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Das Gericht legte eine Pause ein, um den Anwälten Zeit zu geben, ihre Schlussplädoyers vorzubereiten. Boady zog sich mit Ben und Lila in die Arrestzelle zurück, einen verschlossenen Raum direkt neben dem Gerichtssaal. Während Boady seine Gedanken sortierte, hörte er Ben und Lila zu, die sich unterhielten, zunächst über belanglose Dinge, aber dann sprach Lila die Geschehnisse in der Kantine an, die dazu geführt hatten, dass Kagen die Aussage verweigerte.
»Ich kann nicht fassen, dass ich ihn so komplett falsch eingeschätzt habe«, erklärte Ben. »Ich habe ihm vertraut. Ich hatte ihn in meinem Haus zu Gast. Er hat mit uns an einem Tisch gesessen und gegessen, auch mit meiner Tochter. Ich … ich kann es einfach nicht glauben. Aber wieso hat er sie umgebracht?«
»Vielleicht wollte Jennavieve Schluss machen«, spekulierte Lila. »Vielleicht ist Everett deswegen durchgedreht.«
»Den schnappe ich mir«, flüsterte Ben. »Die Affäre ist mir egal. Aber er hatte kein Recht, sie Emma wegzunehmen.«
»Jetzt mal langsam, Ben«, mischte Boady sich ein. »Niemand schnappt sich hier irgendwen. Wir werden das dem Gesetz überlassen.«
Die Muskeln in Bens Kiefer spannten sich an, während er offenbar weiter darüber nachgrübelte, was er nun über seine Frau und Everett Kagen wusste.
»Außerdem wissen wir ja nicht mit Sicherheit, ob Kagen der Schuldige ist«, gab Boady zu bedenken.
»Was meinst du denn damit? Wir wissen es nicht?« Ben gestikulierte flehentlich. »Wer sonst hätte Jennavieve umbringen sollen? Er muss es getan haben.«
»Deine Schwägerin habe ich noch immer nicht völlig ausgeschlossen. Sie hatte bei alledem doch am meisten zu gewinnen. