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Max hatte die Nacht damit verbracht, das Innere des Corolla gründlich zu durchsuchen, die wenigen Entdeckungen zu katalogisieren und vorsichtig alles wieder an seinen Platz zu legen, sodass der Techniker der Spurensicherung das Ganze später wiederholen konnte.
Bevor er zu seiner morgendlichen Besprechung mit Dovey fuhr, duschte und rasierte er sich und verbrachte eine Stunde in einem Kopierladen, wo er sich ein Duplikat von Jennis Ermittlungsakte machte. Jede einzelne Seite, selbst die Fotos. Er wies den Angestellten an, die Fotos in eine eigene Mappe zu packen und diese mit Tesafilm zuzukleben. Er wollte nicht, dass die Bilder aus Versehen herausfallen konnten. Er hatte sich diese Bilder nie angesehen und würde das auch in Zukunft niemals tun – es sei denn, er hätte keine andere Möglichkeit, aber wahrscheinlich auch dann nicht.
Nach seinem Treffen mit Dovey würde Max die Akte ins Archiv im Rathaus zurückbringen. Die Zeit war gekommen, diese Untersuchung an jemand anderen zu übergeben. Jemanden, der DNA-Tests und Fingerabdrücke veranlassen konnte, und der nicht der Ehemann der Verstorbenen war.
Als er mit Niki im Konferenzzimmer auf Dovey wartete, lag die Erschöpfung immer schwerer auf seinen Augenlidern. Er versuchte, seine Gedanken vom Mord an seiner Frau weg und hin zum Fall Pruitt zu lenken, aber sein Verstand war vor Müdigkeit ganz träge.
Dovey betrat den Raum, seine Schritte forsch und selbstbewusst. Er setzte sich auf den Kunstledersessel und klatschte einmal in die Hände. Das Geräusch sorgte dafür, dass Max’ schwere Lider sich mit einem Ruck hoben.
»Lassen Sie hören, was Sie haben«, dröhnte seine Stimme. »Beeindrucken Sie mich.«
Max und Niki wechselten einen Blick, sahen dann beide Dovey an. Max begann.
»Ich habe mehr als 40 Stunden Videomaterial von Fahrzeugen gesichtet, die durch die Mautstellen fahren … nun, es war kein roter Viertürer mit Ben Pruitt am Steuer dabei.«
Hektische rote Flecken bildeten sich auf Doveys Hals. Er packte seine rechte Faust mit der linken Hand, ließ die Knöchel knacken und machte dann dasselbe mit der anderen Hand. Danach atmete er tief ein und fuhr fort. »Wir können also nicht nachweisen, dass Ben Pruitt in der Nacht, in der seine Frau ermordet wurde, von Chicago hierher zurückgefahren ist?«
»Es gibt noch andere Strecken«, gab Max zu bedenken. »Er muss die Kameras umfahren haben.«
»Ich dachte, Sie sagten, dass er die Interstate nehmen muss, um rechtzeitig wieder hier zu sein. Haben Sie nicht genau das gesagt? Oder habe ich mich da verhört?«
»Er hätte weitaus schneller als erlaubt fahren müssen, wenn er auf Nebenstraßen unterwegs gewesen wäre. Das ist ziemlich riskant, wenn man auf dem Weg zu seiner Frau ist, um sie zu ermorden. Aber es ist theoretisch möglich.«
»Dann ist alles, was mir für meinen Fall bleibt, ein mickriges ›theoretisch möglich‹? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie weit theoretisch möglich von ›zweifelsfrei bewiesen‹ entfernt ist?«
»An den Videoaufnahmen kann ich nichts ändern. Sie haben mich gefragt, was ich darauf gefunden habe, und ich habe es Ihnen gesagt. Außerdem haben Sie doch Malena Gwin. Sie hat ihn gesehen, also brauchen Sie gar nicht mehr als ›theoretisch möglich‹. Ihre Aussage macht seine Rückkehr zur Tatsache. Er ist aus Chicago zurückgekehrt, um seine Frau umzubringen. Ob er die Interstate oder irgendwelche Landstraßen genommen hat, spielt keine Rolle. Er war hier.«
Dovey hob die Hand ans Kinn und rieb sich nachdenklich darüber. »Was könnte Boady Sanden finden, um sie in Zweifel zu ziehen? Gibt es irgendetwas, worüber ich mir Sorgen machen müsste?«
Niki, die bisher regungslos neben Max gesessen hatte, meldete sich jetzt zu Wort. »Ich habe sie überprüft, aber da ist nicht viel zu holen. Sie ist Witwe, arbeitet nicht. Hat noch etwas Geld aus der Lebensversicherung ihres Mannes. Davon lebt sie. Ich habe mich in der Nachbarschaft umgehört. Abgesehen davon, dass sie als ziemlich neugierig beschrieben wird, was uns ja nur nützlich sein kann, ist sie völlig normal. Keine Vorstrafen. Keine Anzeichen dafür, dass sie mit Ben Pruitt ein Hühnchen zu rupfen hatte. Es wird der Gegenseite schwerfallen, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen.«
»Was ist mit den Auswertungen der Computer?«, fragte Dovey. »Haben Sie da irgendetwas gefunden?«
Niki zuckte die Achseln. »Nichts, das uns weiterbringen würde. Ich hatte gehofft, Beweise dafür zu finden, dass Mrs. Pruitt mit einem Anwalt über eine mögliche Scheidung gesprochen hat. Ich bin ihre Suchhistorie durchgegangen und da ist nichts. Ich habe überhaupt nichts gefunden, was mit ihrer Beziehung zu tun hatte.«
»Großartig. Grandios«, schimpfte Dovey. »Wir haben Pruitt seit zwei Wochen in Untersuchungshaft und sind keinen Schritt weiter als am ersten Tag. Was ist passiert? Sie beide sollten doch das A-Team sein.«
»Vorsicht, Dovey.« Max lehnte sich auf den Tisch.
»Sie haben mir gesagt, dass es Pruitt war.«
»Er war es auch.«
»Dann bringen Sie mir verflucht noch mal die Beweise!«
Max stand auf. Er war kurz vor dem Ausrasten. Ein Dutzend heftiger Beleidigungen wirbelte in seinem schläfrigen Hirn umher. Aber bevor er den Mund öffnen konnte, um dem Anwalt eine davon an den Kopf zu werfen, wurde das alles von einer Erinnerung weggeblasen, die auf ihn einstürmte wie der Winterwind, wenn man ihm die Tür öffnet.
Sein Bruder Alexander hatte einen Ringkampf gewonnen und war extrem wütend auf seinen Trainer. Er hätte durch seinen Sieg in der Stammmannschaft sein sollen, aber der Trainer behielt ihn in der Reserve. Mit der Begründung, dass Alexander einen Fausthieb eingesetzt hatte, um seinen Kampf zu gewinnen. Max musste seinen Bruder zurückhalten. Es ging sogar so weit, dass er ihn aus der Turnhalle tragen musste.
Es war immer Max’ Aufgabe gewesen, seinen Bruder zu beruhigen und runterzubringen. Einen kühlen Kopf zu bewahren, während sein Bruder wie ein Windrädchen herumwirbeln durfte. »Max der Pfadfinder.« So hatte Alexander ihn immer genannt. Und Jenni hatte ihn ihren Fels genannt. Aber Jenni war nicht mehr da. Alexander war auch nicht mehr da. Und Max konnte fühlen, wie der Geist dieses Pfadfinders sich in nichts auflöste.
Max blieb stehen, atmete langsam und bewusst aus und verließ dann den Raum.