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Während Boady Sanden im Empfangsbereich des Büros des Bezirksstaatsanwalts von Hennepin County wartete, dachte er erneut über die kryptische Bitte nach, die ihn hierhergeführt hatte, eine Sprachnachricht von Frank Dovey, der lediglich gesagt hatte, es sei wichtig, dass sie sich noch vor der Antragsanhörung für eine Wiederaufnahme der Verhandlung trafen. Boady hatte zurückgerufen und drei Nachrichten für Dovey hinterlassen. Er hatte auf eine Erklärung gehofft, aber keinen Rückruf erhalten.
Während seiner Tätigkeit als Strafverteidiger hatte Boady Hunderte von Anträgen auf Wiederaufnahme gestellt. Das geschah allerdings meist nur der Form halber; man könnte es auch als Zeitverschwendung bezeichnen. Prozessanwälte waren gehalten, dem erstinstanzlichen Gericht mit einem nach dem Schuldspruch eingereichten Antrag die Gelegenheit zu geben, einen etwaigen Irrtum zu korrigieren, bevor sie bei der nächsthöheren Instanz in Berufung gingen. Allerdings besaßen nur sehr wenige Richter das Rückgrat zuzugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatten.
Boady begriff nicht, wieso Dovey ihn noch vor der Anhörung sprechen wollte. Diese war für den folgenden Morgen angesetzt.
Frank Dovey betrat den Empfangsbereich und begrüßte Boady, bat ihn dann, ihm zu folgen. Sie gingen zu einem der Besprechungszimmer. Auf dem Konferenztisch lag eine Aktenmappe. Zugeklappt. Dovey ging zu dem Stuhl, bei dem die Mappe lag, und nahm Platz. Mit einer Geste lud er Boady ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Als Boady sich hingesetzt hatte, schob Dovey ihm die Mappe zu. »Als Teil meiner laufenden Verpflichtung, Ihnen Ausforschungsbeweise zukommen zu lassen, dachte ich, dass Sie das hier sehen sollten.«
Boady klappte die Mappe auf. In der einen Klappe befanden sich mehrere Fotografien, in der anderen ein Polizeibericht. Boady holte die Fotos aus der Klappe. Er sah Detective Max Rupert im Wohnzimmer der Pruitts stehen. Zu seinen Füßen lag ein zusammengeknülltes Stoffbündel. Beim Durchblättern der Fotos ging die Kamera näher an das Bündel heran, während Hände in blauen Latexhandschuhen die Schichten des Knäuels auseinanderzogen. Im Innern des Bündels hatte jemand einen Dolch verborgen.
»Ist das …?« Boady versuchte zu begreifen, was er da sah. »Ist das das Messer, mit dem Jennavieve Pruitt getötet wurde?«
»Höchstwahrscheinlich. Es passt zum Einstich, der die Todesursache war.«
»Ist das Jennavieves Blut auf der Klinge?«
»Wir haben es überprüfen lassen. Ja, es ist ihr Blut.«
»Sie haben es überprüfen lassen? Wie lange haben Sie dieses Beweisstück schon?«
»Erst seit einer Woche. Wir …«
»Seit einer Woche?« Boady musste schwer an sich halten, nicht vom Stuhl aufzuspringen. Stattdessen begnügte er sich damit, seine Stimme angemessen laut werden zu lassen. »Sie hatten das Messer und die Laken seit einer Woche? Wir haben morgen früh einen Termin für einen Antrag auf Wiederaufnahme, und Sie zeigen mir das erst jetzt?«
»Wir wollten die DNA überprüfen. Wir wollten ganz sichergehen, dass es Jennavieve Pruitts Blut ist.«
»Verdammt, Frank, das ist nicht Ihre Entscheidung. Das wissen Sie genau.«
»Es ändert doch nichts an der Sache.«
»Noch einmal, Frank, das entscheiden nicht Sie.« Boadys Zorn hatte sich in verächtliche Empörung verwandelt. »Sie haben kein Recht zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Sie sind gehalten, mir alles weiterzuleiten, was Sie bekommen, und zwar sofort nachdem Sie es bekommen haben. Jetzt muss ich den Antrag bis morgen früh umformulieren. Das ist ein neues Beweisstück. Das ändert die Sache vollkommen.«
»Was das angeht, sind wir verschiedener Meinung.«
»Es geht nicht um Meinungen, Frank. Sie sind im Unrecht. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen das Fallrecht zitiere, kann ich das gerne machen. Sie haben die Mordwaffe, und ich nehme mal an, dass das die Bettwäsche aus dem Bett des Opfers ist?«
»Möglich.«
»Hören Sie auf mit der Scheiße, Dovey, Sie wissen sehr gut, dass sie das ist. Wo wurde das Zeug gefunden?«
»Pruitt hat es in den Rückluftschacht in seinem Haus gestopft, bevor er losgefahren ist, um die Leiche seiner Frau loszuwerden. Ein Handwerker, der die Heizung reparieren wollte, hat es gefunden.«
»Haben Sie das Messer auf Fingerabdrücke untersucht? Auf DNA?«
»Die einzige DNA auf dem Messer war das Blut des Opfers. Keine Fingerabdrücke.«
Boady blätterte den Rest der Fotos durch und erstarrte. Er hielt ein Foto von einem Kondom in der Hand. Benutzt. Er starrte Dovey an und war so wütend, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Ein Kondom? Sie haben ein Kondom gefunden und das vor mir verheimlicht? Wollen Sie mich verscheißern?«
»Auch das wollten wir zunächst analysieren.«
»Und?«
»Die Spuren stimmen nicht mit Ben Pruitts DNA überein.«
Boady ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken, während überall in seinem Hirn Türen aufgingen. »Jennavieve Pruitt hatte eine Affäre.«
»Das ist eine Möglichkeit, ja. Aber selbst wenn das wahr wäre, heißt das noch lange nicht, dass Ben Pruitt seine Frau nicht getötet hat. Es untermauert im Gegenteil die Anklage.«
Von all den Türen, die sich gerade geöffnet hatten, führte keine einzige zu einem Resultat, das der Anklage in die Hände spielte. »In welchem Universum nützt diese Entdeckung der Anklage?«, wollte Boady wissen.
