13
Das Haus der Pruitts wirkte kleiner, als Max Rupert zum zweiten Mal dort vorfuhr. Vielleicht lag es an dem leuchtend gelben Absperrband, das das gesamte Anwesen vorübergehend als Eigentum der Polizei auswies. Vielleicht lag es auch an dem gewohnten Anblick, Streifenwagen und Fahrzeuge der Spurensicherung, dazu die geübte, mechanische Effizienz der Labortechniker, die wie Heinzelmännchen über ihre Spuren gebeugt vor sich hin werkelten. Oder vielleicht war es der langsam Formen annehmende Gedanke, dass Ben Pruitt nicht länger der mächtige Herr dieses Hauses war, sondern ein Täter, den es zu verfolgen und zu überführen galt. Wie Wild, das vom Jäger in die Enge getrieben wird. Woran es auch liegen mochte, Max näherte sich dem Haus mit einem merkwürdig behaglichen Gefühl im Bauch.
An der offenen Tür blieb er stehen. Drinnen sah er Niki mit zusammengezogenen Knien auf der Treppe sitzen, sodass ihre Oberschenkel die Fläche bildeten, auf der sie das Klemmbrett mit der Liste der beschlagnahmten Gegenstände balancierte und diese ausfüllte. Ihre schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht und verbargen ihre Augen.
»Irgendwas gefunden, das uns weiterhilft?«, fragte Max.
»Keine Mordwaffe und kein Bettzeug. Wir haben einen Laptop und ein Handy gefunden. Beides scheint ihr zu gehören. Und wir haben seinen Computer aus dem Arbeitszimmer geholt und es versiegelt. Wie lief die Befragung?«
»Ganz toll … für ihn. Er hat seine Unschuld beteuert, sein Alibi dargelegt, nur das gesagt, was die Geschworenen ruhig hören dürfen oder sollen. Sobald ich angefangen habe, konkrete Fragen zu stellen, hat er mich beschuldigt, mich an ihm rächen zu wollen, und die Sache abgeblasen. Er hat es geschafft, dass nur seine Version auf Band ist und sonst gar nichts.«
»Ist sein Alibi stichfest?«
»Nein. Er hat keine Zeugen für die Zeit zwischen ungefähr halb sechs gestern Nachmittag und neun heute Morgen. Es dauert, wie lange … sechs oder sieben Stunden, um von hier nach Chicago zu fahren?«
»Vielleicht hat er die Route am Computer berechnet oder so was. Wir müssen seine Bürorechner ebenfalls beschlagnahmen. Er wird völlig ausrasten, wenn wir das tun. Glaubst du, wir haben den begründeten Verdacht, den wir dafür benötigen?«
»Ich weiß nicht. Wenn er hierher zurückgefahren ist, um seine Frau zu töten, dann brauchte er einen Wagen. Er hat gesagt, er habe beim Park and ride am Flughafen geparkt. Dort gibt es keine Kameras, aber er hatte sein Ticket. Wir können das mit deren Daten abgleichen. Wir können außerdem seine Kreditkarten überprüfen und schauen, ob er einen Flug zurück gebucht oder in Chicago einen Wagen angemietet hat, um zurückzufahren, aber ich nehme nicht an, dass wir etwas finden. Er ist nicht dumm.«
»Vielleicht hat er auch jemanden angeheuert, um es zu tun. Es extra so geplant, dass seine Frau ermordet wird, wenn er in Chicago ist.«
»Das ist eine Möglichkeit. Durch seine Kanzlei und seine Fälle dürfte er auf jeden Fall einige Kriminelle kennen, auch solche von entsprechendem Kaliber. Wenn es ein Auftragskiller war, hat vielleicht irgendjemand aus der Nachbarschaft etwas gesehen.«
Max drehte sich um und trat wieder aus dem Haus auf die Stufen an der Eingangstür. Dort blickte er die Straße hinauf und hinunter. Nachbarn, Passanten und Gaffer hatten sich in kleinen Grüppchen zusammengerottet, um sich auszutauschen und zu spekulieren, wieso diese kleine Armada aus Streifenwagen das Haus der Pruitts belagerte. Reporter schlichen um die Grüppchen herum und stellten zweifellos die üblichen Fragen, um griffigen Originalton für die Abendnachrichten zu bekommen. Direkt gegenüber erspähte Max eine Frau, die allein auf ihrer Veranda saß. Sie hielt eine Kaffeetasse in der Hand. Das musste Malena Gwin sein, Terry Kolanders Urteil zufolge die neugierige Nachbarin. Mit einem Nicken bedeutete er Niki, mit ihm zu kommen, und sie gingen gemeinsam über die Straße zu ihr hinüber.
