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Auf dem Weg zurück nach Kenwood dachte Max über das letzte Mal nach, als er Ben Pruitt gesehen hatte. Das war vor zwei Jahren gewesen, in einem kleinen Besprechungsraum des Gremiums für berufliche Verantwortung des Bundesstaates Minnesota. Pruitts Disziplinaranhörung dauerte nur wenig mehr als eine Stunde, aber der Weg dorthin hatte beinahe ein ganzes Jahr gedauert.
Alles begann mit dem Prozess gegen einen Mann namens Harold Carlson, einen Dachdecker mit eigener Firma, der seiner Freundin mit einem Lattenhammer den Schädel eingeschlagen hatte. Die Tatwaffe mit ihrem Hammerkopf auf der einen und der kleinen Axt auf der anderen Seite schien besonders grausam. Ihr Vergehen bestand darin, einen anderen Mann geküsst zu haben, und zwar einen von Carlsons Angestellten, der natürlich auch so einen Hammer besaß. Carlson trat in den Zeugenstand und schwor, er habe sie nicht einmal angefasst. Er habe keine Ahnung, woher die tiefen Abschürfungen an ihren Armen und Beinen kamen oder die anderen Verletzungen, die sie erlitten haben musste, als man sie aus einem fahrenden Auto geworfen hatte.
Ein Autofahrer hatte die verkrümmte Leiche der Frau am Straßenrand entdeckt, und noch vor Sonnenaufgang führte die Spur des Verdachts Max zu Harold Carlson.
Max fand den Mann schlafend auf der Couch in seinem Zuhause. Der Gestank von hartem Fusel drang ihm aus allen Poren. Max fand auch den Lattenhammer, an dem Haare und Blut der Freundin klebten. Er lag offen sichtbar auf der Sitzfläche von Carlsons Pick-up. Max war allein gewesen, als er den Hammer gefunden hatte, nachdem eine der Technikerinnen von der Spurensicherung an dem Fahrzeug vorbeimarschiert war, ohne ihn zu bemerken. Beide Seiten wussten, dass der Fall von Max’ Aussage über das Auffinden des Hammers abhing.
Im Kreuzverhör nahm Carlsons Anwalt Ben Pruitt Max in die Mangel und unterstellte ihm, den Hammer an der Straße entdeckt zu haben, wo auch die Leiche gefunden worden war. Pruitt beschuldigte Max, den Hammer dann in Carlsons Truck abgelegt zu haben. Pruitts Fragen zielten darauf ab klarzustellen, dass Max Gelegenheit hatte, den Hammer dort zu platzieren: Er war am Fundort der Leiche gewesen und
es hatte unbeobachtete Momente gegeben, sodass er den Hammer in seinen Wagen geschmuggelt haben könnte. Er war allein gewesen, als er behauptete, den Hammer im Truck des Verdächtigen gefunden zu haben, während eine Beamtin der Spurensicherung, die dazu ausgebildet war, Mordwaffen zu finden und zu identifizieren, vorbeigegangen war, ohne den großen, silberfarbenen Hammer zu bemerken. Max wehrte die Fragen mit seiner Ehrlichkeit ab. Es war genau so gewesen, wie er gesagt hatte, und es gab keinen Grund, sich darüber hinaus zu erklären.
Aber dann bat Pruitt um Erlaubnis, sich dem Zeugen zu nähern. Und seiner Bitte wurde stattgegeben. Er hielt ein einseitiges Dokument in der Hand, und als er auf den Zeugenstand zutrat, sprach er deutlich und mit lauter Stimme, damit ihn alle Geschworenen hören konnten.
»Ich zeige Ihnen jetzt Beweisstück 42 der Verteidigung. Erkennen Sie dieses Dokument wieder?«
Max las sich den Schrieb kurz durch und antwortete dann: »Ich habe dieses Dokument noch nie gesehen.«
»Sie erinnern sich nicht daran, vor gerade einmal zwei Jahren von Ihren Vorgesetzten eine Verwarnung wegen Fälschung von Beweisen erhalten zu haben?«
Max sah zum stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt hinüber und fragte sich, warum der Mann nicht aufgesprungen war, um Einspruch zu erheben.
