55
Ben Pruitt trat in demselben grauen Anzug in den Zeugenstand, den er auch am ersten Tag seines Geschworenenprozesses getragen hatte, allerdings schlackerte der ihm heute um den im Gegensatz zu damals dünnen Körper.
Boady kam sofort zur Sache. »Sie waren Jennavieve Pruitts Ehemann?«
»Ja.«
»Wo waren Sie in der Nacht, als sie ermordet wurde?«
»Ich war im Bett, habe geschlafen, in Zimmer 414 im Marriott in Downtown Chicago, Illinois.«
»Sind Sie in dieser Nacht zurück nach Minneapolis gefahren?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Haben Sie Ihre Frau umgebracht?«
»Ich habe meine Frau geliebt. Nein, ich habe sie nicht umgebracht.«
»Hatten Sie in irgendeiner Form mit ihrem Tod zu tun?«
»Ich war nicht da, um sie zu beschützen. Wenn ich vor Ort gewesen wäre … wenn ich nicht nach Chicago geflogen wäre, dann wäre Sie noch am Leben, glaube ich. Aber ich hatte nichts mit ihrem Tod zu tun.«
»Keine weiteren Fragen.«
»Mr. Dovey«, sagte Richter Ransom. »Ihr Zeuge.«
Dovey räusperte sich. »Mr. Pruitt, glauben Sie, dass Ihre Frau eine Affäre hatte?«
»Vor dieser Verhandlung hätte ich es nicht geglaubt. Selbst jetzt fällt es mir noch schwer, es zu glauben. Ich dachte, wir wären glücklich … na ja, ›glücklich‹ ist ein großes Wort. Ich dachte, alles wäre in Ordnung. Wir hatten unsere Tochter Emma und unsere jeweilige Karriere, und alles lief gut. Zumindest war ich der Meinung, dass alles gut lief. Ich liebte Jennavieve. Sie war die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist.«
»Dann hatten Sie keine Ahnung davon, dass sie mit einem anderen Mann schlief? Das fällt mir schwer zu glauben.«
»Einspruch«, meldete sich Boady zu Wort. »Argumentativ.«
»Stattgegeben.«
»Mr. Pruitt«, fuhr Dovey fort. »Durch den Tod Ihrer Frau erben Sie ein kleines Vermögen.«
»Ich habe so viel mehr verloren«, wandte Ben ein. »Wenn Sie Ihren Reichtum in Dollars bemessen, dann sind Sie ein jämmerlicher Mensch, Mr. Dovey. Ich habe meine beste Freundin verloren. Ich habe die Mutter meines Kindes verloren. Selbst wenn Jennavieve sich mit einem anderen Mann traf, waren wir doch eine Familie. Wir hätten das wieder hingekriegt.«
»Sie plante, sich von Ihnen scheiden zu lassen, Mr. Pruitt. Wie hätten Sie das wieder …«
»Einspruch.« Boady stand auf. »Euer Ehren, die einzige Erwähnung etwaiger Scheidungsgedanken stammt aus der Zeugenaussage von Mr. Kagen. Er hat nun die Aussage verweigert. Deswegen beantrage ich, dass seine gesamte Zeugenaussage aus dem Protokoll gestrichen wird, sowohl was diese Verhandlung als auch die vorherige betrifft.«
Ransom rieb sich mit dem Daumen über das Kinn. »Da hat er recht, Mr. Dovey. Mr. Kagen kann sich nicht aussuchen, welche Teile seiner Aussage im Protokoll verbleiben. Wenn er von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch macht, muss seine gesamte Aussage gestrichen werden.«
»Aber Euer Ehren, wir haben es als gegeben gesetzt. Beide Seiten haben zugestimmt …«
»Mr. Dovey«, unterbrach Ransom ihn. »Darüber wird es keine Debatte geben. Das Gericht wird Mr. Kagens Zeugenaussage nicht in seine Entscheidungsfindung mit einbeziehen. Fahren Sie fort.«
»Ja, Euer Ehren«, gab Dovey klein bei.
»Mr. Pruitt, das Gremium für berufliche Verantwortung erteilte Ihnen eine Rüge wegen Täuschung des Gerichts. Geben Sie zu, dass das der Wahrheit entspricht?«
»Ich gebe zu, dass diese Rüge erteilt wurde. Ich gebe nicht zu, dass ich Täuschung eines Gerichts begangen habe. Ich hatte einen Ermittler, der mir bei einem Fall assistierte. Dieser Mann ließ mir ein Dokument zukommen, das eine Verwarnung zu sein schien, die man dem leitenden Detective in diesem Fall erteilt hatte, Detective Max Rupert. Ich gebe zu, dass ich dieses Schriftstück genauer hätte untersuchen müssen, aber zu jenem Zeitpunkt hielt ich es für echt.«
»Aber das war nicht die Feststellung, die das Gremium getroffen hat.«
»Nein, das war sie nicht. Ich habe die Entscheidung des Gremiums akzeptiert, auch wenn ich wusste, dass sie falsch war. Ich habe diese Episode hinter mir gelassen und mich auf meine Kanzlei und mein Leben konzentriert. Ich lasse nicht zu, dass man mich über diesen einen Vorfall definiert. Abgesehen von diesem einen Makel habe ich ein unbescholtenes Leben geführt und das kann mir niemand nehmen – auch Sie nicht, Mr. Dovey. Denn die Wahrheit ist, ich habe meine Frau nicht umgebracht. Die Wahrheit, Mr. Dovey, wird am Ende obsiegen.«
Boady unterdrückte ein Lächeln, weil Ben seine Erwartungen noch weit übertraf.
Dovey blätterte einen seiner Schreibblöcke durch und suchte nach einem Punkt, an dem er seine Befragung fortsetzen konnte. Er blätterte vor und zurück, hielt zwischendurch inne und dachte nach. Boady konnte sich denken, warum Dovey zögerte. Ben Pruitt war kein gewöhnlicher Zeuge. Er hatte Jahre im Gerichtssaal verbracht, und zwar bei Strafprozessen. Die Techniken des Kreuzverhörs hatte er von denselben Experten gelernt wie Dovey. Ben wusste, wie man Fallen erkannte. Im Laufe seiner Karriere hatte er selbst immer wieder solche Fallen gestellt. Bens Antworten waren alle einwandfrei gewesen. Wenn Dovey fortfuhr, schwächte er seine Argumentation nur noch weiter. Schließlich warf Dovey den Block auf den Tisch vor sich und schüttelte den Kopf. »Keine weiteren Fragen.«