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Es war ein paar Minuten vor sechs am frühen Morgen, als Boady Sanden seinen großen Zeh in das Schwimmbecken des St. Paul Athletic Club hielt. Er war allein. Seine Zehen durchbrachen die glasklare Oberfläche des Wassers und er glitt ins Becken hinein, dümpelte ein paarmal auf und ab, lauschte dem leisen Schlürfen der Wellen, das durch den leeren Raum hallte. Dann schwamm er mit einem kräftigen Zug los.
Als er im Bruststil durchs Wasser pflügte, dachte er darüber nach, wie es wohl sein mochte, nach sechs Jahren Abwesenheit wieder einen Fuß in einen Gerichtssaal zu setzen.
Er dachte an das letzte Mal, als er vor einer Geschworenenrunde stand. An das Zittern seiner Hände, den Druck in seiner Brust, als er sich erhob, um sein letztes Eröffnungsplädoyer zu halten. Er hatte ganze drei quälende Minuten vor den Geschworenen gestanden, bevor er überhaupt ein Wort herausbrachte. Mehr als alles andere hatte Boady sich davor gefürchtet, einen weiteren unschuldigen Mann ins Gefängnis zu schicken.
Boady wechselte vom Bruststil zum Kraulen. Zug – Zug – Zug – Atemholen. Er sah Miguel Quintos Gesicht immer noch vor sich, sah den schockierten Ausdruck, als der Richter den Schuldspruch verlas und ihn schuldig sprach; vielleicht hatte sich der Junge auch verraten gefühlt. Er erinnerte sich an seine eigenen Gedanken: Manchmal gewinnst du, manchmal verlierst du. Das war natürlich nicht das, was er zu Miguel sagte. An die genauen Worte erinnerte er sich nicht, aber er war sicher, er hatte sich zuversichtlich gegeben, was die Berufung anging. Eine weitere Lüge. Boady wusste, dass er nicht derjenige war, der mit ihnen in Berufung gehen würde. Der Familie war bereits im Verlauf der Verhandlung das Geld ausgegangen. Die Berufung würde er an das Büro des staatlichen Pflichtverteidigers weiterreichen und wäre dann diesen Jungen los.
Er warf sich herum, um sich für die nächste Bahn abzustoßen, aber seine Füße trafen nicht einmal die Beckenwand. Er hatte sich zu früh umgedreht. Zug – Atemzug, Zug – Atemzug. Er war aus dem Rhythmus gekommen. Atme ruhiger, dachte er. Komm wieder in die Spur. Zug – Zug – Zug – Atemzug.
Miguels Familie hatte ihn zu spät engagiert. Zumindest war es das, was Boady sich selbst damals einredete. Miguel war zur Polizei gegangen und hatte eine Aussage gemacht. Das war ein Fehler gewesen. Wenn er doch bloß keine Aussage gemacht hätte. Aus einem Ackergaul konnte man eben kein Rennpferd machen, nicht wahr?
Und die Geschichte, die er der Polizei erzählt hatte … Er hätte einfach gestehen sollen, statt sich einen solchen Mist auszudenken. Das hätte seiner Familie eine Menge Geld gespart. Sie hätten ihren Haushaltswarenladen nicht verkaufen müssen, um Boady zu bezahlen, damit er ihren Sohn verteidigte.
Drehen. Diesmal war Boady bereits zu nah an der Wand und spürte, wie seine Fersen an der Seite des Beckens entlangschleiften. Hatte er die Beine nicht weit genug angewinkelt? Er stieß sich in einem unpraktischen Winkel ab und musste sich anstrengen, mit der linken Hand ein paar kräftige Züge zu machen, um wieder in die Bahn zu kommen.
Natürlich hatte die Polizei Miguel seine lahme Geschichte nicht abgekauft. Er hatte gesagt, er sei zu seinem Dealer gegangen, um ein bisschen Gras zu kaufen, nur eine kleine Menge, die ihn durch die Prüfungswoche bringen sollte. Er taucht also beim Apartment des Mannes auf und findet die Tür nur angelehnt. Er macht sie auf und sieht Kevin Deavor, seinen Dealer, tot am Boden liegen. Das Blut sickert noch aus dem Loch in seinem Kopf. Macht Miguel, dass er wegkommt? Ruft er die Bullen, um den Mord zu melden? Nein.
