16
Max fiel es immer wieder leicht, nicht entdeckt zu werden, wenn er Jennis Grab besuchte. Abends und Nachts patrouillierte ein Wächter auf dem Friedhof, aber die Sicht auf Jennis Grabstein wurde von einem Friedhofswärterhäuschen verdeckt, wenn der Wagen vorbeifuhr. Max lehnte sich gern an ihren Grabstein, weil er von hier aus den See sehen konnte. Er betrachtete gern den See, wenn er mit Jenni redete.
Er sah zu den Streifen aus Mondlicht hinauf, die zwischen den Zweigen eines Silberahorns hindurchfielen. Er versuchte ihr Gesicht darin zu erkennen, in den Schatten der Äste. Er hatte sie dort häufig gesehen in jenen ersten Monaten, als die schillernde Erinnerung an sie wie ein Vagabund um seine Alltagswelt herumgeisterte, ihn in die Knie zwang, wann immer er ihre Gegenwart ganz deutlich spürte. Wenn er jetzt in den Baum hinaufstarrte, sah er nur noch Schatten.
»Ich vermisse dich«, flüsterte er. Er zog die Beine an und legte die Unterarme auf die Knie. »Ich habe das Gefühl, dass ich dich jetzt noch mehr vermisse als je zuvor. Denk nur, unser Kind wäre jetzt schon drei Jahre alt. Würde herumspringen und bestimmt reden wie ein Wasserfall.«
Aber es gab kein Kind, es hatte lediglich eine Schwangerschaft gegeben. Max hatte diesen Traum so ziemlich aufgegeben, aber Jenni glaubte immer noch daran. Maggie Hightower war diejenige gewesen, die Jennis Leiche obduzierte. Maggie war diejenige gewesen, die Max von der Schwangerschaft berichtete, die noch so frisch war, dass Jenni selbst womöglich gar nichts geahnt hatte. Als er seine Frau beerdigte, waren Max und Maggie die Einzigen, die wussten, dass dort zwei Seelen beigesetzt wurden.
»Die Welt erscheint mir jetzt so still, so leer. Dieser eine, schicksalhafte Moment hat alles verändert. Ich könnte jetzt in diesem Augenblick neben dir sitzen, wir könnten unserem Kind zusehen, wie es das Haus auf den Kopf stellt. Aber stattdessen bin ich hier und du …« Max streckte die Hand aus und strich über das Gras ihrer Grabfläche.
»Ich habe das Gefühl, dass Niki sich Sorgen um mich macht. Gestern erst hat sie mich gefragt, was ich denn außer der Arbeit noch so mache. Ich habe es mit einem Witz abgetan, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht brauche ich irgendetwas
anderes, womit ich mich beschäftigen kann, das mich ablenkt. Deswegen habe ich mir gedacht, ich sollte mal zum Tierheim gehen und schauen, ob die vielleicht einen alten Hund haben, die Art Köter, an dem alle immer nur vorbeigehen.«
Max hielt inne, als er Schritte hörte, die sich von der Anhöhe her näherten. Er wollte seine Marke hervorholen, denn das war schon immer sein Plan gewesen für den Fall, dass ihn jemand nach Torschluss auf dem Friedhof entdeckte.
»Max?« Die Flüsterstimme klang nach Boady Sanden.
Max spähte über die Kante des Grabsteins. »Boady? Was zum Teufel machst du denn hier?«
»Ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
Max lehnte sich wieder gegen den Grabstein. »Du meinst, du wolltest mich babysitten?«
»Kann ein Mann denn nicht abends einfach so auf den Friedhof einbrechen, um einem Kumpel Hallo zu sagen?«
»Ich weiß Bescheid, dass Alexander und du der Meinung waren, ihr müsstet in dieser Nacht auf mich aufpassen. Alexander hat es mir erzählt.«
»Nun, du musst zugeben, dass diese Sorge nicht ganz unbegründet ist. Ich meine, vor drei Jahren warst du ziemlich fertig. Ich bin nur hergekommen, falls du einen Bolzenschneider brauchst.«
Max lächelte. »Setz dich doch zu mir.« Er zeigte auf den benachbarten Grabstein, einen grauen Granitblock mit dem Namen ›Hoover‹ als Inschrift. An diesem Stein hatte Boady auch vor drei Jahren gelehnt, als er darauf gewartet hatte, dass Alexander auftauchte.
»Ich dachte, dass es dieses Jahr besonders hart für dich sein muss, weil Alexander auch nicht mehr da ist.«
Max nickte. »Ich gebe zu, dass ich darüber nachgedacht habe.«
»Und du bist nicht mehr zum Kartenspielen gekommen, seit er tot ist.«
»Mir war wohl nicht nach Kartenspielen, schätze ich.«
»Nach allem, was geschehen ist, dachte ich …«
»Diesmal habe ich keinen Whiskey mitgebracht.« Max klopfte sein Hemd ab, als wollte er beweisen, dass er nichts in den Taschen verbarg.
