25
Everett Kagen wohnte in einem bescheidenen, blau gestrichenen Einfamilienhaus, das direkt gegenüber einem Park auf einem Eckgrundstück stand. Es war eine ruhige Wohngegend, die nicht so aussah, als hätte man hier viel Erfahrung mit Beamten der Mordkommission oder mit Mordermittlungen. Das Haus war kleiner, unauffälliger, als Max erwartet hatte. Es wirkte sauber und gemütlich, beinahe wie ein Pfefferkuchenhaus, aber Max hatte mehr erwartet, wenn man bedachte, dass es sich um das Haus des Anwalts der Adler Wetland Preservation Foundation
, Jennavieves Stiftung, handelte.
Max und Niki gingen auf das Haus zu und hielten vor der Tür inne. Von drinnen drang das Geplänkel von mindestens zwei Kindern. Junge Mädchen kurz vor dem Teenageralter, die sich über die Vor- und Nachteile von lackierten Fußnägeln stritten. Max klopfte an die Tür.
Eine Frau Ende 30, die ziemlich aus dem Leim gegangen war, öffnete ihnen. Ihr Gesicht war wahrscheinlich einmal attraktiv gewesen, als sie noch jünger war, aber im Lauf der Zeit vom Stress und zu viel Nachmittagsfernsehen abgestumpft. Als sie die Besucher erblickte, setzte sie ein Lächeln auf, das an die roboterhaften Frauen von Stepford
erinnerte, aber das Lächeln verschwand sofort gänzlich, als sie die Dienstmarken sah.
Niki übernahm die Führung. »Wir sind hier, um mit Everett Kagen zu sprechen. Ist er zu Hause?«
Die Frau warf einen Blick über die Schulter und nickte den beiden dann zu. »Er ist unten. Ich werde ihn holen.« Sie drehte sich um, ließ die Tür aber offen stehen, und diese Geste nahmen Max und Niki als Einladung. Sie betraten das Haus. Die beiden Mädchen hatten mit ihrem Geplapper aufgehört und kamen ins Esszimmer, um die Besucher zu begutachten. Sie gaben vor, äußerst interessiert an der Holzmaserung des Esstisches zu sein, warfen aber immer wieder verstohlene Blicke zu den Detectives an der Haustür hinüber.
Irgendwo in den Eingeweiden des Hauses hörte Max die Stimme der Frau. Es klang, als gäbe sie kurze, wütende Salven ab. Eine männliche Stimme schimpfte zurück, aber sie klang zu gedämpft, als dass man auch nur ein Wort verstanden hätte. Dann klapperten die Schritte des Paares die Treppe aus dem Keller herauf und das Gezänk verstummte.
Everett war ein Mann mit markanten Zügen, ein Cowboy, der sich den Staub aus dem Gesicht gewaschen hatte. Er trat mit einem freudlosen Lächeln auf sie zu.
»Mr. Kagen, ich bin Detective Niki Vang und das ist mein Partner Max Rupert. Könnten wir kurz mit Ihnen sprechen? Es geht um den Tod von Jennavieve Pruitt.«
»Natürlich.« Kagen sah sich kurz zu seinen beiden Töchtern um und bat dann: »Vielleicht können wir ja einen Spaziergang im Park machen und uns dort unterhalten?«
Niki blickte zu Max hinüber und nickte Kagen dann zu.
Als sie über den Gehweg zur Straße gingen, sagte Kagen als Erstes: »Ich habe damit gerechnet, dass Sie früher oder später hier auftauchen würden.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, wollte Niki wissen.
Kagen hielt auf eine Tribüne am Rand eines Fußballfelds zu. »Wir waren im Büro an dem Tag, als sie starb. Wir strengen gerade einen neuen Prozess an.«
Er setzte sich auf die unterste Bank. Max und Niki nahmen links und rechts von ihm Platz. Er fing an, seine Oberschenkel mit den Händen zu massieren, so als wollte er sich den Schweiß von den Handflächen wischen. »Wir haben lange gearbeitet. Bis … Oh, es war vielleicht schon elf, als wir gegangen sind.«
»Haben Sie und Mrs. Pruitt sich häufig so spät noch im Büro aufgehalten?«, fragte Niki.
