19
Während Max darauf wartete, dass Anna Adler-King zu ihrer Befragung erschien, las er den Laborbericht, den Bug Thomas verfasst hatte. Bug hatte ausreichend Haare und Fingerabdrücke und anderes Spurenmaterial gefunden, das bestätigte, dass Ben Pruitt am Tatort gewesen war, aber der Tatort war das Zuhause des Verdächtigen, sein Schlafzimmer. Natürlich war zu erwarten, dass man dort allerorten seine DNA finden würde.
Bug war sehr gründlich gewesen und sein Bericht listete jede Einzelheit auf, von den Haaren im Abfluss der Dusche, die Jennavieve und Ben Pruitt zu gehören schienen, bis zu den unvollständigen Schuhabdrücken, die auf einem Stück nackter Erde in der Einfahrt genommen worden waren und Jennavieves waren. In den kommenden Tagen würde Max diesen Bericht immer wieder durchgehen, so wie er das bei jedem Fall machte, wenn er darauf wartete, dass ihm der entscheidende Hinweis ins Auge fiel, aber bei dieser ersten Durchsicht erschien ihm nichts davon hilfreich.
Anna Adler-King erschien in einem engen schwarzen Kleid zu ihrem Termin. Offensichtlich maßgeschneidert und nicht von der Stange, mit einem Gürtel um die Taille und einem V-Ausschnitt, der gerade so weit aufgeknöpft war, dass man den Ansatz ihres Dekolletés erahnen konnte. Max fragte sich, ob das Mrs. Adler-Kings Vorstellung von angemessener Trauerkleidung war – ein Aufzug, der flüsterte: ›Ich habe jemanden verloren‹, während er gleichzeitig schrie: ›Hey, Leute, seht mich an‹.
Max stellte sich vor und begleitete sie in den Verhörraum. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben herzukommen. Ich werde versuchen, nicht zu viel Ihrer Zeit zu beanspruchen.« Max deutete auf einen Stuhl für seinen Gast, während er sich hinsetzte. Mrs. Adler-King blieb stehen, ihren Blick auf einen Kaffeefleck auf der Sitzfläche geheftet, einen braunen Fleck, der die Form und Größe einer eingelegten Gurke hatte. Max wies erneut auf den Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie zufällig noch einen sauberen Stuhl haben?«
Max beugte sich vor und betrachtete den braunen Fleck auf dem orangefarbenen Stoff. »Oh, der ist da schon seit Jahren. Der färbt ganz sicher nicht ab.«
»Das ist ekelhaft«, urteilte sie und sah Max an, als würde er versuchen, sie dazu zu bringen, sich in einen Hundehaufen zu setzen.
Max schloss die Augen, damit sie nicht sah, wie er sie verdrehte. »Würden Sie meinen Stuhl vorziehen?« Er erhob sich, sodass sie seinen Stuhl begutachten konnte.
»Das wäre sehr nett von Ihnen«, sagte sie.
Max tauschte die beiden Stühle aus und Anna Adler-King setzte sich mit kerzengeradem Rücken hin, als wollte sie vermeiden, die Rückenlehne zu berühren. Die Hände hielt sie im Schoß gefaltet. Sie berührte auch die Tischplatte nicht, als ob jeglicher Kontakt mit der Oberfläche die Gefahr barg, sich mit den Krankheiten der vielen Kriminellen anzustecken, die je in diesem Raum gesessen hatten.
»Detective Rupert«, sagte sie dann, »ich will alles tun, was ich kann, um den Mann zu überführen, der meine Schwester umgebracht hat.«
»Sie wissen, wer sie getötet hat?«
»Nun, ist das nicht offensichtlich? Ben Pruitt. Er muss es getan haben.«
»Warum sagen Sie das?«
Anna Adler-King betrachtete Max Rupert, als wollte sie feststellen, ob er sich lediglich dumm stellte oder von Natur aus dumm war. Max wartete.