Miss Gwin erhob sich, als die beiden Detectives die Stufen zu ihrer Veranda hinaufstiegen. Sie erinnerte Max an eine Schauspielerin, deren Namen er nicht kannte. Eines dieser Gesichter, die man hier und da in einer Sitcom oder einem Werbespot sah; bekannt genug, um wiedererkannt zu werden, aber nicht wirklich berühmt. Sie hatte dunkles Haar und ein jungenhaftes Gesicht – die Art Gesicht, das einen nicht auf den ersten Blick umhaute, aber im Gedächtnis blieb, weil es interessant war. Und attraktiv für ihr Alter, das er mindestens auf über 40 schätzte.
»Malena Gwin?«, vergewisserte sich Max.
»Ja, die bin ich.«
»Ich bin Detective Max Rupert und das ist meine Partnerin Detective Vang. Können wir kurz mit Ihnen sprechen?«
»Natürlich. Ist es wahr, dass Jennavieve Pruitt ermordet wurde?«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir hineingingen, sodass niemand mithören oder zusehen kann?«
Malena spähte über Max’ Schulter und erblickte einen Fotografen, der Bilder von ihnen dreien auf der Veranda schoss. Daraufhin ließ sie sie herein. Miss Gwins Haus war nicht annähernd so groß wie das der Pruitts, aber das bescheidene Äußere verbarg eine wahre Schatzkiste architektonischer Schönheit: holzvertäfelte Wände mit aufwendigem Kranzprofil, Fenstertüren aus Kirschholz und Buntglas, durch die Max die unteren Stufen einer Treppe sehen konnte, die ihn an die große Freitreppe im Film Titanic erinnerte, nur natürlich viel kleiner. Ein blaues Sofa mit Klauenfüßen stand gegenüber von zwei dazu passenden Sesseln. Malena nahm auf dem Sofa Platz, während Max und Niki sich in die Sessel setzten.
»Heute Morgen hat mich ein Reporter gefragt, wie gut ich Jennavieve kannte«, erklärte Malena. »Ich habe ihn gefragt, wieso er in der Vergangenheitsform von ihr sprach, und er sagte, Jennavieve Pruitt sei tot. Er meinte auch, seine Quelle habe ihm berichtet, sie sei ermordet worden. Ist das wahr?«
Max zog Notizblock und Stift heraus und lehnte sich vor. »Miss Gwin, ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen und ich hoffe, dass wir dieses Gespräch vorerst vertraulich behandeln können. Wir führen eine Untersuchung durch und es wäre uns eine Hilfe, wenn die Welt nicht gleich alle Details erfahren würde. Darf ich Sie also bitten, für sich zu behalten, worüber wir heute reden?«
»Selbstverständlich, Detective. Ich habe ganz sicher nicht den Wunsch, in die Nachrichten zu kommen. Ich habe diesem Reporter schon gesagt, er soll von meinem Grundstück verschwinden, und das werde ich ihm auch wieder sagen, falls er noch einmal auftaucht.«
»Das weiß ich zu schätzen«, erwiderte Max. »Um Ihre Frage zu beantworten, ja, Jennavieve Pruitt ist tot, aber wir haben noch keine bestätigte Todesursache.« Eine Lüge, aber es war ein notwendiger Bestandteil jeglicher Ermittlungen, manche Einzelheiten zunächst zurückzuhalten. »Sie wohnen direkt gegenüber von den Pruitts. Ich habe mich gefragt, wie gut Sie einander kennen.«
»Ich kenne … Ich kannte Jennavieve ein bisschen besser als Ben. Ich bin 2008 hierhergezogen. Das Haus gehört der Familie meines Mannes. Als seine Eltern gestorben sind, sind wir eingezogen.«
»Ist Ihr Mann da? Mit ihm würden wir ebenfalls gerne sprechen.«
»Mein Mann ist vor vier Jahren gestorben. Ich bin ganz allein.«
»Mein Beileid«, sagte Max.
