49
Die Fälle, in denen er ermittelt hatte, verfolgten Max Rupert häufig noch eine Weile, auch nachdem die Geschworenen längst in ihren Alltag zurückgekehrt waren. Der Geruch des Todes, die Gesichter der Opfer, die Worte der Schuldigen, mit denen sie versuchten, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und der Bestrafung zu entgehen, die sie verdient hatten – diese Fragmente trieben durch seine Tage. Aber der Fall Pruitt verfolgte Max hartnäckiger als die meisten anderen, klebte an ihm wie kalter Zigarettenrauch. Manchmal sah er Jennavieves Gesicht im Seitenblick eines Passanten.
Und immer dann, wenn es um ihn herum ganz still wurde, hörte er das Echo von Boadys Worten und fühlte erneut den Schmerz dieses Kreuzverhörs. Er hatte schon viele Male versucht, diesen speziellen Dämon auszutreiben, aber er kehrte immer wieder zurück. Nach dem Gerichtstermin war Max an jenem Tag nach Hause gefahren, in der Hoffnung, umgeben von den Artefakten eines Lebens, das er nicht mehr wiedererkannte, Trost zu finden. Die Fotos von Jenni, die seine Wände schmückten, schienen tadelnd auf ihn herabzuschauen. Er hatte sie enttäuscht, im Stich gelassen. Er hatte ihr Andenken dem Urteil anderer ausgesetzt. Er hatte ihren Namen inmitten des Geschiebes und Gedränges eines Mordprozesses ausgesprochen, und dafür hasste er Boady Sanden. Boady hatte Jennis Namen in die Verhandlung hineingezerrt. Boady hatte den Verrat begangen. Einst war Boady Sanden ein Mann gewesen, der sich nach Toresschluss auf den Friedhof schlich, um nach einem Freund zu sehen. Max hatte nicht viele Freunde, die so etwas tun würden, und nun hatte er einen weniger.
An jenem Abend hatte Max seinen Zorn beiseitegeschoben und seine Freundschaft mit Boady Sanden begraben. Er hatte diesen Tod einige Sekunden lang betrauert, denn mehr verdiente er nicht. Dann hatte er die Augen geschlossen und war eingeschlafen.
In den vier Tagen, seit Ben Pruitt aufgrund von Max’ Ermittlungen ins Gefängnis gegangen war, hatte sich eine hartnäckige Kaltfront über die Twin Cities gelegt, die Tausenden von Kindern ihr Halloween verdarb, weil sie gezwungen waren, Mäntel und Jacken über ihren Kostümen zu tragen. Max verbrachte den Morgen an seinem Schreibtisch und versuchte, die Beteiligten eines Drive-by-Shootings zusammenzutragen, an dem er und Niki nun arbeiteten. Zwei Plätze weiter hörte er Detective Voss zu seinem Partner sagen, dass er zum Kriminallabor hinuntergehen und sich mit einem der Techniker treffen werde.
Max stand auf und streckte sich, um Nikis Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich glaube, ich werde eine Runde drehen. Muss den Kopf frei machen. Möchtest du einen Donut oder so was, wenn ich irgendwo vorbeikomme?«
Niki schwenkte auf ihrem Bürostuhl zu Max herum und rieb sich die Nasenwurzel. »Du willst was tun?«
»Ich gehe eine Runde spazieren. Mein Kopf ist zu vollgestopft. Ich brauche ein bisschen frische Luft, um wieder klarer zu sehen.«
»Draußen ist es unter null Grad.«
»Ich verspreche, dass ich meinen Mantel zuknöpfe, Mom.«
»Von mir aus.« Niki zuckte die Achseln. »Irgendwas mit Cremefüllung.«
Max nickte, schnappte sich seine Jacke und verließ das Büro.
Seit einem Monat hatte Max sich nun schon von der Akte seiner Frau ferngehalten, zumindest von der, die Voss auf dem Schreibtisch hatte. Er hatte nicht mehr mit Voss gesprochen, so wie Briggs und Walker es ihm befohlen hatten, abgesehen von einem gelegentlichen Gruß, wenn sie einander im Flur über den Weg liefen. Max bekam keine weiteren Informationen über den Fall, wurde nicht auf den neuesten Stand gebracht. Er hatte sich wieder in den gehorsamen Soldaten verwandelt und seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, Ben Pruitt hinter Gitter zu bringen. Er hatte getan, was von ihm verlangt wurde.