»Wer sonst würde so etwas tun?«
»Mrs. Adler-King, wie gut kennen Sie Ben Pruitt?«
»Er ist mein Schwager, aber wir stehen uns nicht sehr nahe.«
»Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«
Sie dachte kurz nach, bevor sie antwortete. »Das war wohl bei einer Benefizveranstaltung für die Bibliotheken von St. Paul, vor einem knappen Jahr.«
»Und wann haben Sie zuletzt mit Ihrer Schwester gesprochen?«
»Am selben Abend.«
»Würden Sie sagen, dass Sie Ihrer Schwester sehr nahestanden?«
»Wir waren Schwestern. Natürlich standen wir uns sehr nahe.«
»Aber Sie haben seit fast einem Jahr nicht miteinander gesprochen … und Sie leben in derselben Stadt.«
»Detective Rupert, es gibt eine Bindung zwischen Geschwistern, die immer besteht. Dazu braucht es keine täglichen Besuche.«
»Ich verstehe, Mrs. King …«
»Mrs. Adler-King«, verbesserte sie ihn. »Im Gegensatz zu meiner Schwester habe ich mich dazu entschieden, meinen Mädchennamen zu behalten. Ich bin sehr stolz darauf, eine Adler zu sein.«
»In Ordnung. Aber wenn Sie seit einem Jahr nicht mit Ihrer Schwester gesprochen haben, dann konnten Sie nicht wissen, wie es zwischen den Pruitts stand. Ich kann verstehen, dass Sie Ben Pruitt vielleicht nicht mochten, aber das hilft mir bei den Ermittlungen leider gar nicht weiter.«
»Sie wollen etwas, das Ihnen bei Ihren Ermittlungen weiterhilft? Dann gebe ich Ihnen etwas. Jennavieve und Ben hatten einen Ehevertrag. Ben Pruitt hatte allen Grund, Jennavieve umzubringen.«
»Einen Ehevertrag?« Max nahm seinen Stift zur Hand und griff nach einem Blatt Papier von dem Stapel am Rand des Tisches. »Erzählen Sie mir mehr darüber.«
Anna lächelte und schlug ein Bein über das andere. Dabei rutschte ihr Rock gerade weit genug hoch, um den spitzenbezogenen Rand ihrer teuren Strümpfe aufblitzen zu lassen. »Zunächst müssen Sie wissen, dass meine Schwester und ich reich sind. Dazu haben wir selbst nichts getan, alles, was wir besitzen, stammt von unserem Vater und seinem Vater vor ihm. Mein Großvater verdiente sein Vermögen mit Papierherstellung und vermachte das Geschäft meinem Vater. Der investierte vielfältig und baute auf dem Grundstock von Großvaters Arbeit auf, und heute wird Adler Enterprises auf einen Wert von einer Milliarde Dollar geschätzt.«
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Mutter starb vor vier Jahren. Vater kämpft gegen Knochenkrebs.«
»Es tut mir leid, das zu hören.«
»Er ist ein zäher alter Fuchs. Ein geringerer Mann wäre längst tot.«
»Wenn er so krank ist, wer leitet denn dann das Unternehmen?«
»Es handelt sich um ein Familienunternehmen, trotz der Größe. Mein Vater hält nach wie vor die meisten Anteile, aber er gab mir und Jennavieve die Vollmacht. Jennavieve hat eine Stimme mehr als ich, damit es nicht im Patt enden kann.«
»Bitte verzeihen Sie mir, wenn das unangebracht klingt, aber was passiert mit diesen Anteilen, sollte Ihr Vater sterben?«
Anna senkte den Blick, als sie ihre Antwort vorbereitete. Als sie den Kopf wieder hob, schien sie sich in Lauren Bacall im Film Der große Schlaf zu verwandeln, mit schweren Lidern und einer Stimme, die mindestens einen Ton oder zwei tiefer klang als zuvor. »Detective, ich weiß, dass Sie mir diese Fragen stellen müssen, und ehrlich gesagt hatte ich auch geglaubt, mich auf genau diese Situation vorbereitet zu haben, als ich hierherkam. Aber es fällt mir schwer, hier zu sitzen und zu wissen, dass ein Teil von Ihnen, und sei es auch nur ein winziger Teil, mich verdächtigt, etwas mit dem Tod meiner Schwester zu tun gehabt zu haben.«
»Das habe ich nicht gesagt«, wehrte Max ab.
Anna blickte Max mit einer stillen Intensität an, die seine gespielte Neutralität durchdrang. »Sie würden sich wohl kaum dafür interessieren, wer die Firma meines Vaters leitet, wenn der Gedanke Ihnen nicht durch den Kopf gegangen wäre. Oder irre ich mich in diesem Punkt?«
Max’ Miene blieb ausdruckslos und er erwiderte nichts darauf.
