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Boady Sanden blieb noch lange auf seiner Veranda sitzen, nachdem Ben Pruitt gegangen war. Er sah Kinder auf ihren Fahrrädern vorbeirauschen. Er sah Jogger auf ihrer täglichen Runde nach der Arbeit. Er sah zu, wie die Schatten seiner Eichen in seinem Vorgarten länger wurden. Und die ganze Zeit dachte er über Ben Pruitts Angebot nach. Er rechnete die Zahlen im Kopf zusammen, wog den Verlust seines Professorengehalts gegen das Anwaltshonorar auf, das er von Ben bekäme, und die Waagschale senkte sich deutlich zugunsten des Falles. Aber es war dabei nie um das Geld gegangen.
Die Frage, über die er sich den Kopf zermarterte, während er in seinem Schaukelstuhl saß, lautete schlicht: Konnte er in diese Welt zurückkehren? Es war einfach, sich an die Höhepunkte seiner Karriere als Strafverteidiger zu erinnern. Die gewonnenen Fälle, das Lob und das Geld. Aber er zwang sich dazu, sich die dunklen Tage ins Gedächtnis zu rufen, die letzten paar Jahre in diesem Beruf, als seine Schuldgefühle ihn jedes Mal zittern ließen, wenn er vor eine Geschworenenbank trat. Er hatte den Fehler begangen, an seine eigene Unbesiegbarkeit zu glauben, und das war ihn teuer zu stehen gekommen. Und seinen Klienten hatte es das Leben gekostet.
Als er zuschaute, wie der Abend sich langsam über St. Paul legte, fragte er sich, ob er dieses Leben tatsächlich wiederaufnehmen konnte, und er fragte sich auch, ob Diana es zulassen würde. Sie war diejenige gewesen, die darauf bestand, dass er seine Kanzlei aufgab.
Boady hatte nachts um drei auf der Bettkante gesessen; er konnte nicht schlafen und er konnte nicht mehr klar denken. Er hatte einen Anzug angezogen, wusste aber nicht einmal mehr, wieso er das getan hatte. Er war so dünn geworden, dass seine Hosen unter dem Gürtel eine Reihe kleiner Knitterfalten bildeten.
Dann spürte er Dianas Hand auf seiner Schulter. Sie zog ihn sanft an sich und hielt ihn in ihren Armen, wie eine Mutter ein verängstigtes Kind halten würde. Sie sagte, dass er den Anwaltsberuf aufgeben müsse, weil der ihn sonst umbrächte. Er widersprach nicht, sperrte sich nicht. Er wusste, dass sie recht hatte. Und er tat, worum sie ihn bat.
Diana hatte ihm eine SMS geschickt, um ihn wissen zu lassen, dass sie abends noch eine Immobilie präsentieren musste. Ein Interessent, der erst nach Feierabend Zeit hatte. So etwas kam bei einer Maklerin häufiger vor. Boady hatte schon vor langer Zeit das Kochen zu Hause übernommen, weil Diana so oft abends noch arbeitete. Er hatte die Aufgabe gern übernommen. Er erwartete sie gegen sieben, also erhob er sich kurz vorher von seinem Platz auf der Veranda und ging in die Küche, um das Stir-fry zuzubereiten.
Während er grüne und rote Paprika in Streifen schnitt, dachte er an Ben und Jennavieve und an die vielen Gelegenheiten, bei denen er die beiden zusammen erlebt hatte. Zwei Menschen, die ebenso perfekt füreinander waren wie er und Diana, glaubte er. Er hatte Jennavieves Tod aus diversen Blickwinkeln betrachtet, kam aber immer wieder zum selben Schluss: Ben würde ihr niemals etwas antun. Davon war Boady tief in seinem Innern überzeugt.
Er erinnerte sich daran, wie er Ben und Jennavieve kennengelernt hatte. Ben war seit zwölf Jahren im Büro des Staatsanwalts von Dakota County beschäftigt, als ein Fall vor Gericht ging, bei dem sie einander als Kläger und Verteidiger gegenüberstanden. Es handelte sich um einen Einbruch, bei dem Opfer und Beschuldigter ein ehemaliges Liebespaar waren. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht und er wollte das nicht hinnehmen, also brach er in ihr Apartment ein, um sie zur Rede zu stellen, stieß sie im Streit zu Boden, sodass sie sich beide Ellbogen aufschürfte.
Boady brachte den Fall auf Verlangen seines Klienten vor Gericht, da dieser sicher war, dass er gewinnen würde. Sein Verteidiger sah nicht, woher der Kerl diese Sicherheit nahm. Was weder Boady noch Ben wussten, war, dass die beiden sich wieder versöhnt hatten, bevor der Prozess begann. Die Neuverliebten hätten eigentlich gar nicht miteinander sprechen sollen, orchestrierten aber insgeheim den Freispruch des Mannes.
Vor Gericht trat die Frau in den Zeugenstand und beichtete, dass sie sich die Anschuldigungen nur ausgedacht hatte, weil sie böse auf ihren Freund gewesen war. Sie schwor, er sei am fraglichen Abend nicht bei ihr gewesen und sie habe ihr eigenes Türschloss mit einem Hammer beschädigt, um ihm einen fiktiven Einbruch anzuhängen. Da der junge Mann längst weg gewesen war, als die Polizei eintraf, beruhte seine Schuld einzig und allein auf ihrer Aussage.
