10
Max Rupert erinnerte sich noch an seine erste Obduktion. Der Geruch von Formaldehyd und verrottendem Fleisch war kaum zu bemerken gewesen, weil seine Sinne so sehr mit der sauren, beißenden Galle in seinem Rachen beschäftigt gewesen waren. Er hatte dem Mediziner dabei zugesehen, wie er Organe aus dem Körper eines toten Mannes geholt, sie untersucht, gewogen und schließlich in Glasgefäße gesteckt hatte. Der Pathologe hatte mit einer Effizienz gearbeitet, die von jahrelanger Erfahrung zeugte. Das hatte Max an damals erinnert, als er noch ein Kind war und seinem Vater zugesehen hatte, wie der den Vergaser ihres Dodge Dart austauschte. Keine überflüssige Bewegung. Alle Teile ordentlich auf dem Garagenboden aufgereiht, sodass nichts verloren ging oder durcheinandergeriet. Das Ganze hatte nichts mit Gefühlen zu tun, sondern war schlicht eine Aufgabe, die erledigt werden musste.
In den Jahren seit dieser ersten Obduktion hatte Max herausgefunden, dass er besser damit zurechtkam, einer Autopsie beizuwohnen, wenn er sich den Tag in der Garage seines Vaters vor Augen führte. Es waren Leichen, bloße Körper, keine Menschen. Sie hatten Teile, die herausgenommen werden mussten, die beschädigt worden waren, in denen manchmal das Geheimnis verborgen war, mit dessen Hilfe man den Mörder ausfindig machen konnte. Die Persönlichkeit, jeder Funke von Individualität und Wesen, der diesen Körpern einst innegewohnt hatte, war längst vergangen, entwichen mit dem letzten, stummen Atemzug.
Aber als Jenni gestorben war, zerbrach die filigrane Wand, die ihn von diesen Opfern trennte, in tausend scharfe Scherben. Er hatte der Autopsie seiner Frau natürlich nicht beigewohnt, aber jedes Mal, wenn er diesen Raum seither betrat, wusste er, dass sie dort gewesen war. Sie hatte auf dem Edelstahltisch gelegen. Man hatte ihr den Brustkorb aufgeschnitten – die Rippen, die Max gekitzelt hatte, wenn sie beide morgens faul im Bett liegen blieben. Sie hatten ihr das Herz aus der Brust geholt – nur eine Handvoll, ein toter Muskel. Wie viele Male in all den Jahren hatte er ihrem Herzschlag gelauscht, sein Ohr an ihrer Brust? Sie war von einem Mediziner seziert worden, für den das nur eine Aufgabe gewesen war, die erledigt werden musste. Die Hände, die sie aufgeschnitten hatten, wussten nicht, was für ein besonderer Mensch sie gewesen war. Wie sehr sie geliebt worden war. Sie hatten keinen Schimmer von der Größenordnung, die dieser Verlust für die Welt hatte. Für Max.
Jenni und er wollten Europa besuchen. Sie wollten ein Kind haben, im Zweifelsfall eins adoptieren oder Pflegeeltern werden. Sie wollten zusammen alt werden. Alles, worauf sie hinarbeiteten, hatten sie noch vor sich. An dem Tag, als sie starb, erfuhr Max am eigenen Leib, wie mörderisch das schiere Gewicht dieser Träume sein konnte. Alles endete so abrupt, dass es sich anfühlte, als wäre er in einen entgegenkommenden Zug gefahren. Und in den ersten Tagen direkt nach ihrem Tod gab es Momente, in denen er das Atmen einfach vergaß, und Phasen, in denen er sicher war, dass sein Herz jeden Augenblick zu schlagen aufhören würde.
Ihr Tod hatte ihn so getroffen, dass er auch die Fähigkeit verlor, die Leichen als solche zu sehen; als bloße Körper. Sie begannen sogar, ihn zu verfolgen. Er hörte ihr Flüstern im Wind, wenn der an seinem Ohr vorbeistrich. Ihr Spiegelbild nickte ihm aus schlammigen Pfützen oder schmutzigen Fensterscheiben zu. Sie richteten über ihn, wenn er nachts um seinen Schlaf kämpfte. Wie oft hatten sie ihn in seinen Träumen heimgesucht, mit schwarzen Nähten und grauen Augen. So hübsch oder gar wunderschön sie zu Lebzeiten auch gewesen sein mochten, Max erschienen sie genau so, wie er sie auf diesem Obduktionstisch gesehen hatte.
Max dankte Gott, dass er die Bilder von Jennis Leiche nie gesehen hatte. In diesem Fall war er der Ehemann, nicht der Ermittler. Es war ihm untersagt, sich in irgendeiner Form an der Untersuchung der Fahrerflucht zu beteiligen, aber das bedeutete nicht, dass er nichts darüber hörte. Es hielt ihn auch nicht davon ab, einen Blick in einige der Berichte zu werfen. Der verantwortliche Detective war ein Freund, der bereitwillig wegschaute, wenn Max sich die Akten ansah.
