29
Boady starrte auf das oberste Blatt seines gelben Schreibblocks, als es an der Tür klingelte. Er starrte jetzt schon seit dem Abendessen auf das leere Blatt und wartete darauf, dass ihm eine Idee kam, ein brillanter Gedanke, der es ihm erlauben würde, den Fortgang der Verhandlung zum Scheitern zu bringen. Das Klingeln war eine willkommene Ablenkung für sein blockiertes Hirn. Dabei spielte es gar keine Rolle, dass es schon fast neun Uhr abends war, auch wenn Diana gesagt hätte, dass es zu spät für Besuch war.
Boady öffnete die Tür und erblickte Ben und Emma Pruitt auf seiner Veranda. Bens Blick war auf die Summit Avenue gerichtet, wanderte erst die Straße hinauf, dann hinunter. »Dürfen wir reinkommen?«, fragte er, bevor Boady ihn hereinbitten konnte.
»Natürlich«, sagte Boady und trat zur Seite.
Ben betrat das Wohnzimmer und setzte Emma auf die Couch. »Kannst du ganz kurz hierbleiben, meine Süße? Ich muss ein paar Minuten mit Mr. Sanden reden.«
Emma nickte ohne ein Wort.
Ben nickte in Richtung Arbeitszimmer und die beiden gingen hinein. Ben schloss die Tür.
»Was ist los, Ben?«
»Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass irgendetwas passiert ist.«
Boady setzte sich hinter den Schreibtisch und Ben nahm erneut ihm gegenüber Platz. »Wir waren heute Abend beim Haus. Wir waren nicht mehr dort, seit Jennavieve gestorben ist. Bisher haben wir im Wochenendhaus gewohnt. Aber Emma brauchte frische Kleidung und ich brauchte auch ein paar Dinge. Das Absperrband war nicht mehr da. Wir hätten wieder ins Haus ziehen können, wenn wir wollten, aber das konnte ich einfach nicht.«
Boady sah, dass Bens Hände zitterten, und fragte: »Möchtest du vielleicht etwas trinken?«
»Nein danke«, lehnte Ben ab. »Ich dachte, wenn wir schon in der Gegend sind, wäre es vielleicht schön für Emma, etwas Zeit mit ihrer Freundin zu verbringen. Catie Kolander, sie wohnt in der Nachbarschaft. Also habe ich wie üblich in der Einfahrt geparkt, wir haben unsere Sachen von drinnen geholt und alles ins Auto geladen.
Dann sind wir zum Haus der Kolanders rübergegangen. Ich habe den Abend mit Caties Mom Terry und ihrem Mann Bob verbracht, während Emma und Catie gespielt haben.«
Ben blickte sich über die Schulter hinweg zur Tür um, spähte durch den Glaseinsatz, um Emma auf der Couch zu betrachten. »Ich mache mir solche Sorgen um sie. Ich dachte, es wäre schön, wenn sie wenigstens einen ganz normalen Abend hätte. Nur ein paar Stunden mit einer Freundin, so wie früher.«
»Ist denn mit Emma irgendetwas passiert?«
»Nein, so meinte ich das nicht, tut mir leid. Wir hatten einen richtig netten Abend. Die Kolanders waren schon immer sehr nett zu mir und zu Emma. Aber als wir gegangen sind, habe ich auf dem Rückweg einen Streifenwagen am Straßenrand vor dem Haus gesehen. Ich habe die Straße überquert, um mir das genauer anzuschauen, und entdeckte den zweiten Streifenwagen in der Einfahrt. Zwei Beamte standen vor der Haustür. Zwei weitere standen ein Stück weiter hinten in der Einfahrt, mit gezogener Waffe.«
»Was?«
»Ich bin ganz sicher, die beiden in der Einfahrt hatten ihre Waffen gezogen und die beiden an der Tür hatten die Hände am Griff. Dann fuhr noch eine dritte Streife vor und parkte gleich auf der Straße.«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich habe Emma ganz beiläufig mit um die Ecke genommen und mir die Sache aus der Ferne angeschaut. Kurz darauf hörte ich sie etwas rufen, und dann haben sie die Tür aufgebrochen und sind reingegangen.«
»Was haben sie denn gerufen?«
»Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber für mich sah das aus, als wollten sie einen Haftbefehl vollstrecken. Die müssen meinen Wagen gesehen und gedacht haben, dass wir im Haus sind.«
Boady erhob sich und trat ans Fenster hinter seinem Schreibtisch. Draußen konnte er keine verdächtige Regung erkennen, keine Streifenwagen, keine Zivilfahrzeuge.