Ben sah diese Wendung nicht kommen und tat, was alle unerfahrenen Kläger tun: Er versuchte, die vorherige Aussage der jungen Frau ins Feld zu führen. Boady, der den Job schon zehn Jahre länger machte, erhob Einspruch und erklärte dem Richter und Ben, dass es sich hier um das Dexter -Problem handelte. Dexter war ein Fall, der es dem Kläger unmöglich machte, jemanden in den Zeugenstand zu rufen, um dann die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen anzuzweifeln, indem er eine vorherige Aussage anführte. »Die frühere Aussage kann zugelassen werden«, erläuterte Boady, »aber sie kann nur dazu benutzt werden, die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Zweifel zu ziehen. Mit anderen Worten, er kann sie anführen, um zu zeigen, dass die Zeugin lügt, aber er kann sie nicht verwenden, um zu beweisen, dass der Einbruch stattgefunden hat. Wenn es keine eindeutigen Beweise für den Einbruch gibt, dann bleibt unterm Strich nur der Beweis, dass die Zeugin gelogen hat, sonst nichts. Es gibt keinen Beweis, aufgrund dessen die Geschworenen meinen Klienten rechtmäßig schuldig sprechen können.«
Die Freundin war die letzte Zeugin der Staatsanwaltschaft. Nach ihrer Aussage schloss Ben seine Beweisführung ab und Boady plädierte auf Freispruch. Der Richter zog sich zur Urteilsfindung zurück, und während Ben und Boady darauf warteten, dass er zurückkehrte und den Freispruch verkündete, von dem sie beide wussten, dass er kommen musste, begannen die beiden Männer ein Gespräch.
Sie unterhielten sich über einige Fälle, die zuletzt vom Obersten Gerichtshof entschieden worden waren, und waren sich einig, dass die jüngst beschlossenen Einschränkungen der im vierten Verfassungszusatz verbrieften Rechte, die den Bürger vor staatlichen Übergriffen schützen sollen, nicht in Ordnung waren. Ben argumentierte mehr wie ein Verteidiger als wie ein Staatsanwalt, deswegen schlug Boady im Verlauf des Gesprächs vor, dass Ben für ihn arbeiten sollte.
Ben bat um eine Woche Bedenkzeit, rief Boady aber bereits am nächsten Tag an und fragte, ob sie bei einem gemeinsamen Abendessen über das Angebot sprechen könnten. Ein gemeinsames Abendessen, zu dem auch die Ehefrauen eingeladen wurden. Sie trafen sich im University Club in St. Paul, einem schicken, privaten Club mit Aussicht auf den südlichen Rand der Stadt. Boady war Clubmitglied, seit er in die Summit Avenue gezogen war, die nur ein paar Blocks westlich des Lokals lag.
Er hatte vorgehabt, Ben und seine Frau mit dem extravaganten Abendessen und der eleganten Umgebung zu beeindrucken. Er wusste nicht, dass Jennavieve Pruitt, vormals Jennavieve Adler, Mitglied im mindestens ebenso eleganten Minneapolis Club war. Mehr noch, ihre Eltern waren beide im Vorstand des Minneapolis Club gewesen, daher war sie praktisch in dieser Umgebung aufgewachsen.
Aber Jennavieve wirkte überhaupt nicht wie jemand, der sich etwas aus einem solchen Umfeld machte. Boady gewann rasch den Eindruck, dass es ihr ebenso recht gewesen wäre, wenn sie sich in einem Fast-Food-Lokal getroffen hätten. Jennavieve war schön und liebenswürdig und durch und durch besonnen und vernünftig. Boady mochte sie auf Anhieb. Als er sie in einem Anflug von untypischer Arroganz selbstgefällig fragte, wie ihr der Club gefiel, erwähnte sie ihre klangvolle Herkunft mit keinem Wort. Erst Monate später, nachdem Ben den Sprung von der Anklage zur Verteidigung längst gewagt hatte, erfuhr Boady, aus welcher Familie sie stammte.
Als er nun die Hähnchenbrust in Streifen geschnitten hatte, sah er Dianas Wagen in die Einfahrt biegen. Er goss ein wenig Öl in die große Pfanne und schaltete den Herd an.
Wie üblich betrat Diana das Haus über die hintere Terrasse. Boady erwartete sie an der Küchentür und begrüßte sie mit einem Kuss. Aber als sie sich von ihm löste, ergriff er ihre sanften, braunen Hände und hielt sie mit seinen blassen, weißen fest.
Er zog sie an sich und umarmte sie, drückte sie eng an seine Brust.
»Hast du heute schon Nachrichten gehört oder gesehen?«, fragte er.
