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Es war Boady immer extrem schwergefallen, auf ein Urteil zu warten. In diesen Momenten verschwor sich seine Welt gegen ihn und verweigerte ihm das kleinste bisschen Behaglichkeit. Stühle bekamen eine harte Sitzfläche, seine Kleidung kratzte und juckte, und nachts in seinem Bett schienen plötzlich Dellen aus der Matratze zu wachsen, wo vorher keine gewesen waren. Dass er seine Rastlosigkeit allein durchstehen musste, machte es nicht besser. Diana und er hatten beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn sie Emma nach Missouri mitnahm und Verwandte besuchte. Hier hätten sie keinerlei Möglichkeit, Emma vor den Nachrichten über den Prozessverlauf zu bewahren, und bisher hatte auch sonst nichts, was Boady und Diana versuchten, geholfen, die Niedergeschlagenheit des Mädchens zu vertreiben. Diana und Emma würden in Missouri bleiben, bis es sicher wäre, sie zurückzubringen. Bis die Geschworenen ihren Vater freisprachen.
Also wanderte Boady allein in seinem Haus von Zimmer zu Zimmer, unfähig, den unablässigen Begründungen und Argumenten zu entkommen, die in seinem Hirn auf ihn einstürmten. Er hinterfragte jede Taktik, jede Entscheidung und jede Frage, die im Verlauf der Verhandlung gestellt worden war.
Hatte er das Richtige getan, als er darauf verzichtete, im Zeugenstand Kleinholz aus Malena Gwin zu machen? Er hatte sich eine ganze Liste von Fragen für das Kreuzverhör zurechtgelegt und am Ende keine davon gestellt. Er hatte den Beweis dafür, dass die Straßenlaterne in jener Nacht nicht brannte, als sie den roten Viertürer gesehen hatte. Aber nachdem sie ausgesagt hatte, dass sie nicht mehr glaubte, dass der Fahrer des Wagens Ben Pruitt gewesen sei, hätte die Erwähnung des fehlenden Lichts gegen ihn gespielt. Boady brauchte Gwins größtmögliche Sicherheit, dass es nicht Ben Pruitt gewesen war.
Und was war mit Everett Kagen? Hatte er da etwas übersehen? Worin lag die Quelle der offensichtlichen Spannung zwischen Kagen und seiner Frau? Er hatte das beständige Gefühl, dass ihm in diesem Zusammenhang etwas entgangen war. Aber letztendlich beruhte Kagens Alibi auf der Aussage seiner Frau, die bereit war zu beschwören, dass er spätestens um Viertel vor zwölf zu Hause gewesen sei. Wenn Mrs. Kagen ihren Ehemann deckte, würde ihre Lüge jeder Überprüfung standhalten.
Und dann war da noch die Entscheidung, den Gerichtszusteller und Anna Adler-Kings angeblichen Liebhaber Roger nicht in den Zeugenstand zu rufen. Nach Annas Aussage sprach Lila ihn auf dem Flur an, um zu sehen, ob sie irgendetwas von ihm erfahren konnte, aber er schickte sie weg. Boady und Ben diskutierten die Vor- und Nachteile einer Vorladung unter Strafandrohung. Er war verheiratet und würde die Beziehung möglicherweise leugnen. Sollte er sie allerdings bestätigen, wäre Anna Adler-King als mögliche Täterin damit vom Haken. Das würde aber bedeuten, dass ein wesentlicher Teil von Boadys Schlussplädoyer ebenfalls den Bach hinuntergehen würde.
Letztendlich hatte Boady entschieden, dass er Rogers Abwesenheit dazu verwenden konnte, in den Raum zu stellen, dass Anna Adler-King über diese Affäre gelogen hatte, ebenso wie sie über die alternative Erklärung, wieso sie ihre Schwester gar nicht umgebracht haben konnte, gelogen hatte. »Denn schließlich hätte Mr. Dovey diesen Zeugen aufrufen können, meine Damen und Herren Geschworenen, wenn der geheimnisvolle Verehrer beweisen könnte, dass Anna Adler-King in jener Nacht nicht nach Kenwood gefahren ist. Denken Sie nicht auch so?«
Aber die größten Zweifel, die Boady plagten, als er auf das Urteil wartete, bezogen sich auf seine Entscheidung, Ben Pruitt im Prozess schweigen zu lassen.
Am Ende eines jeden Verhandlungstages besprachen Boady und Ben die Geschehnisse des Tages, planten ihr Vorgehen für den kommenden Tag und diskutierten, ob Ben in den Zeugenstand treten sollte. Es gab pauschale Erwägungen, die sie nach jeder neuen Wendung des Falles analysierten und überdachten. Aber sooft sie die einzelnen Aspekte auch durchkauten, es fühlte sich immer noch wie ein Ratespiel an, so als müssten sie das weitere Vorgehen aus dem Kaffeesatz lesen.