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Ich bin mit Emma zum Fußballfeld in der Nähe gegangen und habe dann ein Taxi gerufen.«
»Du hast aber nicht selbst gehört, dass irgendeiner der Beamten das Wort ›Haftbefehl‹ ausgesprochen hat, oder?«
»Nein.«
»Nun, was mich angeht: Emma und du, ihr seid meine Gäste. Ihr bleibt heute Nacht hier.«
»Nehmen wir an, dass diese Polizisten da waren, um mich zu verhaften …«
»Dann hat die Grand Jury der Anklage zugestimmt und befunden, dass die Beweise ausreichen. Sie haben Mordanklage erhoben. Das ist die plausibelste Erklärung.«
Ben begann zu zittern. Sein Atem kam in schweren, kurzen Stößen. »Wie … Ich verstehe das nicht. Ich war doch gar nicht in Minneapolis. Das wissen die doch. Was geht denn da vor?«
»Sie wissen irgendetwas, das wir nicht wissen.«
»Was zur Hölle sollen die denn wissen können? Ich habe meine Frau nicht umgebracht. Die können gar nichts wissen, weil es da nichts zu wissen gibt. Es ist nichts passiert, ich bin’s nicht gewesen, ich war verflucht noch mal in Chicago.« Bens Stimme wurde lauter und Boady sah Diana auf der anderen Seite der Tür. Sie saß bei Emma auf der Couch, hatte sich aber zum Arbeitszimmer umgedreht.
»Beruhige dich, Ben. Für Emma musst du dich zusammenreißen. Ich bitte dich, nicht auszuflippen. Wir wissen noch nicht, ob wirklich Anklage erhoben wurde. Wir gehen morgen gemeinsam hin. Wenn wir uns irren, dann machen wir uns völlig umsonst jede Menge Sorgen.«
»Und wenn wir uns nicht irren? Wenn sie mich wegen Mordes angeklagt haben?«
Boady setzte sich wieder hin. »Nun, darauf haben wir uns doch vorbereitet.« Er versuchte sich an einem ermutigenden Lächeln. »Du kennst doch das alte Sprichwort: Eine Grand Jury würde auch ein Schinkensandwich anklagen. Wenn das der Fall ist und Anklage erhoben wurde, dann gehen wir gemeinsam zum Polizeirevier. Aber wir gehen nicht vor Montag. Es gibt keinen Grund, das Wochenende in Untersuchungshaft zu verbringen, weil du keinem Richter vorgeführt werden kannst. Wir kümmern uns Montagfrüh als Erstes darum. Keine Fotografen, keine Presse. Wir gehen mit erhobenen Köpfen da rein. Die müssen das Ganze schließlich immer noch zweifelsfrei beweisen. Und das ist der Kampf, auf den wir uns vorbereitet haben.«
»Die werden mich bis zur Kautionsanhörung dabehalten.«
»Wir bringen dich da so schnell wie möglich rein und wieder raus.«
»Und was, wenn der Richter mir eine Kautionslösung verweigert?«
Boady schwieg und sah Ben mehrere Sekunden lang bloß an, lange genug, dass Ben klar wurde, dass er die Antwort auf seine Frage bereits
kannte. Wenn er nicht auf Kaution freikam, würde er in einer Gefängniszelle sitzen und bis zum Prozessbeginn den Zeigern der Uhr zusehen müssen.
»Du weißt, wie es im schlimmsten Fall läuft, Ben. Wir müssen jetzt hochgehen und ein Zimmer für Emma herrichten. Du bleibst übers Wochenende mit ihr hier. Wir wissen noch nicht, ob es einen Haftbefehl gibt. Und bis wir das wissen, seid ihr beide meine Gäste. Wir können uns das Wochenende über darum kümmern, dass sie es sich hier wohnlich macht, sich an uns gewöhnt. Du kannst ihr erklären, was du für notwendig hältst. Und am Montagmorgen fahren wir in die Innenstadt und finden heraus, was Sache ist.«
Ben lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und begann leise zu lachen. Je mehr er versuchte, das Lachen zu unterdrücken, desto stärker wurde es.
»Ich kann es echt nicht fassen«, stieß er hervor. »Das alles ist wie eine Farce … Ich meine, das ist doch absurd wie bei Monty Python. Es wäre geradezu komisch, wenn es meine Tochter nicht umbringen würde. Sie hat ihre Mutter verloren und ist am Boden zerstört. Wie erkläre ich ihr, dass ich ins Gefängnis gehe, weil die Polizei glaubt, ich hätte ihre Mutter umgebracht? Was soll ich ihr denn sagen? Wie soll ich es ihr sagen?«
Boady dachte gründlich über diese Fragen nach, aber er hatte keine gute Antwort darauf. Schließlich riet er: »Du sagst ihr, dass du sie liebst. Du sagst ihr, dass du so bald, wie es irgend möglich ist, wieder bei ihr bist. Du sagst ihr, sie soll an dich glauben.« Boady sah Ben in die Augen. Die Worte waren im Grunde an Ben gerichtet, auch wenn er ihm einen Rat gab, was er seiner Tochter sagen sollte. »Du sagst ihr, dass du diesen Prozess gewinnen wirst. Dass du zu deinem kleinen Mädchen zurückkehrst. Ich verspreche dir, ihr beide werdet bald wieder hier sein, gemeinsam. Sag ihr, dass sie sich daran festhalten soll.«
Boady hielt Ben die Hand hin, und als der sie ergriff und schüttelte, schien das Zittern seiner Finger nachzulassen. Dann lächelte er, und es war das erste echte, aufrichtige Lächeln, das er seit einer Weile gezeigt hatte.
Boady erwiderte das Lächeln. »Und jetzt lass uns schauen, was wir machen können, damit unser Gästezimmer ein schönes Zuhause für dein kleines Mädchen wird.«