Ein besorgter Ausdruck verdrängte das Lächeln aus Dianas Gesicht. »Was ist denn passiert?«
»Jennavieve Pruitt ist tot. Sie wurde letzte Nacht ermordet.«
»Oh, meine Güte. Ermordet? Bist du sicher?«
»Ihre Leiche wurde heute Morgen gefunden. Sie wurde erstochen. Hat ein Messer in die Kehle bekommen.«
»Das ist ja furchtbar. Und Ben und Emma? Sind sie …?«
»Den beiden ist nichts passiert. Ben war hier, nachdem er die Leiche identifiziert hatte.«
»Ben … war hier? Wieso denn das?«
Boady trat an den Herd, wo das Öl inzwischen heiß geworden war. Er schob die Hähnchenstreifen vom Schneidebrett in die Pfanne und machte einen Schritt zurück, als es zu brutzeln und zu spritzen begann. Ohne sich zu Diana umzusehen, erklärte er: »Ben hat mich um Hilfe gebeten.«
Diana kam zu ihm herüber, blieb an der Arbeitsfläche neben dem Herd stehen. »Warum will er deine Hilfe?«
Boady sah Diana noch immer nicht an. »Er glaubt, dass man mit dem Finger auf ihn zeigen wird. Es ist ja ganz normal, dass der Ehemann verdächtigt wird. Er will einfach meinen Rat und Beistand.«
Diana legte ihre Hand auf Boadys Arm und brachte ihn dazu, sie anzuschauen. »Ist er ein Verdächtiger? Glaubt die Polizei, dass er Jennavieve umgebracht hat?«
»Noch haben sie ihn nicht offiziell als Verdächtigen eingestuft. Aber er macht sich verständlicherweise Sorgen. Er will, dass ich sein Anwalt bin und ihm beistehe, wenn er das alles durchmachen muss.« Boady spürte, dass sie in seinem Gesicht nach Anzeichen des inneren Kampfes forschte, denn sie konnte sich denken, was gerade in seinem Kopf vorgehen musste. Boady kippte die gehackten Zwiebeln in die Pfanne.
Diana ging langsam zum Küchentisch und setzte sich auf einen Stuhl. Ihr Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern. Dann vergewisserte sie sich: »Er will, dass du ihn verteidigst?«
»Er wurde nicht angeklagt, also gibt es da nichts zu verteidigen.«
»Er muss aber damit rechnen, angeklagt zu werden. Sonst wäre er doch nicht zu dir gekommen.«
»Nicht unbedingt. Ich habe früher so einige Klienten vertreten, die zwar unter Verdacht standen, aber nicht angeklagt wurden. Ben hat ein Alibi. Wir müssen nur die Beweise dafür bringen. Eine leichte Übung, selbst für einen grenzwertigen Verteidiger wie mich.«
»Aber du bist kein Verteidiger. Er sollte das doch wirklich am besten wissen. Er weiß, wieso du zu praktizieren aufgehört hast. Wie kann er dich da bitten, in den Ring zurückzukehren? Das kann er nicht von dir verlangen.«
»Liebling, er vertraut mir. Er will keinen x-beliebigen Anwalt, der nur auf Klienten aus ist, die er ausnehmen kann. Er braucht jemanden, der an ihn glaubt. Ich weiß, du machst dir Sorgen, wie ich womöglich reagieren könnte, wenn ich wieder im Gerichtssaal stehe. Und ich würde lügen, wenn ich behaupte, ich wäre nicht selbst ein wenig nervös. Man kann ganz schön einrosten in sechs Jahren.«
Boady lächelte, aber ihr Gesicht blieb hart. »Wie könnte ich in den Spiegel schauen, wenn ich meinem Freund nicht helfen würde? Er war für mich da, als ich ihn brauchte. Er hat meine Kanzlei auf Vordermann gebracht, bevor sie ganz den Bach runterging. Fast zwei Jahre lang hat er den Laden am Laufen gehalten, während ich in Selbstmitleid ertrunken bin. Niemand hat je mitbekommen, wie weit es mit mir bergab ging, weil er den Laden geschmissen hat. Er hat mich nie im Stich gelassen. Wie könnte ich ihn da jetzt im Stich lassen?«
Diana hob Boadys Hand an ihre Lippen und küsste sie. »Ich weiß, dass du Ben helfen musst. Tut mir leid. Du musst das machen. Ich kann einfach nicht aus meiner Haut. Ich bin ein wenig egoistisch, wenn es um dich geht.«
»Das Ganze hat noch einen weiteren Haken.«
Sie schloss die Augen. »Ich habe beinahe Angst zu fragen.«
»Max Rupert leitet die Ermittlungen.«
Diana lehnte sich mit gehobenen Augenbrauen auf ihrem Stuhl zurück. »Weiß Max, dass du Ben vertrittst?«
»Noch nicht. Ich dachte, ich sage es ihm besser heute Abend.«
»Heute Abend?«
»Heute ist der Jahrestag von Jenni Ruperts Tod. Ich wollte sowieso auf den Friedhof gehen – um nachzusehen, ob es ihm gut geht. Und wenn das Thema aufkommt, dann werde ich es ihm sagen.«
Diana lehnte sich zu ihm hinüber, küsste seine Stirn und nickte verständnisvoll. »Es wird bald dunkel. Wir sollten bald essen, damit du loskannst.«