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Manch einer würde das Haus der Pruitts vielleicht als Villa bezeichnen, allerdings galt das nicht für Menschen, die in einer echten Villa lebten. Es war ein großer, eckiger Kasten, der aussah, als wäre er aus einem einzigen, riesigen Stein gehauen, und stand auf einem Eckgrundstück, durch eine Böschungsmauer über die Straße erhoben, sodass der Anschein entstand, das Haus throne wie eine Trophäe auf einem Podest. Pruitt hatte auf Max nicht den Eindruck gemacht, als wäre er ein Anwalt von solchem Kaliber, dass er sich ein Haus wie dieses leisten konnte.
Niki stand vor der Haustür, neben ihr ein uniformierter Beamter. Zwei weitere Polizisten, ein Mann und eine Frau, standen auf dem Gehweg am Fuß der Treppe, die in die Böschungsmauer eingelassen war. Ein weiterer erschien gleich nach Max. Der winkte ihnen, ihm die Stufen hinauf zu Niki zu folgen.
»Ich habe bereits geklingelt und an die Tür geklopft. Es macht niemand auf.«
Max wandte sich der kleinen Gruppe uniformierter Beamter zu. »In Ordnung, wir sehen hier nur nach dem Rechten. Wir haben heute früh eine Leiche gefunden und glauben, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Wir haben das Opfer als Jennavieve Pruitt identifiziert. Und dies ist ihr Haus. Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss, also geht es jetzt erst einmal darum sicherzustellen, dass es keine weiteren Opfer gibt, keine Familienmitglieder, die eventuell unsere Hilfe brauchen. Kein Durchwühlen von Schubladen oder Schränken, wir suchen nur nach Toten oder Verletzten. Wenn ihr sonst irgendetwas bemerkt, ruft ihr Niki oder mich hinzu, verstanden?«
Die Beamten nickten einhellig.
»Ihr beide«, sagte Max und zeigte auf zwei von ihnen, »geht hintenherum und überprüft die Garage und alle weiteren Anbauten oder Gartenhäuschen.« Dann wandte er sich nacheinander an die beiden anderen Uniformierten. »Sie gehen mit Detective Vang und Sie kommen mit mir.«
Alle zogen ihre Waffen. Max drehte den Türknauf, und die Tür ging mit einem Klicken auf. Unverschlossen.
»Benjamin Pruitt!«, rief Max laut ins Haus. »Hier ist Detective Max
Rupert von der Kriminalpolizei Minneapolis! Wir kommen jetzt rein! Mr. Pruitt, sind Sie hier?« Max betrat die Eingangshalle und wandte sich nach links, den uniformierten Beamten hinter sich. Niki wandte sich nach rechts.
»Mr. Pruitt, hier ist die Polizei!«, rief sie nun auch. »Wenn Sie hier sind, melden Sie sich. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen!«
Max’ Weg führte ihn in ein Arbeitszimmer, einen Raum mit mahagonivertäfelten Wänden und 3,70 Meter hohen Decken – ein Eckzimmer mit Gemälden an der Wand, deren Sujets verschwommen wirkten, weswegen Max das Werk eines Impressionisten erkannte. Jenni hatte diese Art Gemälde innig geliebt, aber er hatte das nie wirklich verstanden.
An einer anderen Wand erblickte Max eine Reihe von Familienfotos, darunter auch welche, auf denen Pruitt mit Jennavieve zu sehen war. Eines war einem Artikel der Minneapolis Star Tribune
entnommen und zeigte Ben und Jennavieve nebeneinander. Die Bildunterschrift identifizierte das Paar sowie eine dritte Person, ihre Tochter Emma. Max hatte das Mädchen zunächst gar nicht bemerkt: Sie war etwa acht oder neun Jahre alt und spähte hinter dem schwarzen Abendkleid ihrer Mutter hervor, biss sich schüchtern auf die Unterlippe.
»Sie haben eine Tochter«, brüllte Max Niki zu. »Ihr Name ist Emma.«
Max durchquerte das Arbeitszimmer und betrat eine Art Abstellraum oder Garderobe mit Windfang zur hinteren Veranda. Hier standen ordentlich aufgereiht drei Paar Gummistiefel, unbenutzte Regenjacken hingen an Kleiderhaken und der Duft von Zedernholz und Nelken stieg von einer Schale Potpourri auf. Alles an seinem Platz.
Vor dem Betreten jedes Zimmers kündigte Max weiterhin lauthals seine Gegenwart an, und Niki machte es auf der anderen Seite des Hauses genauso. Von der Garderobe ging es weiter in einen Vorratsraum, der üppig mit Konserven und anderen haltbaren Lebensmitteln ausgestattet war. Alles war nach Warengruppen, Inhalt und Größe ordentlich sortiert. Max ging durch den Vorratsraum und betrat die Küche zum selben Zeitpunkt, als Niki vom Esszimmer gegenüber hereinkam.
»Irgendwas gefunden?«
Niki schüttelte den Kopf und öffnete die letzte Tür, die sie noch nicht überprüft hatten. Sie führte in einen feucht wirkenden Keller hinab. Niki rief nach unten: »Mr. Pruitt? Emma? Hier ist die Polizei. Wir kommen jetzt runter.«
Max winkte seinem Streifenpolizisten, ihm zurück in die Eingangshalle und zur Treppe zu folgen, die nach oben führte. Sie nahmen immer zwei Stufen auf einmal.
