst ein Boot?«, fragte Brunetti.

»Ja, ein pupparin«, antwortete Vio, »aber dafür brauche ich keine Zulassung.«

»In Ihrem Alter hatte ich auch eins«, sagte Brunetti mit allem Anschein von Wahrheit. »Aber ich wollte nie einen Motor dafür.«

»Ich auch nicht, Signore.«

»Und wie machen Sie das dann an Redentore?«, fragte Brunetti neugierig und ein wenig besorgt. Hatte er kein eigenes Boot, groß genug, dass er mit seinen Freunden ins bacino hinausfahren konnte, um sich das Feuerwerk anzusehen? Welcher Venezianer würde sich diese Chance entgehen lassen?

»Ach, das ist aber nett von ihm«, säuselte Grif‌foni. »Es muss schön für Sie sein, dass er so großes Vertrauen zu Ihnen hat.«

»Na ja, er weiß eben, dass ich ein guter Bootsführer bin«, gab Vio stolz zurück. Wieder hustete er. Diesmal zog er ein nicht allzu sauberes weißes Taschentuch hervor und wischte sich den Mund.

Brunetti entging nicht, wie Pucetti hinter ihm von einem Bein aufs andere trat. Wie verschieden Vio und Pucetti doch waren, dachte Brunetti, nicht vom Alter her, aber der eine so aufgeweckt und der andere so naiv.

»Es muss schön sein, mit Freunden in die laguna hinauszufahren«, schwärmte Grif‌foni, als sei es ihr Lebenstraum, in Gesellschaft auf dem Wasser zu schaukeln.

»Ja, so ist es, Signora«, antwortete Vio.

Das kann doch nicht wahr sein, dass es so einfach ist, dachte Brunetti, der noch zögerte, das Netz über dem leeren Schädel des Jungen auszuwerfen. Und warum, fragte er sich, betrachtete er Vio als Jungen?

»Tun Sie das?«, fragte Brunetti.

»Was, Signore?«, fragte Vio.

»Mit Freunden in die laguna hinausfahren«, erklärte Brunetti lächelnd.

Er sah genau, wann seinem Gegenüber die Bedeutung der Frage aufging. Offenbar hatte der junge Mann geglaubt, der umgängliche Ton der zwei Polizisten, die ihn vernahmen, sei ein Zeichen ihres Wohlwollens, es sei ihm gelungen, sie zu überzeugen, dass er ein guter Arbeiter und

»Oh«, sagte Vio, seine Hände umklammernd. »Nicht so oft. Nur an Redentore.« Er sah auf seine Hände, löste sie voneinander und legte sie flach vor sich hin, wo er sie unter Kontrolle hatte.

»Redentore war vor einem Monat«, erinnerte ihn Brunetti. »Waren Sie seitdem noch mal mit Freunden unterwegs?«

»Nein!«, antwortete Vio zu schnell und zu laut. »Ich arbeite auch am Wochenende. Ich habe keine Zeit.« Wieder hinderte ihn ein Hustenanfall weiterzureden, und er musste erst einmal verschnaufen.

»Ach wirklich?«, fragte Grif‌foni, als sei ihr ganz anderes zu Ohren gekommen. Sie machte ein skeptisches Gesicht und sah zu Brunetti: »Da haben Sie aber was anderes gehört, oder, Commissario?«

»Nun«, antwortete Brunetti gedehnt. »Vielleicht liegt hier ein Irrtum vor.«

»Hm«, machte Grif‌foni nicht sonderlich überzeugt.

Vio sah zwischen den beiden hin und her, als könne er besser begreifen, was sich da abspielte, wenn er keinen der beiden aus den Augen ließ.

Brunetti erklärte: »Wir möchten Ihnen ein paar Fragen zu Samstagabend stellen, Signor Vio.«

Vio sah Brunetti mit offenem Mund an, dann wanderte sein Blick zu Grif‌foni. Er rührte sich nicht, vor Angst erstarrt wie ein Kaninchen vor der Schlange.

»Ich …«, setzte er an, und die beiden beobachteten, wie er sich zu erinnern versuchte, was dieses Wort bedeutete, Samstag, und wann das gewesen war. »Ich bin spazieren gegangen.«

»Waren Sie zu Hause, als Sie beschlossen haben, einen Spaziergang zu machen?«, fragte Grif‌foni in harmlosem Plauderton.

»Ja.«

»Und wo ist das, wenn ich fragen darf?«

»In der Nähe von Sant’Eufemia.«

»Haben Sie Nachsicht mit mir, Signor Vio«, sagte sie honigsüß. »Ich bin keine Venezianerin und kenne mich in der Stadt nicht so gut aus.«

Kurz schien es, als müsse er selbst sich erst einmal zurechtfinden, dann aber sprudelte er los: »Unten am Ende des Kanals, noch vor Harry’s Dolci. Nummer 630.« Er hob einen Arm, wie um auf sein Zuhause zu zeigen, zuckte vor Schmerz heftig zusammen und stieß einen bellenden Husten aus. Wieder nahm er sein Taschentuch und wischte sich den Mund.

»Danke, Signor Vio«, sagte Grif‌foni.

