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Max eilte die Treppe hinunter, hielt an der Haustür kurz inne, um sich Latexhandschuhe und Überzieher auszuziehen. Am Fuß der Außentreppe stand ein kleines Mädchen am Straßenrand und sprach mit der Polizistin. Max atmete ein paarmal tief durch, weil er das Kind nicht verängstigen wollte, und dann trat er hinaus und ging die Stufen hinunter.
Emma sah aus wie auf dem Schulfoto, mit rotblonden Haaren und einem ordentlich geschnittenen Pony, dünnen Armen und Beinen, schlaksig und schüchtern. Sie blickte zwischen dem Absperrband und der Polizistin hin und her, bis sie Max die Treppe herunterkommen sah. Dann wandte sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu.
»Hi, bist du Emma?«
Das Mädchen nickte, sagte aber kein Wort.
»Ich bin Max. Ich bin Polizist.« Er schob seine Jacke zur Seite, um ihr die goldglänzende Marke an seinem Gürtel zu zeigen. »Wie geht es dir?«
Emma zuckte die Achseln und schaute wieder auf das Absperrband hinter ihm.
»Wir sind hier, um uns mit deinem Vater zu treffen. Er hat sich Sorgen um dich gemacht.«
»Er ist in Chicago«, erklärte sie.
»Ich weiß. Ich habe mit ihm telefoniert. Er wusste nicht, wo du warst, also hat er uns angerufen. Wo kommst du denn jetzt gerade her?«
Emma zeigte die Straße hinauf und erwiderte: »Von Catie.«
»Wohnt Catie in dieser Richtung?«
Emma nickte.
»Ist Catie eine Erwachsene oder eine Freundin von dir?«
»Eine Freundin.« Emmas Blick wanderte erneut von Max zu der Polizistin und dann zum Haus und dem, was dort vorgehen mochte. »Wo ist meine Mom?«
»Weißt du, ob Caties Mutter zu Hause ist? Ich würde gern mit ihr sprechen. Könntest du mir zeigen, wo sie wohnt?«
Emma sah zur Polizistin hinüber und senkte dann den Kopf. »Ich soll nicht mit Fremden reden.«
Die uniformierte Beamtin ging auf ein Knie hinunter, um auf Augenhöhe mit Emma zu sein. »Und das ist auch richtig so, Süße. Es ist
wichtig, dass du vorsichtig bist, aber wir sind von der Polizei. Wir beschützen kleine Mädchen wie dich.«
Max hatte die Polizistin schon öfter gesehen, erinnerte sich aber gerade nicht an ihren Namen, also warf er einen Blick auf ihr Namensschild. Sandra Percell. »Emma, wäre es dir lieber, wenn Officer Percell uns begleiten würde?«
Emma nickte.
»Okay. Dann zeig uns doch mal, wo Catie wohnt.«
Emma setzte sich in Bewegung und marschierte in die Richtung voraus, in die sie zuvor gezeigt hatte. Beim Gehen schrieb Max eine SMS an Ben Pruitt. Emma geht es gut. Sie war bei einer Nachbarin.
Zwei Blocks weiter kamen sie an ein Gartentor. Das Haus dahinter sah wie die erwachsene Version eines Puppenhäuschens aus. Zwei blau verkleidete Stockwerke mit weißen Bordüren, darüber ein Dach aus Zedernschindeln. Das Ganze wurde von einem kleinen Türmchen gekrönt. Emma führte sie zur Eingangstür und Max drückte auf die Klingel. Die Frau, die daraufhin öffnete, erstarrte mitten in der Bewegung, während ihr Gesicht einen verängstigten Ausdruck annahm.
»Ach du meine Güte. Ist etwas passiert?« Die Frau blickte zwischen Max und Officer Percell hin und her.
»Es ist alles in Ordnung, Ma’am. Wäre es in Ordnung, wenn Emma noch eine Weile hierbliebe?«
»Natürlich.« Die Frau öffnete die Tür ein Stück weiter, damit Emma hereinkommen konnte. »Catie ist oben in ihrem Zimmer. Geh ruhig rauf.« Emma fing an, die Treppe hinaufzurennen, blieb aber kurz vor dem Absatz einen Moment stehen, um Max ein letztes Mal anzusehen. Ihr ausdrucksloses Gesicht konnte nicht verbergen, dass sie begriffen hatte, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie wusste es. Max konnte es in ihren Augen sehen. Sie wusste, dass er sie angelogen hatte. Max erwiderte ihren Blick ganze zwei oder drei Sekunden lang, bevor er seinen senkte und sie nach oben verschwand.
»Ich weiß, ich hätte Emma eigentlich nach Hause begleiten sollen«, sagte die Frau dann. »Aber sie ist zehn und ich dachte, das ist alt genug. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich babygesittet und alles, also dachte ich nicht, dass irgendwas passieren würde …«
»Ma’am, können wir kurz reden … irgendwo, wo uns keiner zuhören kann?«
»Oh … ja, sicher. Kommen Sie rein.«
Max nickte Percell zu, die sein Nicken erwiderte und sich umdrehte,
um zu Pruitts Haus zurückzukehren. Caties Mutter führte ihn durchs Haus und in den rückwärtigen Garten. Dort stand ein Pavillon, der im selben Blauton gestrichen war wie das Haus und von Blumenranken überwuchert war.