Ben war selbst Strafverteidiger und wusste ebenso gut wie Boady, dass Menschen so veranlagt waren, dass sie immer beide Seiten einer Geschichte hören wollten. Geschworene fanden, sie hatten ein Anrecht darauf, dass der Angeklagte ihnen ins Gesicht sah und sagte, dass er es nicht getan hatte. Es musste ihnen naturgemäß widersprüchlich erscheinen, wenn man ihnen sagte, dass sie einem Mann, der geschwiegen hatte, aus diesem Schweigen keinen Strick drehen sollten.
Aber bei Ben kam auch noch die Rüge hinzu, eine Strafe, die ihm das Gremium für berufliche Verantwortung des Staates Minnesota aufgebrummt hatte. Diese Rüge verkündete der ganzen Welt, dass Ben Pruitt der Täuschung des Gerichts überführt worden war. Es spielte gar keine Rolle, dass das gefälschte Dokument, das er im Prozess vorgelegt hatte, von seinem Ermittler stammte. Das Einzige, was eine Rolle spielte, war, dass die Rüge Dovey praktisch mit Brief und Siegel das Recht verlieh, Ben in der Luft zu zerreißen, wenn er in den Zeugenstand getreten wäre.
Lila hatte die Niederschrift einer Verhandlung aufgetrieben, bei der Dovey jemanden mit einem ähnlichen Kainsmal attackiert hatte. Er hatte zu den Geschworenen gesagt: »Glaubwürdigkeit ist wie ein mit Wasser gefüllter Eimer. Jeder Zeuge trägt diesen Eimer mit sich in den Zeugenstand. Wenn er die Wahrheit sagt, verlässt er den Gerichtssaal und seine Glaubwürdigkeit bleibt intakt. Aber wenn er eine Lüge erzählt, wenn er versucht, das Gericht oder die Geschworenen zu täuschen, schlägt er selbst das Loch in den Eimer. Und dann spielt es keine Rolle mehr, ob es ein kleines Loch aufgrund einer kleinen Lüge ist oder ein großes Loch aufgrund einer großen Lüge. Das Loch sorgt dafür, dass der Eimer undicht ist und das Wasser abfließt. Die Glaubwürdigkeit ist dahin.«
Von Anfang an tendierte Boady eher dazu, Ben durchgängig schweigen zu lassen. Ben schwankte und zauderte. Er wollte den Geschworenen von Angesicht zu Angesicht sagen, dass er seine Frau geliebt und mit ihrem Tod nichts zu tun gehabt hatte. Aber schlussendlich setzte Boady sich durch. Er erinnerte Ben daran, dass all das, was er den Geschworenen erklären wollte, bereits gesagt worden war. Die Befragung, die Max zu Beginn durchgeführt hatte, deckte alle Aspekte ab, die Ben wichtig waren. Boady erklärte ihm, dass er sich nur wiederholen würde, wenn er aussagte. Das Risiko überwog den potenziellen Nutzen.
All diese widerstreitenden Gedanken und Bedenken schnürten Boady die Brust zusammen, als der dritte Tag der Geschworenenberatungen begann. Wenn sich die Beratungen lange hinzogen, führte das tendenziell häufiger zu Freispruch oder der Unfähigkeit, zu einem Mehrheitsurteil zu gelangen. Zumindest war das die gängige Meinung. Diese gängige Meinung konnte allerdings nicht verhindern, dass Boady seine Fingernägel bis aufs Fleisch abkaute. Um zehn Uhr morgens am dritten Tag erhielt er den Anruf, dass die Geschworenen bereit waren, ein Urteil zu verkünden. Das Grummeln in seinen Eingeweiden und das Unwohlsein in seiner Brust verstärkten sich noch einmal.
Ben saß bereits auf seinem Platz hinter dem Anklagetisch, als Boady eintraf. Als alle Beteiligten sich versammelt hatten, rief der Richter die Geschworenen herein.
Sie betraten einer nach dem anderen den Gerichtssaal, die Blicke auf den Boden oder den Rücken des Richters vor ihnen gerichtet. Keiner sah zur Anklagebank oder zum Tisch des Staatsanwalts hinüber. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, ergriff Richter Ransom das Wort.
»Mir wurde mitgeteilt, dass die Geschworenen zu einem Urteil gelangt sind. Ist das korrekt, Frau Vorsitzende und Sprecherin?«
»Das ist korrekt, Euer Ehren«, gab die Geschworene mit der Nummer sieben zurück.
»Der Gerichtsdiener möge das Urteilsformular bitte zur Richterbank bringen.«
Der grauhaarige Gerichtsdiener nahm das Stück Papier von der Geschworenen entgegen und reichte es dem Richter. Richter Ransom las sich das Dokument durch und sagte dann: »Der Angeklagte möge sich zur Urteilsverkündung erheben.«
Ben und Boady standen beide auf. Boady fühlte sich, als müsste er sich gleich übergeben, und konnte sich kaum vorstellen, wie es Ben gehen musste.
»Im Falle Der Staat Minnesota gegen Benjamin Lee Pruitt befinden wir, die Geschworenen, den Angeklagten laut dem in der Anklageschrift vermerkten Tatbestand des vorsätzlichen und geplanten Mordes für schuldig.«