Sie fixierte Max noch einige Augenblicke länger, dann lächelte sie, was ihren ansonsten ernst wirkenden Zügen eine gewisse Wärme verlieh. »Eine ganz legitime Frage, nehme ich an. Der momentanen Fassung des Testaments zufolge werde ich die Alleinerbin von Adler Enterprises sein, wenn mein Vater stirbt.«
»Der momentanen Fassung zufolge?«
»Mein Vater ist vielleicht schwer krank, Detective Rupert, aber er ist im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Wenn er auch nur eine Sekunde lang annehmen würde, dass ich an Jennavieves Tod beteiligt war, würde er mich enterben.«
»Haben Sie Ihre Schwester umgebracht? Ich meine, Sie haben ein leicht nachvollziehbares Motiv, finden Sie nicht?«
»Ben Pruitt hat meine Schwester umgebracht, und das Motiv ist der Ehevertrag.«
»Wieso ist ein Ehevertrag ein Motiv für einen Mord?«
Anna beugte sich vor und ließ sich zum ersten Mal dazu hinreißen, ihre Fingerspitzen auf der Tischkante abzustützen. »Jennavieve und ich haben jeweils einen Treuhandfonds auf unseren Namen. Mein Vater wollte sicherstellen, dass es uns nie an irgendetwas fehlen würde. Als ich hörte, dass Jennavieve tot ist, dass sie ermordet wurde, habe ich unseren Familienanwalt angerufen, der sich um diese Dinge kümmert.«
»Sie erfahren, dass Ihre Schwester tot ist, und rufen als Erstes einen Anwalt an?«
Anna schrak ein bisschen vor der impliziten Anschuldigung in Max’ Frage zurück, und er konnte den Zorn sehen, der hinter ihrer sorgsam bemühten, marmornen Fassade hervorsickerte. »Ich war nie der weinerliche, sentimentale Typ. Nicht wie Jennavieve. Das war ihre Schwäche, nicht meine. Ich bin meinem Vater ähnlicher. Meine Reaktionen beginnen in meinem Verstand, nicht in meinem Herzen.«
»Ich nehme an, dass man sehr abgeklärt sein muss, um ein Imperium zu führen.«
»Es geht hier nicht um Abgeklärtheit, Detective. Der Verlust meiner Schwester schmerzt mich und ich vermisse sie sehr. Aber Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich auf meine Art und Weise trauere. Ich werde das Andenken meiner Schwester ehren, aber nicht indem ich mich wie ein Baby zusammenrolle und eine Packung Taschentücher nach der anderen vollheule, sondern indem ich Ihnen den Mann liefere, der sie ermordet hat. Deswegen bin ich heute hergekommen. Ich werde mich nicht für meine Stärke entschuldigen, aber ich wollte Ihnen etwas bringen, das dabei helfen könnte, Ben Pruitt ins Gefängnis zu bringen.«
Diese Frau war ein harter Brocken. Max war sich noch nicht sicher, ob sie wirklich die starke Frau war, die die Dinge in ihre eigenen Hände nahm, wie sie behauptete, oder schlicht eine herzlose Manipulatorin. So oder so, Anna Adler-King besaß eine beachtliche Disziplin. Mit ihr würde es keinen Perry-Mason-Moment geben.«
»In Ordnung«, gab Max zurück. »Was haben Sie für mich?«
»Ich habe unseren Anwalt gebeten, sich Jennavieves Ehevertrag anzuschauen und mir zu sagen, was jeweils passieren würde, wenn sie stirbt und wenn sich die beiden scheiden lassen.«
»Hat Ihre Schwester denn darüber nachgedacht, sich scheiden zu lassen?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Sie hat nie direkt etwas in dieser Richtung zu mir gesagt, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht glücklich mit ihm war.«
»Und was hat der Anwalt gesagt?«
»Er sagte, für den Fall, dass Jennavieve und Ben sich scheiden ließen, würde bei den Gütern im Einzelnen nachverfolgt, wer was bezahlt hatte. Mit anderen Worten, wenn sie ein Auto besaßen und es zu gleichen Teilen bezahlt hätten, würden sie dessen Wert aufteilen. Aber wenn Jennavieve den Wagen mit dem Geld aus ihrem Treuhandfonds gekauft und ihrer beider Namen eingetragen hätte, würde der Wagen ihr zufallen. Der Gedanke dahinter war, wenn sie sich je scheiden lassen sollten, würde alles, was Jennavieve mit dem Geld aus ihrem Fonds bezahlt hatte, an sie zurückfallen.«