Miguel durchsucht die Bude. Er braucht eh Geld fürs College, und wenn er vielleicht noch ein bisschen Gras finden kann, umso besser. Er hinterlässt seine Fingerabdrücke und Hautzellen überall in Deavons Wohnung. Er hinterlässt seinen Schuhabdruck im Blut, das sich über den Küchenfußboden verteilt hat. Und als er 5800 Dollar in bar unter der Matratze des Toten findet, behält er das Geld und lässt es ordentlich in der Plastiktüte gestapelt, in der Deavor es aufbewahrt hat. Und genau so finden es die Bullen später, als sie Miguels Bude durchsuchen.
Die Polizei hatte Miguel Quinto aufgrund der Fingerabdrücke in Deavors Apartment identifiziert. Dann fanden sie Deavors Geldtüte in Miguels Rucksack. Deavors Fingerabdrücke waren auf der Tüte. Deavors Blut klebte an Miguels Schuhen. Sie fanden alles, bis auf die Kaliber-22-Waffe, aus der die Kugel direkt in Deavors Hirn abgefeuert worden war.
Und dann nahmen Miguel Quintos verzweifelte Eltern eine Hypothek auf ihr Haushaltswarengeschäft in West St. Paul auf, um sich den großen Boady Sanden leisten zu können, der ihren Sohn verteidigen sollte.
Am Tag, als das Urteil in Miguels Fall verkündet wurde, hatte Boady für abends eine Einladung zum Dinner. Ihm sollte eine Ehrung des Warren E. Burger Advokatenstifts verliehen werden, für seine Dienste und seine Fähigkeiten als Prozessanwalt. Er wusste noch, dass er gedacht hatte, wie nett es doch wäre, wenn er vor dieser Ehrung einen Freispruch für Miguel Quinto erwirken könnte. Das wäre der perfekte Einstieg in den Abend gewesen. Er erinnerte sich auch, dass er besorgt war, die Geschworenen könnten ihn zu lange im Gerichtssaal aufhalten, während sie zu einem Urteil kamen, und er käme deswegen womöglich zu spät zu seinem Dinner.
Wie viele Bahnen war er bereits geschwommen? Zwölf? 14? Boady mühte sich ab, ausreichend Sauerstoff in die Lunge zu atmen, und fühlte sich, als hätte er 20 Bahnen hinter sich, obwohl er wusste, dass er noch nicht so lange im Wasser war.
Schlussendlich kamen die Geschworenen ohne Verzug in den Saal zurück, also war sein Dinner gerettet. Sie befanden Miguel des Mordes an Kevin Deavor schuldig. Boady würde nicht als triumphaler Held zu seiner Ehrung gehen, wie er gehofft hatte, aber dieser Fall war auch alles andere als leicht zu gewinnen gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Geschworenen sich anderthalb Tage Zeit ließen, bevor sie zu einem Urteil kamen. Das war doch eine Art Teilsieg, auch wenn Miguel Quinto das wohl kaum so sehen mochte. Er flüsterte dem Jungen etwas Ermutigendes zu – Lügen über die guten Chancen bei einer Berufung –, weil er seinem Klienten Auftrieb geben wollte. Der Junge brauchte etwas, worauf er hoffen konnte, während er sich an sein neues Leben im Gefängnis gewöhnte.
Boady fuhr zu seinem Dinner. Er nahm die Ehrung mit Würde und einer Spur einstudierter Demut entgegen. Lächelnd ließ er den Blick über das Meer von Richtern und erfolgreichen Anwälten schweifen, die ihm applaudierten, und war stolz darauf, wie weit er es seit seiner Zeit als Pflichtverteidiger gebracht hatte. An jenem Abend kam er heim zu Diana und schlief tief und friedlich in seinem Bett. An Miguel Quinto verschwendete er keinen weiteren Gedanken.
Der Fall würde ihn erst drei Monate später wieder einholen.