Aber die Fotos hatte er sich nicht angesehen. Das hätte er nicht über sich gebracht. Er hatte genug gelesen, um zu wissen, warum der Sarg bei der Beerdigung geschlossen blieb. Er wusste, warum sie anhand ihrer Zahnarztakten identifiziert werden musste. Ihr Tod war mehr als unschön gewesen, nicht mit dem sauberen, schnellen Aufprall zu vergleichen, den die Stuntleute immer wieder in Filmen darstellen. Der Wagen hatte Jenni erwischt und dann mitgeschleift, bevor er ihr das Leben genommen hatte. Dann war er davongerast und bis heute hatte niemand für ihren Tod bezahlt.
Jetzt lag der Leichnam von Jennavieve Pruitt auf dem Edelstahltisch in der Mitte des Raumes. Der Y-förmige Einschnitt, der von ihren Schultern bis hinab zu ihrem Becken ging, war bereits wieder vernäht. Ein weiterer Einschnitt, der noch offen lag, hatte die Seite ihres Halses geöffnet, wo die Stichwunde gewesen war. Eine Strähne ihrer Haare war ihr ins Gesicht gefallen, und Max musste gegen den Drang ankämpfen, sie ihr zurückzustreichen.
»Die Halswunde war die Todesursache«, verkündete Maggie von ihrem Platz am Computer. »Hat sowohl die Halsvene als auch die Schlagader durchtrennt.«
Max drehte sich zu ihr um, während er die ablenkenden Gedanken beiseiteschob. »Wir haben eine vorläufige Identifizierung der Leiche«, berichtete er. »Jennavieve Pruitt. Die Frau eines Strafverteidigers namens Ben Pruitt.«
»Ben Pruitt? Der Name kommt mit bekannt vor. Ich glaube, der hat mich schon mal ins Kreuzverhör genommen.« Sie wandte den Blick von ihrem Computerbildschirm ab, um genauer darüber nachzudenken. »Ja, wenn ich denselben Kerl meine, dann müsste er jetzt Mitte bis Ende 40 sein. Dunkles Haar, recht gut aussehend, solange er den Mund geschlossen hält?«
»Das ist er.«
»Und du verdächtigst ihn des Mordes?«
»Ich würde es ihm zutrauen. Er hat mal versucht, mich bei einem Fall ganz mies abzuziehen. Sagen wir einfach, dass es mir kaum schlaflose Nächte bereiten würde, wenn ich ihn ins Gefängnis schicken müsste. Hast du den Todeszeitpunkt bestimmen können?«
»Ich kann ihn relativ genau eingrenzen. Ich würde den Zeitpunkt auf ziemlich genau Mitternacht datieren, aber die Körpertemperatur gibt uns natürlich nur bedingt Auskunft, vor allem da wir nicht mit Sicherheit wissen, wann sie nach draußen gebracht wurde.«
»Was hat die Halswunde verursacht?«
»Eine Klinge.« Maggie wandte sich wieder dem Computer zu, klickte sich durch eine Reihe von Bildern von Organen, die entnommen und gewogen wurden, bis sie zu den Fotos vom Hals kam. »Ich habe die Wunde gesäubert, und wenn du dir diese Nahaufnahme anschaust, kannst du erkennen, dass der Einschnitt knapp vier Zentimeter lang ist. Und schau hier.« Sie nahm einen Bleistift und zeigte mit der Spitze auf die Enden des Schnitts. »Diese Klinge ist zweischneidig. Keine flache Seite.«
»Wie ein Dolch?«
»Ja, so was in der Art. Und der Mörder hat ihr die Klinge komplett in den Hals gerammt.« Maggie zeigte auf einige Punkte in der Größe des Radierers am hinteren Ende ihres Bleistifts, die zu beiden Seiten der Einstichstelle zu sehen waren. »Dieser Dolch hat eine Parierstange, die zur Klinge hin gebogen ist, beinahe wie ein Halbkreis. Die Spitzen der Stange haben diese Blutergüsse an ihrem Hals verursacht.«
Max zog sein Handy aus der Tasche und fand das Foto, das Bug ihm geschickt hatte. Es zeigte die kleine Vitrine, die sie im Schlafzimmer der Pruitts gefunden hatten. »Und was meinst du, wie lang die Klinge war?«
»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber sie war lang genug, um auf der anderen Halsseite wieder herauszukommen.« Maggie klickte weiter zu einem Bild, auf dem die linke Halsseite der Toten zu sehen war. Dort befand sich eine Schnittwunde, die ungefähr einen Zentimeter lang war.
Max zeigte ihr das Bild des Schaukastens.