Brunetti schaltete sich ein: »An einem Samstagabend kann man da nicht viel unternehmen, würde ich sagen.« Um klarzustellen, dass ihm die Gegend nicht unbekannt war, fügte er hinzu: »Sogar Palanca macht schon um zehn Uhr zu.«

»Nein, da nicht.«

Brunetti und Grif‌foni waren ein erprobtes Team, wenn es darum ging, Verdächtige oder überhaupt alle, die sie befragten, aufs Glatteis zu führen. Oft spielten sie ›guter Polizist, böser Polizist‹ und tauschten die Rollen manchmal mitten im Verhör. Abgesprochen hatten sie das nie, sie legten sich vorher auch keine Strategie zurecht, sondern suchten einfach nach Schwachstellen, in die sie mit dem Taktgefühl von Haien vorstießen.

»Auf der anderen Seite«, sagte Vio widerwillig.

»Vom Giudecca-Kanal?«, fragte Grif‌foni, als gäbe es noch einen anderen Kanal, den man von der Giudecca aus überqueren könne.

»Ja.«

»Und wo waren Sie da?«

Vio setzte zu einer Antwort an, aber Brunetti unterbrach ihn: »Haben Sie Bekannte getroffen?«

Vio klappte unwillkürlich den Mund zu, während er Schritt für Schritt seinen Weg durch die Stadt am Samstagabend durchging. Sie waren förmlich dabei, wie er jemandem begegnete, denn er riss erstaunt die Augen auf und sah sich um, als müsse die Person in der Nähe sein. Sein Atem ging schneller, seine Nervosität schien zu verhindern, dass er genug Sauerstoff bekam.

Vio nickte nur und machte eine abwehrende Handbewegung.

Brunetti ließ ihm Zeit, wieder zu Atem zu kommen, und fragte dann kühl: »Wen haben Sie getroffen?«

»Wen?«, setzte Brunetti nach.

Erst nach längerem Zögern sagte Vio: »Die Sekretärin meines Onkels.« Brunetti ließ sich seine Freude über diese Antwort nicht anmerken: Gefragt, ob und wo sie Vio gesehen habe, würde eine Frau eher die Wahrheit sagen. Nein, wies er seine stets mahnende innere Stimme zurecht: Nicht weil Frauen ehrlicher sind (auch wenn er selbst davon überzeugt war), sondern weil sie mehr Angst vor Ärger mit Behörden haben.

»Und wo waren Sie da?«, fragte Brunetti.

»Campo Santa Margherita«, antwortete Vio. »Da habe ich sie gesehen.«

»Ach, so weit? Zu Fuß?«, fragte Grif‌foni voller Mitgefühl, als sei die Entfernung zwischen den verschiedenen Haltestellen des Vaporetto Nummer zwei und dem Campo für sie so gewaltig wie die zwischen Venedig und Rom.

»Nein«, sagte Vio kaum hörbar.

»Oh«, zwitscherte sie. »Sie haben ein Boot genommen?«

»Ja.«

Ganz der Neuling, der stolz mit Insiderwissen prahlt, fragte sie: »Numero Due?« Brunetti konnte nur hoffen, sie werde es damit nicht übertreiben und auch noch fragen, ob er etwa erst in Santa Marta ausgestiegen sei.

Vio saß allein an seiner Seite des Tischs. Der Stuhl neben ihm war leer, und Pucetti stand nach wie vor schweigend fast zwei Meter von ihm entfernt. Und doch zog Vio ein Gesicht, als fühle er sich von allen Seiten umzingelt. Als säße er in der Falle.

Er senkte den Kopf und sprach zur Tischplatte.

Der junge Mann murmelte etwas.

Lachend wiederholte sie: »Tut mir leid, ich habe Sie immer noch nicht verstanden.«

Er blickte auf und sah zu ihr hin, neben ihr der unerschütterliche Brunetti. Er presste die Lippen aufeinander und stieß einen Laut hervor. Seine Finger schlossen sich, bis auf dem Tisch zwei Fäuste lagen.

Er kniff die Augen zu, riss sie auf, schloss sie wieder. Das Summen wurde immer lauter.

Endlich öffnete er die Augen wieder und wandte sich zu Brunetti. Er spreizte die Finger und drückte die Hände flach auf den Tisch, wie, um daraus Kraft zu schöpfen. »Ich habe …«, begann er, stemmte sich aber plötzlich hoch und drehte sich um, als wollte er die Flucht ergreifen. Dabei blieb er mit dem Fuß am Stuhlbein hängen, um ihn freizubekommen, machte er eine ruckartige Bewegung, einmal, zweimal, ohne zu begreifen, was ihn da festhielt. In dem Moment, als er den Fuß endlich losbekam, krümmte sich sein ganzer Körper zusammen.

Er stöhnte auf, stöhnte noch einmal, als traktierten ihn die anderen im Raum mit scharfen Gegenständen. Er krachte an den Tisch, suchte vergeblich nach einem Halt und sank, noch lauter stöhnend, zu Boden.

Plötzlich, als sei das alles noch nicht genug, begann er, fürchterlich zu husten. Gelähmt vor Entsetzen, sahen die anderen einen dünnen Faden blutigen Speichels aus seinem Mund rinnen, dann brach er vollständig zusammen.