Kagen setzte sich gerader hin und wandte sich ihr zu. »Mir gefällt nicht, worauf Sie da anspielen. Ich bin ein glücklich verheirateter Mann. Jennavieve und ich hatten nur geschäftlich miteinander zu tun. Das ist alles.«
»Ich wollte überhaupt nichts unterstellen, Mr. Kagen«, erwiderte Niki. »Sie sagten, Sie und Mrs. Pruitt hätten an jenem Abend lange gearbeitet. Ich habe lediglich gefragt, ob das regelmäßig vorkam.«
Kagen drückte erneut an seinen Oberschenkeln herum. »Es tut mir leid«, sagte er. »Diese ganze Sache ist einfach zu verrückt. Jennavieve war einer der nettesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Der Gedanke, dass jemand sie umgebracht haben soll … Das ergibt einfach keinen Sinn.«
»Und Sie beide haben das Büro um dieselbe Uhrzeit verlassen?«
»Bitte? Oh, äh, ja. Wie gesagt, wir haben ungefähr bis elf gearbeitet und dann Schluss gemacht. Ich habe sie zu ihrem Wagen begleitet, aber
nur, weil ich es mir nicht verzeihen könnte, wenn jemand sie ausrauben würde oder so was. Dann bin ich zu meinem Auto gegangen und nach Hause gefahren. Ich war gegen halb zwölf hier, vielleicht auch erst Viertel vor zwölf.«
»Wie wirkte Mrs. Pruitt beim Abschied auf Sie? Schien sie eventuell besorgt wegen irgendetwas?«
»Nein.«
»Hat sie überhaupt jemals Sorgen oder Ängste angesprochen? Gab es womöglich irgendjemanden, der ihr etwas antun wollte?«
»Nein … also abgesehen vom alltäglichen Kram.«
»Was ist der alltägliche Kram?«
»Wir sind eine Stiftung, die nur zu einem Zweck gegründet wurde. Wir halten Bauträger davon ab, Sumpfgebiete zur gewerblichen Nutzung trockenzulegen. Wir wenden unsere Zeit, Energie und alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen dafür auf, solche Vorhaben gerichtlich zu stoppen. Und das macht natürlich immer wieder Menschen wütend.«
»Also haben Sie Leute davon abgehalten, auf ihrem eigenen Land zu bauen?«, wollte Max wissen.
Kagen drehte sich nun zu Max und sprach ihn zum ersten Mal direkt an, seit sie gekommen waren. »Dieses Land ist unverzichtbar für die Zukunft dieses Staates und des Planeten. Es beheimatet Hunderte, vielleicht Tausende unterschiedliche Spezies, Tiere und Pflanzen. Die Menschen lieben diesen Bundesstaat auch deswegen, weil sie von Natur umgeben sind, wohin sie auch gehen. Selbst in Minneapolis ist man von Wildtieren umgeben, wenn man nur genau genug hinschaut. Aber das ist kein zufälliges Ergebnis. Wir brauchen diese Sumpflandschaften, um naturnah zu bleiben. Jemand muss für ihren Erhalt kämpfen, und genau das tun wir.«
»Immer langsam, Mr. Kagen«, beschwichtigte Max mit erhobenen Händen. »Ich greife Ihre Sache doch gar nicht an. Ich sammle nur Informationen. Wie viele Leute arbeiten bei der Adler Wetland Preservation Foundation?
«
Kagen lächelte schief. »Es hört sich größer an, als es tatsächlich ist … oder war. Die Stiftung, das sind nur wir beide. Jennavieve ist die treibende Kraft und wichtigste Unterstützerin, was das Geld angeht. Sie schuf das Bewusstsein für das Problem. Sie kümmerte sich um unseren Internetauftritt und die sozialen Medien, und sie hat die Spendenveranstaltungen organisiert. Ich war für die rechtlichen
Fragen zuständig, die Klagen. Wenn wir Hilfe brauchten, haben wir Aushilfen eingestellt. Zeitarbeiter. In den letzten Jahren ist der Markt immer wieder von jungen Anwälten überschwemmt worden. Wenn ich einen Antragsentwurf brauche oder etwas recherchieren muss, kann ich einen Auftrag vergeben. Das senkt auch die Kosten.«
»Ich nehme an, Sie haben Ben Pruitt kennengelernt?«, wollte Niki wissen.
Kagens Miene erschlaffte und er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Finger gegeneinander, sodass sie einen spitzen Kirchturm bildeten. »Ja, ich kenne Ben.«
Niki wartete darauf, dass er mehr sagte, aber der Mann schwieg. Dann fragte sie: »Wie stand es zwischen Jennavieve und Ben?«
Kagen starrte immer noch in die Ferne, wo vier Kinder einen Fußball herumkickten. Dann sagte er: »Sie wollte sich von ihm scheiden lassen.«
Die beiden Polizisten wurden sofort hellhörig. »Sind Sie sicher?«, hakte Niki nach.