Sie betraten den Pavillon und setzten sich einander gegenüber.
»Ich bin Detective Max Rupert.« Er streckte die Hand aus und die Frau schüttelte sie.
»Ich bin Terry Kolander«, erwiderte sie. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Überhaupt nicht, Miss Kolander. Ich erzähle Ihnen jetzt einige Dinge, die Sie vorerst für sich behalten müssen. Können wir uns darauf verständigen?«
»Natürlich. Ich habe früher als Krankenschwester gearbeitet. Ich kenne mich mit Stillschweigen aus.«
»Sehr gut.« Max beugte sich auf seinem Stuhl vor, damit er leise sprechen konnte. »Hat Emma letzte Nacht hier geschlafen?«
»Ja.«
»Um welche Uhrzeit ist sie hergekommen?«
Terry dachte einen Augenblick lang nach. »Um kurz nach fünf. Jennavieve hat angerufen und gefragt, ob ich über Nacht auf Emma aufpassen könnte. Sie sagte, sie müssen sich um etwas kümmern. Ich habe natürlich Ja gesagt. Catie und Emma sind beste Freundinnen.«
»Hat Mrs. Pruitt gesagt, was sie gestern Abend vorhatte?«
Terry hob eine Hand an die Lippen. »Ist Jennavieve etwas zugestoßen?«
»War das eine geschäftliche Verabredung oder etwas Persönliches?«
»O nein. Ich meine, hm … ich glaube, sie hat es nicht erwähnt. Sie sagte lediglich … sie sagte ›Kannst du über Nacht auf Emma aufpassen? Ich muss …‹.« Terry runzelte die Stirn, als sie nachdachte. »›Ich muss mich um einige Dinge kümmern.‹ Das hat sie gesagt. Ich nahm an, dass es mit ihrer Stiftung zu tun hatte.«
»Ihrer Stiftung?«
»Ja. Jennavieve ist Direktorin einer Stiftung, die Sumpfgebiete renaturiert. Sie hat ständig abends Meetings und Besprechungen. Sie war auch erst kürzlich in der Zeitung, denn ihre Stiftung hat einen wichtigen Rechtsstreit gewonnen.« Terry hielt inne, als hätte sich ein neuer Gedanke in ihr Bewusstsein gedrängt. Sie suchte Max’ Blick. »Was ist geschehen? Warum sind Sie hier?«
»Wann haben Sie Mrs. Pruitt zum letzten Mal gesehen?«
»Detective Rupert, was ist Jennavieve zugestoßen?«
Max senkte den Kopf, denn er wusste, dass sie dieses Gespräch nicht fortführen würde, bis sie eine Antwort bekam. Er hob den Kopf wieder, sah ihr in die Augen und erklärte: »Wir haben heute früh eine Leiche gefunden. Wir glauben, dass es sich um Mrs. Pruitt handelt.«
Terry stieß den Atem aus und blickte rasch zum Haus hinüber, zu einem Fenster im oberen Stockwerk, wo zwei Mädchen standen und auf den Pavillon hinaussahen.
»Sie müssen jetzt Ruhe bewahren, Miss Kolander«, bat Max und gewann so ihre Aufmerksamkeit zurück. »Wir haben die Leiche noch nicht identifiziert und warten darauf, dass Mr. Pruitt aus Chicago zurückkommt. Ich hatte gehofft, Sie könnten auf Emma aufpassen, bis wir das erledigt haben.«
»Selbstverständlich.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Und Sie müssen sich verhalten, als wäre nichts geschehen. Wenn sich herausstellt, dass es sich um Mrs. Pruitt handelt, lassen wir ihren Vater entscheiden, wie er diese Tatsache seiner Tochter am besten beibringt.«
»Natürlich.« Terry fuhr sich mit den Nägeln unter den Augen entlang und wischte die einzelnen Tränen an den Augenwinkeln weg, wischte sich dann die Finger an ihren plissierten Shorts ab.