»Und ich hatte gehofft, du würdest mir einen Schluck abgeben. Ich bin gerade über den verdammten Zaun geklettert, das hat mich ins Zittern gebracht.«
Die beiden Männer schwiegen und starrten sekundenlang auf den See, obwohl es ihnen beiden weit länger erschien, aber das machte nichts. Dann war es Boady, der schließlich wieder das Wort ergriff.
»Aber jetzt mal ernsthaft gefragt, wie kommst du klar?«
Max dachte über die Frage nach, bevor er antwortete. »Ich bin vielleicht wieder etwas abgesackt, nachdem Alexander gestorben ist.« Er drückte den Kopf gegen den kühlen Granit hinter sich und spürte die gemeißelte Inschrift ihres Namens an der Kopfhaut. Langsam rollte er den Kopf über den Buchstaben N. »Und heute … Ich schwöre, jedes Mal wenn ich mich umgedreht habe, war da irgendetwas, das mich an Jenni erinnert hat.«
»Wenn ich Diana verlieren würde …« Boady hielt mitten im Satz inne und überlegte. »Na ja, ich wüsste keinen Ort, wo ich nicht an sie denken müsste.«
»Aber das ist ja noch nicht alles. Heute haben wir in Kenwood eine Leiche gefunden … Du hast wahrscheinlich in den Nachrichten davon gehört. Es war Ben Pruitts Ehefrau.«
»Jennavieve Pruitt. Ja, das habe ich gehört.«
»Das hat mich zunächst aus der Bahn geworfen. Mit ihren roten Haaren hat sie mich auf den ersten Blick extrem an Jenni erinnert.«
»Bevor du weitersprichst«, unterbrach Boady ihn, »Ben hat mich heute aufgesucht.«
»Stimmt, ihr beide wart ja früher Partner in der Kanzlei.«
»Er hat mich gebeten, ihn anwaltlich zu vertreten … für den Fall, dass … na, du weißt schon.«
Max drehte den Kopf und sah Boady an. Er hoffte, irgendein Anzeichen dafür zu finden, dass der nur Witze machte. Boady hielt den Blick starr auf den See gerichtet.
»Ich dachte, du arbeitest nicht mehr als Strafverteidiger«, sagte Max.
»Meine Lizenz habe ich aber noch. Ich kann einen Fall übernehmen, wenn ich das möchte. Nur weil ich jetzt unterrichte, heißt das ja nicht, dass ich vergessen habe, wie Verteidigen geht.«
»Das ist aber nicht der Fall, für den du in den Gerichtssaal zurückkommen willst, Boady.«
»Ich weiß, dass du und Ben euch nicht grün seid, Max, aber das …«
»Boady, es geht hier nicht um das, was zwischen Ben und mir vorgefallen ist. Ich sage dir lediglich, dass du diesen Fall nicht übernehmen willst.«
»Wir sollten gar nicht darüber reden, Max. Ich hatte nur das Gefühl, dass du Bescheid wissen solltest, bevor du mir irgendetwas anvertraust, das … na ja, vertraulich bleiben soll.«
Max blickte wieder aufs Wasser und war plötzlich verärgert, dass dieser Moment, seine Erinnerung an Jenni, auf diese Weise gestört worden war. Als könnte Boady den Stimmungswechsel spüren, fuhr er fort: »Ich hätte heute Abend wahrscheinlich gar nicht hierherkommen sollen. Ich fand nur, dass ich das Alexander schulde. Nach dir zu sehen …«
Max erwiderte nichts darauf.
»Nun, ich lasse dich jetzt besser allein.«
Boady erhob sich und klopfte sich das Gras von der Jeans. Max spürte genau, dass der andere Mann auf eine letzte Antwort von ihm wartete, damit sie sich als Freunde verabschieden konnten, denn das waren sie gewesen, bis Boady Bens Namen erwähnt hatte. Als keine Antwort kam, stapfte Boady los.
Max sagte: »Grüß Diana von mir.«
Boady blieb stehen und drehte sich zu Max um, lächelte und nickte. »Mache ich«, erwiderte er.
Als Boady fort war, fühlte Max sich so allein wie schon lange nicht mehr. Er streckte die Hand hinter den Kopf aus und ließ die Finger über die Buchstaben gleiten, den Namen seiner Frau. Er versuchte, weiter mit ihr zu reden, aber es fühlte sich nicht so an, wie es sollte. Also legte er stattdessen den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hinauf. Eine Lücke zwischen den Baumkronen bildete den Rahmen für einen Streifen Sternenhimmel, der eine solche Weite und Schönheit besaß, dass er beinahe zu weinen angefangen hätte. Er wollte, dass sie hier bei ihm war. Er wollte, dass sie von diesen Sternen zu ihm herabstieg und ihm ins Ohr flüsterte, dass alles okay war, dass sie ihm all seine Fehler und Versäumnisse vergab. Max betrachtete den Himmel und wartete still auf eine Antwort, die er niemals erhalten würde.