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Ebenfalls am frühen Montagmorgen, ungefähr zum selben Zeitpunkt, als die beiden Deputys Ben Pruitt die Handschellen anlegten, lieferte ein Kurier zwei Päckchen für Max und Niki ab.
Das erste enthielt die Auswertung der Laptops und Handys, die Ben und Jennavieve Pruitt gehörten. Im zweiten Päckchen fand Max 28 CD-ROM vom Verkehrsministerium des Staates Illinois – die Aufzeichnungen der Überwachungskameras an den Mautstellen. Max hielt Niki beide Päckchen hin. »Welches willst du?«
»Keine leichte Wahl. Eins wird mich zu Tode langweilen, wenn ich mir die Computerdateien und Browser-Historien durchlese, beim anderen muss ich mir anschauen, wie Autos ganz langsam durch die Mautstellen rollen, bis ich mich am liebsten erschießen möchte. Welches willst du?«
»Ich werfe eine Münze.« Max griff in die Hosentasche und holte eine Fünf-Cent-Münze heraus. Er warf die Münze hoch und klatschte sie auf sein Handgelenk. »Wenn es Kopf ist, machst du die Mautstellen-CDs, und wenn es Zahl ist, machst du die Auswertung der Computer.«
Niki nickte und Max hob die Hand. Die Münze zeigte Monticello, den Landsitz Thomas Jeffersons. Zahl. Er reichte Niki das Päckchen mit den Auswertungen.
»Großartig«, kommentierte sie. »Da ich in letzter Zeit sowieso an Schlaflosigkeit leide.«
»Wer sagt, dass Mordermittlungen nicht aufregend sind?« Max ließ sein Päckchen auf seinen Schreibtisch fallen. »Ich habe noch schnell etwas anderes zu erledigen. Bin gleich wieder da.«
Niki sah ihn an und versuchte wahrscheinlich, seinem Gesicht abzulesen, was er im Schilde führte, aber Max wandte sich ab und verließ den Raum, bevor sie dazu Gelegenheit hatte.
Max hatte die Untersuchungsakte zum Fall seiner Frau nie gelesen, kannte aber dennoch die meisten Einzelheiten. Louis Parnell hatte den Ruf gehabt, Geheimnisse nicht für sich behalten zu können, also lud Max den Kollegen ab und zu auf ein Bier ein, um zu erfahren, was es Neues gab.
Jenni Rupert war zu Fuß in einem Parkhaus unterwegs gewesen, an einem Dienstagnachmittag. In diesem Gebäude parkte sie regelmäßig ihren Wagen. Das Parkhaus wurde hauptsächlich von den Angestellten des Hennepin County Medical Center benutzt. Jenni arbeitete in dem Krankenhauskomplex als Sozialarbeiterin. Das Parkhaus hatte keine Überwachungskameras, damals jedenfalls noch nicht. Niemand hörte oder sah irgendetwas.
Ihre Leiche war auf der dritten Parkebene gefunden worden. Die Knochen ihrer Halswirbelsäule waren von einem Reifen durchtrennt worden. Am Gehäuse eines Frontscheinwerfers, das in der Nähe gefunden wurde, klebte Jennis Blut. Das Gehäuse trug auch eine Seriennummer, die ihnen verriet, dass es sich um einen Toyota Corolla von 2008 handelte. Der Zusammenstoß war heftig genug gewesen, um Spuren von gelbem Autolack auf Jennis Kleidung zu hinterlassen. Sie kannten die Marke, das Modell und die Farbe des Autos, das sie getötet hatte, aber trotz einer landesweiten Suche nach einem gelben Corolla mit Schäden an der Vorderseite war der Wagen niemals gefunden worden.
Irgendwann hatte Max aufgehört, mit Parnell zu reden. Er hielt es nicht aus, jedes Mal nur wieder zu erfahren, dass es keine neuen Erkenntnisse oder Hinweise gab. Und als Louis Parnell in den Ruhestand ging, vergrub Max seine Hoffnung ganz tief. Er durfte die Akte nicht einsehen, und Parnells Nachfolger hatte Jennis Fall nicht auf seiner Liste. Die da oben hatten entschieden, dass die Zeit gekommen war, Jenni Ruperts Akte ins Archiv zu schicken.
Als Max stehen blieb und aufsah, stand er bereits vor dem Archivraum.
Er warf einen raschen Blick den Korridor hinauf und hinunter, bevor er eintrat. Obwohl er das Archiv bei der Arbeit recht häufig aufsuchen musste, fühlte er sich diesmal wie ein Dieb. Er betrat den Raum und nickte einem Mann mit grauen Haaren und dichtem Schnurrbart zu, den er als Felix kannte.
»Morgen, Detective.«
»Morgen, Felix. Ich muss mir eine von den Akten ungeklärter Fälle ansehen.«
»Klar. Haben Sie eine Fallnummer für mich?«
Max las die Kennnummer des Polizeiberichts von einem Zettel ab, obwohl er sie immer noch im Kopf hatte. Er hatte sich die Nummer damals gemerkt, als Parnell in dem Fall ermittelte.
Felix kehrte mit einer Akte in einem Ordner mit roter Kordel zurück. Sie war bestimmt acht Zentimeter dick, umfangreicher, als er erwartet hatte.
»Wollen Sie die hier lesen?«
»Nein, ich nehme sie mit.« Max lächelte beim Reden. Er blickte Felix in die Augen, suchte nach Anzeichen, dass diesem ein Licht aufging. Er wartete darauf, dass Felix ihn davon abhielt, eine Akte mitzunehmen, die er eigentlich nicht haben dürfte.
Felix schwieg.
Max unterschrieb den Erhalt der Akte. Dann klemmte er sie unter seinen Arm und verabschiedete sich von Felix.