»Ja, ich bin sicher. Man arbeitet nicht Tag für Tag mit jemandem zusammen, ohne einander irgendwann gut zu kennen. Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe. Sie liebte ihn nicht mehr, blieb aber bei ihm wegen Emma. Ich habe versucht, sie zu überzeugen … Ich habe doch gesehen, wie schlecht es ihr ging. Sie hatte was Besseres verdient. Und dann fragte sie mich vor etwa einem Monat, ob ich je als Scheidungsanwalt gearbeitet hätte. Ich sagte, das hätte ich, aber das war schon Jahre her. Ich sagte ihr, dass sie sich einen Anwalt suchen müsse, der auf Familienrecht spezialisiert ist. Sie würde den Besten brauchen, in Anbetracht ihres … na ja, Sie wissen schon, ihres Geldes. Ihrer Familie.«
»Und hat sie mit einem Anwalt gesprochen?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, sie war immer noch in dem Stadium, wo sie den Mut aufbringen musste, das zu tun. Emma war ihr Leben. Und diese Scheidung wäre auf keinen Fall glatt und sauber abgelaufen.«
»Sie wissen also nicht, wen sie wegen einer eventuellen Scheidung kontaktiert haben könnte?«
»Nein. Tut mir leid.«
Niki blickte Max an und nickte ihm zu, dass sie für den Moment keine weiteren Fragen hatte. Max erwiderte das leichte Nicken. Niki sagte: »Ich werde mich kurz mit Ihrer Frau unterhalten. Sie muss bestätigen, um welche Uhrzeit Sie an diesem Abend nach Hause kamen.«
Kagens Blick flackerte zwischen den beiden Detectives hin und her. »Ist das wirklich notwendig?«
Max legte den Kopf schief und sah Kagen mit fragendem Blick an. Die Frage lautete ungefähr: Was zum Teufel?
Wie konnte ein Mann mit einem Abschluss in Jura eine so blöde Frage stellen? »Sie waren an diesem Abend mit Mrs. Pruitt zusammen, bevor sie ermordet wurde. Sie haben gesagt, dass Sie um halb zwölf zu Hause waren. Das ist wichtig. Wie würde es aussehen, wenn wir uns diese Aussage nicht von Ihrer Frau bestätigen ließen?«
Kagen nickte. Natürlich begriff er das.
Alle drei erhoben sich und Niki machte sich auf den Weg zur anderen Straßenseite, wo Mrs. Kagen ihr vom Hauseingang entgegenblickte, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Wir sind nicht hier, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen«, erklärte Max, »aber wir untersuchen alle Eventualitäten. Wenn Sie also irgendwelche weiterführenden Informationen haben, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Mund aufzumachen.«
»Mir fällt nichts weiter ein. Glauben Sie mir, ich will alles tun, was ich kann, um zu helfen. Jennavieve war …« Kagen sah aus, als wollte er in Tränen ausbrechen. Er beendete seinen Satz aber nicht. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, ganz egal was, bitte zögern Sie nicht.«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen«, nahm Max den Faden auf, »wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich gern, dass Sie auf die Wache kommen, damit wir Ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe nehmen können. Das ist Routine in einem solchen Fall. Wäre möglich, dass wir Sie als Verdächtigen ausschließen müssen.«
Kagen blieb der letzte Atemzug in der Kehle stecken. Er blickte hektisch zwischen Max und seiner Frau hin und her, die sich inzwischen mit Detective Vang unterhielt. »Sie werden meine Fingerabdrücke in Jennavieves Haus finden. Ich bin mehrere Male dort gewesen.«
An der Sache war noch mehr dran, das spürte Max. Kagen ließ etwas aus – etwas, das ihn nervös die Finger verschränken ließ und seinen Blick immer wieder zu seiner Frau hinüberzog.
»Ich nehme an, Ihre Frau war nicht ebenfalls eingeladen?«, wollte Max wissen. Er nickte in Richtung des Hauses.
»In Ordnung, Detective, die Sache ist die: Manchmal haben Jennavieve und ich auch bei ihr zu Hause gearbeitet. Das war ihr lieber, als ins Büro zu kommen. Es war einfach bequemer so. Aber wir haben
dort wirklich immer nur gearbeitet, und das auch nur gelegentlich.«
»Und Ihre Frau hatte nichts dagegen, dass Sie im Haus der Pruitts gearbeitet haben?«, hakte Max nach.
Kagen blickte auf eine Löwenzahnpflanze neben seinem Schuh. »Meiner Frau hat der Gedanke nie besonders gefallen. Wir haben uns häufig deswegen gestritten. Unter uns, ich habe ihr nicht immer erzählt, wenn wir bei Jennavieve zu Hause gearbeitet haben. Aber ob es ihr gefiel oder nicht, Jennavieve Pruitt hat unsere Rechnungen bezahlt. Sie war meine einzige Einkommensquelle. Wenn sie an einem oder zwei Tagen im Monat zu Hause arbeiten wollte, hatte ich da sicher nichts dagegen. Aber es war schlichtweg einfacher, diese Info beim abendlichen Familienessen nicht herauszuposaunen.«
»Also kommen Sie nun auf die Wache und geben uns Ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe?«
Kagen sah zu seinem Häuschen hinüber, zu seiner Frau, deren Leben der künstlichen Normalität eines Fernsehwerbespots zu gleichen schien. Er lächelte und winkte ihr zu, damit sie sich keine Sorgen machte. »Es tut mir leid«, erwiderte er, »aber dieses Angebot möchte ich lieber ablehnen.«