Maggie verglich Bugs Maße mit ihren eigenen Berechnungen. »Der Einschnitt ist ein paar Millimeter länger und breiter als die Klinge, die ihr da habt, aber mit einer zweischneidigen Klinge schneidet man beim Eindringen ebenso wie beim Herausziehen. Die Länge der Klinge passt und die Spitzen der Parierstange passen haargenau zu den Blutergüssen an ihrem Hals. Ich würde sagen, wenn das nicht eure Tatwaffe ist, dann muss es ein ziemlich ähnlicher Dolch sein.«
»Sehr gut«, nickte Max. »Was hast du noch für mich?«
»Einige weitere ungewöhnliche Blutergüsse.« Maggie klickte sich wieder durch ihre Fotos, bis sie zu einer Reihe von Aufnahmen gelangte, die Jennavieve Pruitts Rücken zeigten.
»Siehst du? Hier.« Sie zog mit der Bleistiftspitze einen Kreis um den Schulterbereich der Toten. »Es ist ein bisschen schwer zu erkennen wegen der fortgeschrittenen Verfärbung, aber da ist definitiv ein Hämatom an ihrer rechten Schulter, und hier auf der Rückseite ihres linken Arms ebenso. Dann sind da noch diese Striemen wie Finger am Hinterkopf und Nacken. Man kann fast einen Handabdruck erkennen.«
Max betrachtete die Fotos und bewegte die Hände, um das Muster der Blutergüsse nachzuempfinden. Dann ging er auf ein Knie hinunter und schaute erneut zum Bildschirm hoch. »Wenn der Mörder sie festgehalten hat … wenn sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag und der Mörder sie so festgehalten hat, mit einem Knie auf ihrer rechten Schulter, eine Hand gegen ihren Hinterkopf gedrückt, die andere hielt ihren linken Arm fest … Würde das die Striemen erklären?«
Maggie ging die Fotos noch einmal durch und verglich sie mit Max’ Simulation. »Ich denke, das passt sogar sehr gut. Du glaubst, sie wurde aufs Bett gedrückt und festgehalten?«
»Wir haben den Tatort gefunden. Sie wurde nur einen oder zwei Meter vom Bett entfernt attackiert, aber dann fiel sie aufs Bett oder wurde gestoßen, und dort ist sie verblutet.«
»Und der Mörder hielt sie fest, während sie verblutete. Das würde erklären, wieso an der Decke, in der ihr sie gefunden habt, kaum Blut war.«
»Lassen sich auf der Haut eventuell Fingerabdrücke nehmen?«
»Wir können es versuchen, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass dabei etwas herauskommt.«
»Irgendwelche Anzeichen für sexuelle Gewalt?«
»Nichts Eindeutiges, nein. Wenn sie kürzlich Sex hatte, dann nur mit Kondom und nicht gewalttätig genug, um Spuren zu hinterlassen.«
»Was ist mit dem Mageninhalt?«
»Sie hatte Salat zum Abendessen … Ich schätze mal, ein spätes Abendessen … und Wein.«
»Sie hatte Wein im Magen?«
»Ich habe ihn nicht probiert, falls du das meinst, aber ich habe eine Probe zur toxikologischen Untersuchung geschickt.«
»Irgendwelche Anzeichen auf Verletzungen, die auf einen Kampf hindeuten würden?«
»Keine Blutergüsse außer denen, die ich dir gezeigt habe. Schulter, Arm, Nacken. Keine Hautzellen unter ihren Fingernägeln. Der Tod ist sehr schnell eingetreten. Wenn Halsvene und Schlagader durchtrennt wurden, hat sie innerhalb weniger Sekunden das Bewusstsein verloren.«
Max trat zum Tisch und betrachtete den Leichnam von Jennavieve Pruitt, den scharfen Kontrast zwischen kalter, weißer Haut und den schwarzen Zickzacklinien der Nähte, die ihre Brust und ihren Bauchraum zusammenhielten. Er betrachtete ihr Gesicht und war sich bewusst, dass es ihn verfolgen würde in jenen Momenten, da sich Schlaf und Wachheit in seinem Kopf die Waage hielten. Er wollte von diesem Gesicht heimgesucht werden. Er wollte, dass sie in diesen stillen, nächtlichen Augenblicken zu ihm sprach. Wenn Ben Pruitt seine Frau ermordet hatte, würde Max dafür sorgen, dass er für dieses Verbrechen bezahlen musste. Es war beileibe keine perfekte Gleichung, aber Max spürte eine gewisse Balance, einen Ausgleich bei dem Gedanken. Vielleicht würde er nie in der Lage sein, den Mörder seiner eigenen Frau zur Rechenschaft zu ziehen, aber dieser Mann hatte sein Glück verspielt. Er hatte seine Ehefrau umgebracht, eine Frau, die ihn liebte und ihm vertraute. Pruitt hatte das Geschenk weggeworfen, für das Max töten würde, wenn er es zurückbekommen könnte.
Wenn er Jennavieve Pruitt die Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte, die seiner eigenen Frau verwehrt geblieben war, würde sie ihm vielleicht helfen, wenigstens ein Stück weit Frieden zu finden. Er wusste, dass das eine Illusion, vielleicht sogar Wahnsinn war, aber tief im Innern hoffte er dennoch, es wäre so.