Malena nickte gnädig. »Ich kenne Jennavieve und Ben jetzt seit acht Jahren. Wir stehen uns nicht nahe. Ich habe eigentlich nur bei Veranstaltungen im Viertel mit ihnen zu tun. Na ja, und Jennavieve und ich sind beide sportlich, also begegnen wir uns immer mal wieder beim Laufen.« Malena trug ein blaues Sommerkleid und schlug nun die Beine übereinander, als wollte sie ihre wohlgeformten Waden zeigen. »Jennavieve war ein wundervoller Mensch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das für Ben und Emma sein muss. Den beiden geht es aber gut, oder? Ihnen ist nichts passiert?«
»Ihnen geht es gut«, beruhigte Max sie. »Wie gut kennen Sie Ben?«
»Wie schon gesagt, nicht so gut wie Jennavieve. Sie waren ziemlich ruhige Nachbarn. Ich bin wahrscheinlich selbst auch ziemlich ruhig. Ich weiß, dass er Anwalt ist. Ich dachte immer, dass er ein guter Vater sein muss, denn ich habe ihn oft mit Emma spazieren gehen oder im Garten spielen sehen. Es schien fast, als ob er mehr Zeit mit ihr verbrachte als Jennavieve, aber wie ich schon sagte, ich weiß ja nur das, was ich mit eigenen Augen hier draußen gesehen habe. Ich war nie bei den Pruitts im Haus.«
»Wann haben Sie Ben Pruitt zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend … gegen … Oh, es muss ungefähr um Mitternacht gewesen sein.«
Max und Niki wechselten einen raschen Blick. Beide gaben sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
»Um Mitternacht?«, wiederholte Max.
»Ungefähr, ja. Ich war noch wach, weil … na ja, ich konnte einfach nicht schlafen. Es war eine so schöne Nacht, und frische Luft hilft mir manchmal beim Einschlafen, also bin ich raus auf die Veranda gegangen. Ich saß da draußen und war beinahe so weit, wieder ins Bett zu gehen, als ich ihn in einem roten Wagen vorfahren sah.«
»Sie haben Ben Pruitt ganz sicher erkannt?«
»Ja. Ich weiß es noch, weil es mir einfach so seltsam erschien. Der Wagen war nicht der schwarze Lexus, den er normalerweise fährt. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Leihwagen von der Werkstatt oder so was.«
»Wissen Sie, was es für eine Marke war?«, fragte Niki.
»Nun, ich kenne mich da nicht so gut aus. Er war rot und viertürig, glaube ich, vielleicht ein paar Jahre alt, aber nicht sehr alt.«
»Sind Sie sicher, dass es Ben war?«, wollte Max wissen. »Es war schließlich dunkel draußen.«
»Ich bin ganz sicher. Er hat an der Straße geparkt, statt in die Einfahrt zu fahren, was mir ebenfalls merkwürdig erschien. An der Ecke ist eine Straßenlaterne, deswegen konnte ich sehen, dass es wirklich Ben war. Ist das wichtig?«
Max schrieb Miss Gwins Aussagen hastig mit, während er sich bildlich vorstellte, wie Pruitts Alibi in seinen Händen zerfiel und ihm durch die Finger rann. Er unterdrückte ein Lächeln. »Jede Kleinigkeit kann uns weiterhelfen«, erwiderte er. »Was hat Mr. Pruitt als Nächstes getan?«
»Er hat sich irgendwie umgeschaut, würde ich sagen, mich aber nicht gesehen. Dann ist er zu seinem Haus gegangen.«
»Was haben Sie dann gesehen?«
»Nichts mehr. Ich hatte genug frische Luft und fühlte mich endlich schläfrig, also bin ich ins Bett gegangen. Und da bin ich auch geblieben, bis heute früh.«
»Haben Sie noch irgendetwas gehört, nachdem Sie ins Haus gegangen sind?«, fragte Niki. »Irgendwelchen Lärm oder einen Streit, oder vielleicht den Wagen, der wieder wegfuhr?«
»Glauben Sie, Ben hat Jennavieve umgebracht?« Malena schlug sich die Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte. Hat er es getan?«
»Miss Gwin, wir wissen noch nicht, was passiert ist«, erklärte Max. »Im Augenblick sammeln wir Informationen. Wir wollen so gründlich wie möglich vorgehen. Haben Sie noch irgendetwas gehört?«
»Nein. Ich ging ins Bett und bin gleich eingeschlafen. Glauben Sie wirklich … Ach, mein Gott, die arme Emma.«
»Miss Gwin.« Max lehnte sich weiter vor. »Bitte denken Sie ganz scharf nach. Gibt es noch irgendetwas, das Sie uns sagen können?«
»Nein. Ich habe ein rotes Auto vorfahren sehen. Ben stieg aus, blickte sich um und ging zum Haus. Dann bin ich nach drinnen gegangen. Das ist alles.«
Max erhob sich und Niki tat es ihm gleich. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Miss Gwin. Wie ich zu Beginn schon sagte, wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn dieses Gespräch vorerst unter uns bliebe. Es ist möglich, dass wir Sie zu einem späteren Zeitpunkt bitten müssen, Ihre Aussage zu wiederholen, vielleicht sogar vor Gericht. Ich fände es gut, wenn Sie sich aufschreiben würden, woran Sie sich erinnern, und wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt …« Max hielt ihr seine Karte hin. »Bitte rufen Sie mich oder Detective Vang an.« Sie schüttelten ihr beide die Hände und dann gingen Max und Niki zurück über die Straße und auf das Haus der Pruitts zu. Unter einer Straßenlaterne blieben sie stehen, nur anderthalb Meter vom Grundstück der Pruitts entfernt.