Pruitt fuhr fort. »Fälschung oder Verlegung von Beweisstücken ist ein ernsthaftes Vergehen für einen Detective.«
Max blickte Pruitt wütend an und hätte ihm am liebsten mit seinem gefälschten Dokument das Maul gestopft. »Mr. Pruitt, ich habe dieses Dokument noch nie gesehen, weil es bisher gar nicht existiert hat. Ich bin niemals verwarnt …«
Endlich stand der Vertreter der Anklage auf und rief: »Einspruch, Euer Ehren. Die Grundlage wurde ebenso wenig wie die Echtheit bestätigt. Dieses Dokument wurde nie offengelegt …«
»Zum Richtertisch! Sofort«, befahl der Richter. Beide Anwälte kamen zu ihm. Dann drückte er einen Knopf, der dafür sorgte, dass der Gerichtssaal von weißem Rauschen erfüllt wurde, sodass die Besprechung am Richtertisch von den Geschworenen nicht mit angehört werden konnte. Aber trotz dieser Maßnahme konnte Max einzelne Wörter oder Sätze verstehen, als die Männer sich hitziger stritten.
»Wir sind mitten im Kreuzverhör, da muss ich nichts offenlegen.«
»Das Dokument kann nur eine Fälschung sein. Detective Rupert hat gesagt, dass er es noch nie zuvor gesehen hat.«
»Detective Rupert ist ein gerissener Lügner.«
Bei dieser letzten Behauptung grätschte der Richter dazwischen und zeigte mit dem Finger auf Pruitt. Max konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sein zornrotes Gesicht sprach Bände. Nachdem er beide Anwälte auf ihren jeweiligen Platz zurückgeschickt hatte, instruierte er die Geschworenen, Beweisstück 42 und Pruitts dazugehörige Aussagen zu ignorieren. Er forderte sie auf, Pruitts Behauptung, dass Max wegen Fälschung von Beweisen verwarnt worden war, zu vergessen. Und indem er sie bat, diesen Punkt außer Betracht zu lassen, sorgte er dafür, dass Pruitts Worte in den Gehirnen eines jeden Geschworenen hängen blieben.
Am Ende von Max’ Zeugenaussage wurde die Verhandlung vertagt. Während der Unterbrechung überzeugte Max den Staatsanwalt, den Richter dazu zu bringen, dass er Pruitt anwies, dem Staat eine Kopie von Beweisstück 42 vorzulegen. Pruitt hielt dagegen, er sei nicht verpflichtet, das Dokument herauszugeben, weil es nicht bereits im Vorfeld als Beweismittel zugelassen gewesen war. Der Richter war nicht in der Stimmung, sich solche Ausflüchte bieten zu lassen, und der Staat bekam eine Kopie des Dokuments.
Beweisstück 42 erwies sich als mit großer Sorgfalt erstellte Fälschung einer schriftlichen Verwarnung, die bestätigte, dass Detective Max Rupert überführt worden war, eine Spritze in die Handtasche einer Frau geschmuggelt zu haben, deren Mitbewohnerin an einer Überdosis Heroin gestorben war. Diesen Fall hatte es nie gegeben. Die schriftliche Verwarnung war die Schöpfung einer verzweifelten Fantasie. Die Frage war, wessen Fantasie?
Bei Pruitts Disziplinaranhörung sagte dieser aus, dass sein Untersuchungsbeamter ihm das Dokument als Ergebnis der üblichen Hintergrundrecherche über Detective Rupert übergeben hatte. Er äußerte auch die Vermutung, dass sein Klient, der Dachdecker, den Ermittlungsbeamten bestochen haben musste, das Dokument zu fälschen.
Der Ermittler leugnete das, stand aber selbst zu diesem Zeitpunkt vor einem Ausschuss, der über seine Lizenz entscheiden musste. Schlussendlich entzog das Gremium für berufliche Verantwortung Pruitt seine Anwaltslizenz für 60 Tage und sprach eine öffentliche Rüge
aus. Das Gremium kam zu dem Schluss, dass Pruitt wusste, dass es sich bei dem Dokument um eine Fälschung handelte, oder es zumindest hätte wissen sollen. Man rügte ihn für die Verletzung seiner Sorgfaltspflicht, weil er die Echtheit des Dokuments nicht geprüft hatte, bevor er es vor Gericht präsentierte. Sein Handeln wurde letztlich als Täuschung des Gerichts eingestuft.
Pruitts Rüge war öffentlich und schaffte es daher in den Wirtschaftsteil sowohl der Minneapolis Star Tribune
als auch des St. Paul Pioneer Press Dispatch
. Max lächelte, als er die Artikel las. Er rechnete damit, dass die Zeitungsberichte die Karriere des Anwalts beenden würden, aber tatsächlich schienen sie den gegenteiligen Effekt zu haben.
Und nun war Pruitts Ehefrau nackt und tot auf einem Parkplatz in Kenwood gefunden worden, und in Max’ Hirn formte sich eine Theorie.