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Im Gerichtssaal hatte sich Stille ausgebreitet und die Worte des Richters gingen in dem leisen Summen unter, das in Max Ruperts Ohren dröhnte. Max streckte die Hand nach seinem Wasserglas aus, einem Becher aus gewachster Pappe auf dem Geländer des Zeugenstands. Er fühlte sich leicht an, weil er leer war. Er erinnerte sich gar nicht daran, das Wasser ausgetrunken zu haben. Er hielt inne, den Becher schon auf halbem Weg zum Mund, und war sich nicht sicher, was er nun machen sollte. Einfach so tun, als nähme er einen Schluck? Den Becher auf das Geländer zurückstellen?
Und es war so still; wie war das möglich in einem Gerichtssaal voller Menschen? So still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen und seinen Zorn gegen seine Trommelfelle hämmern hörte. Seine Fingerspitzen prickelten davon. Er bemühte sich, seinen Gesichtsausdruck frei von jeglicher Emotion zu halten. Die Geschworenen würden sein Gesicht betrachten, während die Echos des Kreuzverhörs in ihren Köpfen umherschwirrten und sich in ihrer Erinnerung festsetzten. Sieh mich an, Sanden, brüllte Max in seinem Kopf, und die Worte hämmerten wie ein Schlosserhammer auf Stahl. Sieh mir in die Augen, du Hurensohn. Mit schierer Willenskraft wollte er den Anwalt dazu bewegen, seinen Kopf zu heben, aber Boady Sanden hielt den Blick auf den gelben Schreibblock neben seinem Ellbogen geheftet.
Max atmete langsam und unauffällig ein, versuchte sich zu entspannen. Er wollte nicht, dass die Geschworenen die Gefühle sahen, die sich unbedingt Bahn brechen wollten. Er sah den Becher in seiner halb erhobenen Hand. Einen Augenblick lang hatte er den ganz vergessen. Er hob den leeren Becher noch ein Stück höher, kippte ihn zu sich, um ganz sicherzugehen, dass er tatsächlich völlig leer war; kein einziger Tropfen, der seine trockene Kehle benetzen konnte. Dennoch tat er so, als würde er einen Schluck nehmen, und stellte den Becher dann sacht wieder auf dem Geländer ab.
»Sie können den Zeugenstand jetzt verlassen, Detective Rupert«, sagte Richter Ransom. Rupert hörte eine leichte Schärfe in der Stimme des Richters – es war der Tonfall eines Mannes, der sich gerade wiederholen musste.
Max erhob sich, nahm seine Akte und verließ den Zeugenstand mit einem kurzen Blick auf die 14 Geschworenen, als er an ihnen vorbeiging. Nur einer, ein Ersatzmann, erwiderte seinen Blick. Als er den Anwaltstisch passierte, starrte Max auf den Verteidiger hinab. Boady Sanden war sein Freund – nein, nicht sein Freund, jetzt nicht mehr.
Sanden schaute weiterhin auf den gelben Block vor sich. Er tat so, als würde er etwas aufschreiben, aber Max konnte sehen, dass der Stift des Mannes nur Kreise und Schlaufen auf den Rand des Blattes malte. Max wollte, dass Boady aufsah, wenn er vorbeiging. Er wollte, dass Boady wusste, dass Grenzen überschritten worden waren und dass das die Verbindung, die sie beide einst hatten, für immer gekappt hatte. Aber Boady Sanden sah kein einziges Mal auf.
Max verließ den Gerichtssaal. Sein Daumennagel stach in die Falte der Ermittlungsakte in seiner Hand. Er fand einen leeren Besprechungsraum, der etwa die Größe einer Gefängniszelle hatte. Hier fütterten Anwälte ihre Klienten mit falschen Hoffnungen; hier klebte Verzweiflung an den Wänden, dick wie altes Bratfett in einer Imbissbude. Er breitete seine Hände auf der Tischplatte aus und fühlte, wie das kalte Metall den Schweiß seiner Handflächen eiskalt werden ließ. Er wartete, bis sein Herz nicht mehr ganz so heftig schlug, und betrachtete das leichte Zittern, das seine Finger zucken ließ. Wut? Auf jeden Fall. Beschämung? Vielleicht auch ein bisschen. Aber das Zittern hatte noch einen anderen Grund. Und der beeinträchtigte sein Gleichgewicht und fühlte sich schwer nach Zweifel an.
Seit Monaten trug Max den Fall Pruitt mit sich herum. Dessen Abbild starrte ihm aus seinem Spiegel entgegen, sein Geruch durchzog die Luft, die er atmete, und sein grober Umriss umhüllte seine Schultern, wenn er abends einschlief. Er hatte diese Ermittlung mit Leben gefüllt, sie auf eine Art zum Leben erweckt, die ihr ein Dasein, eine Gegenwart in dieser Welt verschafft hatte. Und diese Gegenwart hatte er an seiner Seite gespürt, als er sich in den Zeugenstand gesetzt hatte. Aber als er ihn wieder verließ, verließ er ihn allein.
Sanden hatte ihm ganz schön zugesetzt. Er hatte Max aussehen lassen, als hätte er Ben Pruitt von Anfang an im Visier gehabt und alle anderen möglichen Verdächtigen von vornherein ausgeschlossen. Aber hatte er das wirklich?
Max schlug die Ermittlungsakte auf und begann, die Berichte zu sichten. Er suchte nach dem Anfang, nach dem Tag, an dem sie die Leiche gefunden hatten. Aber dann klappte er die Akte wieder zu. Er brauchte keine Notizen, um zu jenem Morgen zurückzukehren. Er erinnerte sich nur allzu gut an jenen Morgen. Es war ein kaputter Morgen, zerrissen von den Erinnerungen, die ihn jedes Jahr am Todestag seiner Frau heimsuchten.