Das erste Zimmer, das sie betraten, war in eine Abstellkammer verwandelt worden und stand voll mit Kisten und Weihnachtsschmuck und ausrangierten Fitnessgeräten. Der Beamte ging zum Wandschrank und spähte hinein, schüttelte dann zu Max gewandt den Kopf.
Auf der anderen Seite des Flurs fand Max Emmas Zimmer. Die Wände waren in typischen Kleinmädchenfarben gestrichen und hier stand ein Himmelbett, dessen Bettwäsche mit den Sternen und Pferden das gleiche Muster trug wie die Decke, in die ihre Mutter auf dem Parkplatz gewickelt gewesen war. Wer auch immer Mrs. Pruitt umgebracht hatte, hatte Emmas Tagesdecke benutzt, um sie aus dem Haus zu schaffen.
Max schaute sich im Zimmer um. Emma spielte Fußball und hatte schon vier Trophäen gewonnen, die in einer Ecke auf ihrer Kommode standen. Sie hatte Bilder von ihrer Mutter und ihrem Vater an die Wand über ihrem Bett gepinnt, die an einem warmen Strand aufgenommen worden waren, mit einem leuchtend blauen Ozean im Hintergrund. Dann gab es noch einige Fotos, die sie und ihren Vater beim Reiten in einem Dschungel zeigten. Neben den Pokalen auf der Kommode stand ein gerahmtes, 20 mal 25 Zentimeter großes Foto von Emma, offenbar ein Schulporträt.
Das Bett dieses kleinen Mädchens stand jetzt mindestens mit einem Mord in Verbindung, aber es war ebenso gut möglich, dass er es auch mit einem verschwundenen Kind zu tun hatte. Es gab ausreichend Anlass, eine Vermisstenanzeige herauszugeben, auch an die Medien.
Max löste die Verriegelung des Bilderrahmens und ließ das Foto herausgleiten.
Am Ende des Flurs fanden sie das Schlafzimmer und damit auch den Tatort. Links vom Ehebett war ein Bogen aus Blutspritzern an der Wand zu sehen, und auch die Erinnerungsstücke auf dem Nachttisch waren besudelt. Der Bogen endete in der Mitte des hohen Kopfteils des Bettes im Amish-Stil, das abgezogen worden war. In der Mitte der nackten Matratze lag ein halb gefaltetes, halb zusammengeknülltes Handtuch. Max zog die Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche, zog sie über und hob eine Ecke des Handtuchs an, unter dem sich ein Blutfleck verbarg, der so groß wie eine Servierplatte für einen Truthahn war.
Max bedeutete dem Polizisten in seiner Begleitung mit einer Handbewegung, still dazustehen und sich nicht zu bewegen, während er
das angrenzende Badezimmer und den begehbaren Kleiderschrank überprüfte. Er machte vorsichtige Schritte, um nichts durcheinanderzubringen, und bewegte sich nur so weit, wie es unbedingt notwendig war, um sicherzugehen, dass es hier keine weiteren Leichen gab. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief Niki an.
»Irgendwas im Keller?«
»Alles an seinem Platz.«
»Komm rauf zu mir ins Schlafzimmer. Ich habe unseren Tatort gefunden.«
Max wies den Beamten neben sich an, nach unten zu gehen und nach den beiden Kollegen zu sehen, die sich draußen umsahen. »Sagen Sie ihnen, wenn sie mit der Suche nach Leichen fertig sind, sollen sie das Grundstück sichern. Bleiben Sie an Ort und Stelle und warten Sie, bis wir einen Durchsuchungsbeschluss haben.«
Als Niki das Zimmer betrat, zeigte Max auf die ersten Blutspuren auf dem Teppich, zwischen dem Schlafzimmer und dem angrenzenden Badezimmer. »Hier fängt es an. Ich glaube, deine Theorie mit der Dusche stimmt. Das Blut scheint eine Spur hinterlassen zu haben, als wäre das Opfer hier erstochen und dann auf das Bett geworfen worden, wo es verblutet ist. Die Tagesdecke, in die das Opfer gewickelt war, kam vom Bett der Tochter. Das Zimmer ist den Flur runter.«
»Und wo sind dann Mann und Tochter jetzt?«
»Ich habe eine Theorie, aber ich bin kein großer Fan von Pruitt, also möchte ich kein allzu vorschnelles Urteil fällen. Wir brauchen einen Durchsuchungsbeschluss.«
Niki schaute sich im Zimmer um, als machte sie sich im Kopf Notizen, was im Antrag wegen begründeten Verdachts stehen sollte, dann nickte sie. »Ich kümmere mich darum.«
Max reichte ihr das Foto von Emma. »Und gib eine Vermisstenanzeige an die Medien raus. Nehmen wir an, dass Pruitt das Mädchen bei sich hat und auf der Flucht ist.«
»Er bringt seine Frau um und verschwindet mit dem gemeinsamen Kind?«
»Zu diesem Zeitpunkt ist das eine ebenso gute Theorie wie jede andere.«
»Aber wieso dann die Tagesdecke? Wieso schafft er die Leiche zum Parkplatz dieser Buchhandlung?«
»Das weiß ich nicht. Aber am ehesten würde ich sagen, entweder hat
Pruitt seine Frau getötet und ist mit Emma auf der Flucht, oder er hat seine Frau nicht getötet und die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine weitere Leiche finden, steigt damit immens.«