»Und wenn sie stirbt?«
Anna schenkte Max einen kühlen Blick. »Wenn Jennavieve stirbt, fallen alle Güter, die ihnen gemeinsam gehört haben, laut Gesetz dem Miteigentümer zu.«
Max lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ließ diese Aussage sacken. Er erinnerte sich an Doveys Anweisung, ihm ein Motiv zu beschaffen, damit er das Antragsverfahren für eine Grand Jury einleiten konnte. Diese Enthüllung lieferte ihm alles, was man für ein erstklassiges Motiv brauchte. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was die beiden mit dem Geld aus ihrem Treuhandfonds gekauft haben?«
Anna lächelte. »Alles. Mit den Jahren sind Jennavieve und ich drauf gekommen, dass unser Vater uns nichts abschlagen konnte. Wir konnten uns aus dem Fonds bedienen, um uns so ziemlich alles zu kaufen, was wir wollten. Ich weiß, dass Jennavieve die Villa in Kenwood mit dem Geld aus dem Fonds gekauft hat. Dann sind da noch das Wochenendhaus im Norden, die Eigentumswohnung in Aruba und eine weitere in Frankreich. Ich kenne sicher nicht den gesamten Umfang, aber Jennavieve hat für so ziemlich alles bezahlt, was den beiden gehörte.«
»Und Ben Pruitts Name steht auf allen Besitzurkunden?«
»Miteigentümer und Erbe.«
»Aber wir wissen nicht, ob es je eine Diskussion über eine mögliche Scheidung gab.«
»Das kann ich nicht sagen. Wir haben sehr unterschiedliche Leben geführt. Und wir hatten beide so viel zu tun, dass es immer schwieriger wurde, uns zu treffen.«
»Wenn sie jemandem von ihren Scheidungsplänen erzählt hätte, wer wäre das denn wohl gewesen?«
»Ehrlich gesagt hatte Jennavieve nicht viele enge Freunde, jedenfalls nicht solche, denen man so etwas anvertrauen würde. Sie lebte für die Stiftung, die sie geleitet hat, die sich für den Erhalt der Sumpfgebiete einsetzt. Wann immer wir uns sahen, war das das Einzige, worüber sie sprach. Ich glaube, wenn sie Freunde hatte, die ihr nahe genug standen, um Ihre Frage zu beantworten, dann würde ich dort nach ihnen suchen.«
»Sie waren eine große Hilfe, Mrs. Adler-King.«
»Danke«, sagte sie mit einem leichten Nicken. »Dann denken Sie also auch, dass Ben es getan hat, nicht wahr?«
Max schürzte die Lippen und deutete ein Kopfschütteln an. »Über eine laufende Untersuchung darf ich nicht im Detail sprechen. Das verstehen Sie doch?«
Annas Antwort klang gleichzeitig weich und unnachgiebig, wie bei einer Mutter, die ihrem Kind gut zuredete, den Ausgang der Unterhaltung aber schon kannte. »Ich verstehe vor allem eins, Detective Rupert, nämlich dass meine Schwester tot und meine Nichte bei dem Mann ist, der sie umgebracht hat. Ich werde nichts unversucht lassen, um dieses kleine Mädchen zu beschützen – und ebenso erwarte ich von Ihnen, dass Sie alles tun, was notwendig ist, um Ben Pruitt hinter Gitter zu bringen. Ich hoffe sehr, schon bald zu hören, dass Sie Ben Pruitt wegen Mordes an meiner Schwester verhaftet haben.«
Anna Adler-King erhob sich von ihrem Stuhl, also stand Max ebenfalls auf. Sie wandte sich zur Tür und er öffnete sie für sie. Er begriff, dass dieses Gespräch für sie beendet war, also versuchte er auch nicht, sie umzustimmen oder dazu zu bringen, noch länger zu verweilen.
»Können Sie mir eine Kopie dieses Ehevertrags zukommen lassen?«
»Ich werde jemanden damit schicken«, sagte sie. Dann wandte sie sich noch ein letztes Mal zu ihm um. »Ich mag Sie, Detective Rupert, und das sage ich nur zu sehr wenigen Menschen. Ich habe das Gefühl, dass Sie, genau wie ich, ganz genau wissen, dass meine Schwester von ihrem Ehemann ermordet wurde. Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, denn Sie werden mich nicht enttäuschen.«
Und damit drehte sie sich um und verließ den Raum.