Vielleicht war er der Meinung, dass er dafür eine Belohnung verdiente. Nichts Großes, nur einen kleinen Blick hinter die Kulissen, damit er wusste, ob es Bewegung in Jennis Fall gab. Aber er bekam gar nichts.
Während Max vor dem Kriminallabor in seinem Wagen wartete, ging er im Kopf die Unterhaltung durch, die er mit Voss führen würde, wenn sie einander ›zufällig‹ über den Weg liefen. Als er Voss erspähte, der gerade das Gebäude verließ, stieg Max aus seinem Wagen und hielt auf den Eingang des Laborgebäudes zu. Er spürte, wie sein Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er sah kurz nach und stellte fest, dass es Niki war. Er drückte den Anruf weg und steckte das Handy wieder ein.
»Hey, Voss«, rief Max.
»Hallo, Max. Was führt Sie hierher?«
»Nachsehen, ob schon etwas zu den Fingerabdrücken reingekommen ist, die wir im Zusammenhang mit einem Drive-by genommen haben. Und Sie?«
»Diese Frau in Uptown mit dem eingeschlagenen Schädel. Die glauben, dass es am ehesten ein Schraubenschlüssel war. Ich wollte mich nur bei den Technikern vergewissern, bevor wir die Umgebung noch ein zweites Mal absuchen.«
»Dann sind Sie nicht wegen meiner Frau hier.«
»Max …« Voss machte einen halben Schritt zurück. »Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen nicht über den Fall reden darf.«
»Himmel, Tony, ich bitte Sie ja nicht, mich ins Team aufzunehmen. Ich will doch …«
»Briggs hat mir befohlen, nicht mit Ihnen darüber zu reden. ›Nachrichtensperre‹ war der Begriff, den er verwendet hat. Er hat eine komplette Nachrichtensperre verhängt, was Sie angeht.«
»Briggs ist ein taktierender Wichser. Das wissen Sie doch, Tony.«
»Das mag schon sein, aber er ist immer noch mein Boss. Und Ihrer ebenso.«
»Was, wenn es um Ihre Frau ginge, Tony? Würden Sie nach Briggs’ Pfeife tanzen, wenn es Ihre Frau wäre, die ermordet wurde?«
»Tun Sie das nicht, Max. Sie brauchen diese Dinge nicht zu wissen. Wenn es meine Brenda wäre, die umgebracht wurde, dann würde ich diese Dinge auch nicht wissen wollen.«
»Doch, das würden Sie«, beharrte Max. »Wenn Brenda von einem Auto überfahren worden wäre, würden Sie Einzelheiten wissen wollen. Sie würden hier auf dem Parkplatz stehen, im eisigen Novemberwind, und würden mich bitten, Ihnen wenigstens einen Knochen zuzuwerfen. Sie würden mich auf dieselbe Art anflehen, wie ich Sie jetzt anflehe. Sagen Sie mir, was Sie wissen, wenigstens ein paar Details. Ich muss das wissen.«
»Sie bekommen bloß Ärger, wenn die das rausfinden. Und ich rede nicht von einer weiteren Verwarnung.«
Max wusste, dass Voss recht hatte. Dieser Gedanke trieb ihn jetzt schon seit mehreren Wochen um, seit er in Walkers Büro zitiert und verwarnt worden war. Etwas an dieser Konfrontation hatte bei ihm einen üblen Nachgeschmack hinterlassen. Zuerst dachte er, dass es die schriftliche Verwarnung war, aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihm, dass es nicht darum ging. Er begriff mehr und mehr, dass das, was ihm Magengrummeln verursachte, die Tatsache war, dass er seinen Job so reflexartig über alles andere stellte. Seine Arbeit war das Wichtigste in seinem Leben geworden. Sein Job war immer an erster Stelle gekommen, selbst wenn es um Jenni ging. Schließlich fragte er sich, was ihm als Mensch wichtiger war? Und er kannte die Antwort.
Er starrte Voss mit nachdrücklichem Blick in die Augen. Er wollte, dass sein Gegenüber wusste, dass er das, was er als Nächstes sagte, auch zu 100 Prozent so meinte.