»Was können Sie mir über Mrs. Pruitt erzählen?«
Terry atmete kurz durch, um ihren inneren Aufruhr zu beruhigen, bevor sie antwortete. »Sie ist unglaublich. Ich weiß, dass sie aus reichem Hause stammt. Ihrer Familie gehören eine ganze Reihe Firmen. Ich glaube, sie haben den Großteil ihres Geldes mit Papierfabriken gemacht. Ihnen gehören sehr viel Land im Norden und eine Handvoll Papierfabriken. Aber die Leitung eines Konzerns liegt Jennavieve nicht. Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, sie ist eine einflussreiche Frau, Vorstandsmitglied im Minneapolis Club, eine wesentliche Spenderin der Treuhandgesellschaft für das Guthrie- und Hennepin-Theater. Sie engagiert sich in so ziemlich jeder wichtigen lokalen Hilfsorganisation, aber die Adler-Stiftung zur Erhaltung und zum Schutz von Sumpfgebieten war ihr Baby.«
»Adler?«
»Das ist ihr Mädchenname. Sie hat eine Menge Zeit in diese Stiftung gesteckt.«
»Und was ist mit Mr. Pruitt? Was wissen Sie über ihn?«
»Wir waren nicht sehr eng mit den Pruitts befreundet. Was nicht
heißen soll, dass wir sie nicht mochten. Menschen sind bloß häufig sehr beschäftigt. Man ist sich in der Nachbarschaft begegnet, sie schienen nett zu sein. Haben uns vor einigen Wochen besucht, am vierten Juli. Da laden wir jedes Jahr einige Leute ein. Keine große Feier, nur Steaks und etwas zu trinken.«
»Wie waren die beiden gelaunt, was meinen Sie?«
Terry verzog das Gesicht. Der typische Ausdruck einer Frau, die sich ihre Gedanken gemacht hat, aber unsicher ist, ob sie sie aussprechen soll.
»Alles, was Sie uns sagen können, könnte hilfreich sein«, sagte Max.
»Nun, es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten, aber als sie hier bei uns waren, ist mir aufgefallen, wie aufmerksam Ben mit Jennavieve umgegangen ist.«
»Und das war ungewöhnlich?«
»Ich weiß nicht, ob es ungewöhnlich war … Dazu kenne ich die beiden nicht gut genug. Er schien mir bloß einfach … ich weiß auch nicht … vielleicht wäre ›übertrieben charmant‹ der richtige Ausdruck. Er kann ein sehr charmanter Mann sein, keine Frage, aber an jenem Tag schwebte er quasi um sie herum wie Gene Kelly. Immer wieder fragte er Jennavieve, ob er ihr noch ein Glas einschenken sollte oder ob sie eine Serviette brauchte. Solche Sachen eben.«
»Und wie ging es Jennavieve?«
»Sie verhielt sich wie sonst auch immer. Sie ist die Ernsthafte von den beiden. Irgendwann fand Ben eine Oleanderblüte auf dem Rasen, die eins der Kinder gepflückt haben musste, und er brachte sie zum Tisch und steckte sie Jennavieve ins Haar. Ich sagte: ›War das nicht süß von ihm?‹ Und Jennavieve erwiderte: ›Er tut doch nur so.‹ Ich wusste nicht recht, wie ich das verstehen sollte. Wissen Sie, Jennavieve kann so knochentrocken sein. Ich war mir nicht sicher, ob sie einen Scherz machte oder nicht.«
Max’ Handy bimmelte mit einem Nachrichtenton und er warf einen Blick auf das Display. Eine SMS von Maggie Hightower. Ich fange mit der Obduktion an. Willst du dabei sein?
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Max. »Das muss ich kurz beantworten. Er schrieb Maggie zurück: Fang ruhig schon an, ich bin in Kürze da.
»Tut mir leid. Also denken Sie, die Pruitts hatten vielleicht Eheprobleme?«
»Nicht dass ich wüsste, aber wie schon gesagt, so nah standen wir uns nicht. Wenn die Kinder nicht völlig unzertrennlich wären, würden wir
die Pruitts wahrscheinlich kaum zu Gesicht bekommen.«
»Aber manchmal hört man ja auch etwas.«
Terry zuckte die Achseln. »Ich beteilige mich nicht an irgendwelchem Klatsch. Es gibt hier einige Nachbarn, die neugieriger sind als andere, aber ich will dieses Gerede gar nicht hören. Das wissen die Leute aber auch alle, deswegen kommen sie damit normalerweise nicht zu mir.«
»Wenn ich nun aber diese neugierigen Nachbarn befragen wollte, an wen müsste ich mich da wohl wenden?«
Terry schaute ihn missbilligend an. Sie hatte keine Ahnung, was für eine wichtige Rolle neugierige Nachbarn bei der Aufklärung von Verbrechen spielten. Max erwiderte ihren Blick und hob dann eine Augenbraue.
»Sie könnten mit Malena Gwin anfangen. Sie wohnt direkt gegenüber von den Pruitts. Sie steckt ihre Nase eigentlich in alles, was in der Gegend so vor sich geht.«
»Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen, Miss Kolander.« Max erhob sich.
Terry brachte ihn zur Tür und begleitete ihn durch den Vorgarten bis zum Tor. Dort hielt sie inne, um eine letzte ungestörte Frage zu stellen. »Was wird jetzt mit Emma geschehen?«
»Ihr Vater wird in Kürze hier sein. Wir können ihm Psychologen zur Seite stellen, die helfen können, Emma die Neuigkeiten schonend beizubringen. Aber das wird nicht leicht für die Kleine.«
»Sie ist sehr still und lieb. Sie wird es sehr schwernehmen.« Terry warf einen Blick über die Schulter zurück zum Haus. An den Fenstern stand niemand mehr. »Immerhin hat sie noch ihren Vater«, sagte sie.
Max erwiderte darauf nichts.