Der Anruf kam von der Pflichtverteidigerin, die für Miguels Berufungsverfahren zuständig war. Als Boady hörte, wer am Telefon war und mit ihm sprechen wollte, dachte er zunächst an die potenziellen Berufungsgründe. Es kam häufig vor, dass sich Berufungsanwälte mit Prozessanwälten besprachen, um von ihnen zu erfahren, wo sich eventuelle Streitpunkte verbargen. Er ging bereits im Kopf die Punkte durch, an die er sich in Miguels Fall erinnerte, aber der war recht eindeutig gewesen und ihm fiel auf Anhieb nichts ein. Als er den Hörer in die Hand nahm, informierte ihn die Frau am anderen Ende, dass Miguel Quinto tot in seiner Zelle gefunden worden war. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Sie war der Meinung, dass Boady das wissen sollte.
Boadys Hand schlug an die Kacheln des Beckenrands und jagte ihm einen schmerzhaften Schauer den rechten Arm hinauf. Er drehte den Kopf gerade noch nach links weg, als seine Schulter hart gegen die Beckenwand stieß. Er hatte die Drehung verpasst und völlig aus dem Blick verloren, wo er sich gerade befand.
Er ließ sich an der Oberfläche treiben, während der Schmerz von seinem Handgelenk aus den Arm hinaufschoss. Er inspizierte seine Schulter und entdeckte eine leichte Abschürfung. Die Luft schien dünn und er atmete schwer und tief, hielt sich am Beckenrand fest wie ein verängstigtes Kind. Dann blickte er sich um und wurde gewahr, dass er nicht mehr allein im Becken war. Eine Frau mit Badekappe schwamm in gemächlichem Tempo die äußerste Bahn entlang. Eine weitere, ältere Frau, wahrscheinlich schon Ende 70, machte sich gerade bereit, auf der Bahn neben ihm ins Wasser zu steigen. Boady rollte sich herum, auf den Rücken. Er füllte die Lunge mit Luft, um seinem Körper Auftrieb zu geben, und trat dann mit den Beinen Wasser, ließ die Arme schlaff an den Seiten treiben. Er holte in kurzen schnellen Zügen Atem, ließ den Brustkorb die meiste Zeit voller Luft.
Die Nachricht von Miguels Tod machte Boady auf ähnliche Weise traurig, wie es der Tod eines entfernten Verwandten getan hätte. Er besaß keine echte Verbindung zu dem Jungen. Er war nur der Anwalt gewesen, kein Familienmitglied. Hätten sie von ihrem Klempner oder Postboten erwartet, dass er zusammenbrach und den Tod eines Kunden beweinte? Hätten sie nicht; wieso also sollte Boady um den Jungen weinen? Er war engagiert worden, um einen Job zu erledigen, und das hatte er gemacht.
Aber nun drangen diese Gedanken in sein Bewusstsein und bewirkten einen allmählichen Sinneswandel. Hatte er wirklich alles in seiner Macht Stehende getan? Er hatte sich nicht voll und ganz auf den Fall konzentriert, jedenfalls nicht so wie damals, als er seinen allerersten Mordfall verhandelte. Aber so konzentriert musste er andererseits auch nicht mehr sein, denn er besaß Erfahrung.
Boady nahm an Miguels Beerdigung teil, weil ihn die Gedanken, die er sich um die ganze Sache machte, dorthin trieben. Als Miguels Mutter ihm dafür dankte, alles für ihren Sohn getan zu haben, was er konnte, schenkte Boady ihr seinen besten mitfühlenden Blick, aber insgeheim dachte er sich: Das passiert eben, wenn du deinen Drogendealer umbringst.
Zwei Monate später bekam Boady einen Anruf von Max Rupert. Der fand, Boady sollte wissen, was passiert war, bevor es durch die Nachrichten ging. Bei einer Drogenrazzia war kürzlich ein Kaliber-22-Revolver gefunden worden. Die ballistische Untersuchung ergab zweifelsfrei, dass es sich um die Waffe handelte, mit der Kevin Deavor erschossen worden war. Die Daten der Mobilfunkmasten bewiesen, dass ein Mann namens Robert Wallace in Deavors Apartment gewesen war, und zwar nur wenige Minuten, bevor Deavor ermordet wurde. Mit diesen neuen Erkenntnissen bewaffnet bestellten sie Wallace zum Verhör ein. Nach einer kurzen Befragung gestand Wallace, Kevin Deavor umgebracht zu haben.
Miguels billige Ausrede, er habe Deavor tot aufgefunden und dann lediglich die Wohnung durchsucht, hatte der Wahrheit entsprochen. Miguel Quinto war unschuldig gewesen.