»Es verstärkt Pruitts Motiv, seine Frau umzubringen. Er hat es nicht nur wegen des Geldes getan, sondern auch, weil seine Frau ihn betrog.«
»Diesmal sind wir tatsächlich verschiedener Meinung. Wir haben plötzlich einen Liebhaber im Spiel, der seine eigenen Gründe gehabt haben könnte, Mrs. Pruitt umzubringen. Oder vielleicht war es auch die Ehefrau des Liebhabers.« Als er die Worte ausgesprochen hatte, drehten sich die Rädchen in Boadys Hirn und zwei lose Teile fügten sich zu einem Bild. Er rief sich die merkwürdigen Blicke in Erinnerung, die Kagen und seine Frau während Kagens Aussage gewechselt hatten. Plötzlich ergab alles einen Sinn. »Haben Sie sich schon eine Probe von Everett Kagens DNA besorgt?«
»Kagen? Nein. Wieso sollte ich?«
Boady betrachtete Dovey aufmerksam, während er versuchte herauszufinden, ob der nur seine Argumentation an die neu aufgefundenen Beweisstücke anpasste oder ob er tatsächlich glaubte, er habe keinen Grund, Kagens DNA mit dem Fund abzugleichen. Schließlich sagte er: »Sie machen Witze, richtig? Die beiden haben zusammengearbeitet. Oft bis spät in den Abend hinein. Er war der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Ich wette, er fährt auch ein rotes Auto.«
»Das tut er in der Tat. Einen roten Impala. Aber es gibt eine ganze Menge roter Viertürer in Minnesota. Ich fahre selbst einen. Macht mich das zum Verdächtigen?«
»Hören Sie auf, den Dummen zu spielen, Frank. Sie müssen doch gesehen haben, wie er sich bei seiner Aussage verhalten hat.«
»Was ich gesehen habe, war die Aussage eines engen Freundes. Natürlich habe ich gesehen, dass ihn Jennavieves Tod schwer getroffen hat. Härter im Übrigen als Ihren Klienten, der während der gesamten Verhandlung keine einzige Träne vergossen hat.«
»Ben hatte im Gefängnis mehr als genügend Zeit zu trauern. Hören Sie auf, vom Thema abzulenken. Werden Sie eine richterliche Anordnung erwirken, um eine DNA-Probe von Kagen zu bekommen?«
»Das werde ich nicht«, antwortete Dovey. In seiner Stimme schwang Endgültigkeit. »Ich habe keinen hinreichenden Verdacht, und das wissen Sie auch. Er hat unter Eid ausgesagt, dass er am Mordtag nicht im Haus der Pruitts war.«
»Natürlich musste er das sagen. Seine Frau war im Gerichtssaal, und sie sah zornig aus.«
»Nun, diese zornige Ehefrau bestätigt aber Kagens Alibi. Er war bei ihr zu Hause. Sie sind doch Strafverteidiger, Sanden. Wenn ich aufgrund eines so schwachen Verdachts eine Anordnung beantragen würde, wären Sie der Erste, der verlangt, dass diese abgewiesen wird. Kein Richter unterzeichnet eine solche Anordnung aufgrund der Tatsache, dass dieser Mann einen roten Wagen fährt und geweint hat, weil seine gute Freundin ermordet wurde.«
Boady befürchtete, dass Dovey in diesem Fall recht hatte, aber er hätte sich eher einen Pflock durch die Hand getrieben, als das zuzugeben. »Ich werde das zu meinem Antrag hinzufügen. Ich werde Ransom bitten, Sie anzuweisen, eine DNA-Probe zu besorgen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn Sie ihn dazu bringen, besorge ich Ihnen die Probe gerne. Aber das wird keinen Unterschied machen. Kagen hat Jennavieve Pruitt nicht umgebracht. Er war zu Hause bei seiner Frau. Ben Pruitt hat sie ermordet. Selbst wenn Sie diese Anordnung bekommen und sich daraufhin herausstellt, dass es Kagen war, dann haben Sie lediglich bewiesen, dass Jennavieve Pruitt Sex mit ihm hatte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er zu Hause war, als der Mord geschah. Der bleibt weiterhin an Ihrem Goldjungen hängen.«
Boady stand auf und nahm die Mappe in die Hand. »Sind das meine Abzüge?«
»Die gehören Ihnen. Viel Spaß damit.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich habe einen Antrag zu überarbeiten. Ich finde allein hinaus.«
Boady verließ den Besprechungsraum, blieb aber an der Tür noch einmal kurz stehen, um einen letzten Hieb auszuführen. »Hey, Frank.« Er lehnte sich zurück in den Raum hinein. »Wie ich höre, wurden Sie auf die Kandidatenliste für den frei werdenden Richterstuhl von Richter Katowski gesetzt.« Er zwinkerte Dovey zu und hob mit übertriebener Geste den Daumen. »Ich schätze, mit dem Namen Adler im Rücken können Sie echte Wunder bewirken.«
Und damit drehte er sich um und verschwand.