48
Es war längst Abend geworden, bis Boady es über sich brachte, Diana anzurufen. Er saß an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, umgeben von kleinen Stapeln juristischer Fachbücher und Gesetzestexte. Er hatte zwei unterschiedliche Schreibblöcke vor sich liegen, einen mit Notizen für den Antrag auf eine Wiederaufnahme der Verhandlung, den anderen mit Präzedenzfällen und Passagen aus dem Präzedenzrecht, die er für die Berufung verwenden wollte. Er würde argumentieren, dass eine Wiederaufnahme notwendig war, weil Richter Ransom Malena Gwins Zeugenaussage aus dem Anklageverfahren zugelassen hatte. Der Antrag auf Wiederaufnahme würde von Ransom gehört werden, aber die Berufung würde über seinen Kopf hinweg direkt zum Obersten Gerichtshof des Staates Minnesota gehen. Er rechnete nicht damit, dass Ransom sein eigenes Urteil aufheben würde, aber er wollte dennoch einen Versuch wagen.
Nachdem das Urteil verkündet worden war, blieb Boady an Bens Seite, als Richter Ransom ihn zu lebenslangem Gefängnis ohne Bewährung verurteilte. Ben konnte sich kaum auf den Füßen halten, als der Richter das Strafmaß verkündete. Boady hatte die Hand auf der Schulter seines Freundes und spürte, wie Bens Körper sich verkrampfte, während er nach Atem rang.
Danach hatte Boady das Gerichtsgebäude verlassen und war nach Hause gefahren, um bis jetzt an dem Antrag zu arbeiten. Er hatte weder zu Mittag noch zu Abend etwas gegessen, und als er nun auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es schon fast neun war. Obwohl sein Magen rebellierte, wusste er, dass er etwas essen musste. Hühnersuppe mit Nudeln vielleicht. Das bekam er normalerweise gut runter.
Als er aufstand, um in die Küche zu gehen, erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe hinter seinem Schreibtisch. Vielleicht war es nur die undeutliche Spiegelung im Fensterglas oder der gespenstische Schein der Schreibtischlampe hinter ihm, aber er sah nur zur Hälfte lebendig aus. Dunkle Ringe und Tränensäcke unter den Augen, die Haare standen ihm schräg in unterschiedliche Richtungen vom Kopf ab, und seine Wangen schienen schlaff von den Knochen herabzuhängen. Diana hätte mit ihm geschimpft, weil er sich nicht besser um seine Gesundheit kümmerte. Wenn sie ausgesprochen hätte,
was sie wirklich dachte, dann hätte Diana auch dafür mit ihm geschimpft, dass er überhaupt in den Gerichtssaal zurückgekehrt war, da war sich Boady ziemlich sicher.
Er musste sie anrufen. Das Abendessen konnte warten.
»Wir haben heute das Urteil bekommen«, berichtete er. Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen. Er fügte hinzu: »Sie haben Ben für schuldig befunden.«
Diana atmete scharf ein, sagte aber nichts.
»Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich dachte …«
»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, Liebling. Das ist nicht deine Schuld.«
»Ich bin der Anwalt. Ich bin absolut daran schuld. Ich hätte diesen Fall gewinnen sollen. Ein besserer Anwalt hätte einen Freispruch erwirkt. Die Anklage hatte doch nichts in der Hand. Reine Spekulation. Ich weiß nicht, wie ich das verhauen konnte. Es ist wieder genau dasselbe wie mit Miguel Quinto. Ich habe schon wieder einen unschuldigen Mann ins Gefängnis geschickt.«
»Ein besserer Anwalt? Wer denn? Ben Pruitt? Vergiss nicht, Boady, er ist selbst Anwalt. Er war die ganze Zeit mit dir im Gerichtssaal. Wenn er der Meinung gewesen wäre, dass du etwas übersehen hast, hätte er dir das gesagt. Es ist nicht das Gleiche wie bei Miguel Quinto. Ben war ebenso sehr Mitbeistand, wie er dein Klient war. Ihr habt diesen Fall bis ins kleinste Detail gemeinsam vorbereitet. Ich lasse nicht zu, dass du dir für diese Schlappe die Schuld gibst. Du hast getan, was du konntest.«
»Nein. Ich habe etwas übersehen. Ich muss etwas übersehen haben. Ich weiß nicht, was es ist, aber es muss da sein, direkt vor meinen Augen, und dennoch ist es mir entgangen.«
»Boady«, mahnte Diana mit sanfter Stimme, »Liebling, tu das nicht. Du darfst nicht zulassen, dass diese Niederlage dich innerlich auffrisst. Deine Schuldgefühle haben dich schon einmal beinahe umgebracht. Lass nicht zu, dass das wieder geschieht. Denn dann nützt du niemandem etwas, schon gar nicht Ben.«
Boady schloss die Augen und bemerkte erst danach, welche Anstrengung es ihn kostete, sie wieder zu öffnen. »Was sollen wir denn nur Emma sagen?«
Diana antwortete nicht.
»Richter Ransom hat das Strafmaß bereits verkündet. Ben ist auf dem Weg in die Haftanstalt.«
»Sollen wir … Sind wir jetzt Emmas Eltern?«
Zwischen all den anderen Dingen, die ihn umtrieben, war ihm dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. »So hätten die Dinge nicht laufen sollen. Die Vereinbarung sollte nur vorübergehend gelten, aber sie war verbindlich.«
»Was sollen wir ihr sagen?«, fragte Diana.
»Wir müssen ihr die Wahrheit sagen. Wir sagen ihr, dass ihr Vater verurteilt wurde. Erklären ihr, dass Menschen manchmal auch fälschlich verurteilt werden und wir dafür einen Obersten Gerichtshof haben, der das wieder geradebiegen kann. Wir sagen ihr, dass wir in Berufung gehen und das Urteil gegen ihren Vater anfechten werden, dass wir nicht aufgeben.«
»Ich sage ihr das. Aber gibt es denn überhaupt eine Chance? Glaubst du, du hast eine realistische Chance, beim Obersten Gerichtshof zu gewinnen?«
»Ich habe bereits einige Argumente. Ich recherchiere noch, aber ich glaube, dass wir eine Chance haben.«
»Hast du heute Abend schon etwas gegessen?«
Sie kannte ihn einfach zu gut. »Ja, ich hatte einen Happen.«
»Einen Happen?«
»Ich war gerade auf dem Weg in die Küche, wollte dich aber zuerst anrufen. Ich werde jetzt etwas essen.«
»Boady, du hast alles getan, was du konntest.«
Er schüttelte den Kopf, obwohl niemand da war, der es sehen konnte. »Ich wünschte, ich könnte das mit Sicherheit sagen.«