»Er hat hier geparkt«, stellte Max fest, während er zwischen dem großen Haus und Malena Gwins Veranda hin- und hersah. Es waren ungefähr 30 Meter von dort hierher. »Er fuhr einen roten Wagen. Warum?«
»Er kann nicht mit dem Flieger aus Chicago kommen«, erwiderte Niki. »Weil wir das herausfinden würden. Ein Bus oder der Zug würde zu lange brauchen. Damit wäre er niemals schnell genug in Minneapolis und wieder zurück gewesen, um sich ein halbwegs glaubwürdiges Alibi zu verschaffen. Also braucht er ein Auto.«
»Was macht er also? Mietet er eins? Kauft vielleicht sogar eins?«
»Auf Craigslist oder aus den Kleinanzeigen«, ergänzte Niki. »Wenn er mit Bargeld da auftaucht, kann er den Wagen kaufen und sofort mitnehmen. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er das Ganze im Vorfeld online arrangiert hat. Wenn dem so ist, dann finden wir vielleicht eine Spur in der Verbindungsübersicht seines Telefons oder auf seinem Rechner.«
»Deine Theorie gefällt mir, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Pruitt clever ist. Er würde keine solchen Spuren hinterlassen. Wenn er in Chicago anruft, um dort ein Auto zu kaufen, dann ist er gewieft genug, dafür ein Einweghandy zu benutzen. Aber nehmen wir an, er ist mit einem Wagen von Chicago hierhergefahren und hat hier geparkt, nicht in der Einfahrt.«
»Die Einfahrt führt unter dem Schlafzimmerfenster vorbei. Mrs. Pruitt hätte ihn gehört, wenn er mit dem Auto hineingefahren wäre.«
Max nickte. »Und dank der Aussage von Malena Gwin haben wir nun auch einen begründeten Verdacht und können seine Festplatten aus dem Büro beschlagnahmen und durchsuchen, um dort vielleicht Beweise zu finden, die unsere Theorie bestätigen.«
»Glaubst du wirklich, dass der Richter uns erlauben wird, Einsicht in die Festplatten eines Strafverteidigers zu nehmen?«
»Ich bin sicher, dass Pruitt sich lauthals wegen Verletzung des Anwaltsgeheimnisses beschweren wird, aber das können wir umgehen. Das habe ich schon einmal gemacht. Da hat der Richter angeordnet, dass eine unabhängige dritte Partei die Beweise durchsieht und entscheidet, was wir uns ansehen dürfen und was unter das Anwaltsgeheimnis fällt. Wenn wir Hinweise darauf finden, dass er einen Autokauf in Chicago geplant oder nach den besten Routen von dort hierher gesucht hat, fällt das ganz sicher nicht darunter.«
Niki sah auf ihre Armbanduhr. »Ich kann den Antrag dafür jetzt gleich stellen und habe den Durchsuchungsbeschluss, bevor das Gericht für heute schließt. Ich kümmere mich darum, dass die Computer abgeholt werden.«
»Nein. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich werde …«
»Max«, unterbrach Niki ihn. Sie sagte gar nichts weiter, nur seinen Namen, und ließ den Nachdruck in ihrem Tonfall wirken, bis er endlich aufschaute. Ihr Blick verriet Max, dass sie sehr wohl wusste, welcher Tag heute war und welche Bedeutung die Markierung im Kalender hatte. Sie wusste, dass er den Sonnenuntergang auf dem Lakewood-Friedhof betrachten würde, umgeben von den blassen Grabsteinen, die auf der leichten Anhöhe standen, auf der sich Jennis Grab befand. Max spürte, wie sich die Stimmung zwischen ihnen veränderte, als die plötzliche Kälte der unausgesprochenen Worte sie über die Schwelle trieb, die den alltäglichen Trubel vom nahenden Abend trennte, der von Schwermut erfüllt sein würde.
»Denkst du, dass du klarkommst?«
»Ja«, flüsterte Max. »Ich komm schon klar.«