»Voss, wenn ich meinen Job nur behalten kann, indem ich mich nicht mehr um meine Frau kümmere, sie im Stich lasse, dann ist mir der Job scheißegal. Es gibt nur Richtig und Falsch. Wenn die Regeln dir in die Quere kommen, weil du das Richtige tun willst, folgst du dann den Regeln? Ist das die Art Mensch, die du sein willst? Oder tust du das Richtige, das, was du für richtig hältst? Diese Frage muss jeder Mann, jeder Mensch für sich selbst beantworten. Nun, ich habe die Frage für mich beantwortet. Ich habe gar keine Wahl. Ich muss alles daransetzen, dass meiner Frau Gerechtigkeit zuteilwird. Und ganz ehrlich, scheiß auf Briggs, scheiß auf Walker, scheiß auf jeden, der versucht, mich davon abzuhalten. Ich schulde meiner Frau das. Also, Voss, ich frage Sie, welche Art Mensch sind Sie?«
Voss verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere, während er über die Antwort nachdachte. Zunächst konnte er Max nicht in die Augen sehen. Der sah ganz deutlich, dass sein Gegenüber mit sich kämpfte. Schließlich hob Voss den Blick und nickte. »Ich habe jeden Winkel ausgeleuchtet, Max. Ich habe die Besitzer des gestohlenen Wagens überprüft. Ich meine, ich habe die durch die Mangel gedreht, als wären sie verflucht noch mal Al-Qaida. Aber da ist nichts zu holen. Ihr Auto wurde gestohlen und das war’s. Wer auch immer am Steuer des Wagens saß, hat ihn peinlichst sauber gemacht. Da waren nicht einmal Hautzellen am Lenkrad.«
»Aber das Blut meiner Frau am Kühlergrill hat derjenige drangelassen.«
»Und ihre Haare.«
Das Bild, das plötzlich vor Max’ innerem Auge aufblitzte, spiegelte sich offenbar auch in seinem Gesichtsausdruck wider. »Es tut mir leid«, murmelte Tony. »Ich dachte, das wüssten Sie.«
»Nein.«
»Wir sind nicht weitergekommen, Max. Der Name im Pachtvertrag des Lagerraums war ausgedacht. Bezahlt wurde das Ganze in bar und per Post. Keine DNA-Spuren auf dem Geld oder dem Umschlag. Keine Kameras in der näheren Umgebung. Kein Spurenmaterial im Wagen oder im Lagerraum. Ich meine, abgesehen von dem, was Ihrer Frau zugeordnet werden konnte.«
»Wieso hat er dann den Wagen überhaupt behalten? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Da stimme ich Ihnen zu, es ergibt keinen Sinn«, sagte Tony. »Die plausibelste Antwort, die uns eingefallen ist, lautet, dass der Wagen als Druckmittel oder für eine Erpressung benutzt wurde. Entweder das, oder der Täter hatte schlicht keinen besseren Plan, wie er ihn verschwinden lassen konnte.«
»Aber wieso hat er mir dann einen Schlüssel für den Lagerraum zugeschickt?«
»Wie gesagt, es ergibt keinen Sinn.«
Max’ Handy vibrierte erneut. Voss blickte hinunter zu seiner Hosentasche und sah Max dann wieder ins Gesicht.
»Wollen Sie da nicht rangehen?«, fragte er.
Max ignorierte das Telefon und streckte die Hand aus. »Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen. Ich verspreche, dass ich Sie nicht weiter damit nerven werde.«
»Schon gut.« Tony lächelte und fuhr sich mit einer Hand über den beinahe kahlen Schädel. Max erwiderte das Lächeln. »Und, Max, Sie haben recht. Wenn es um meine Brenda ginge, würde ich auch sagen, scheiß auf Briggs und scheiß auf Walker. Wenn sich etwas Neues ergeben sollte, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Max klopfte Tony auf die Schulter und drehte sich um, kehrte zu seinem Wagen zurück und gab damit auch preis, dass er nur hergekommen war, um mit Tony Voss zu reden. Unterwegs vibrierte sein Handy schon wieder, aber diesmal war es nur ein einmaliges Brummen. Eine SMS. Sie kam von Niki. Bin im Haus der Pruitts. Du musst sofort herkommen.
Max antwortete: Unterwegs.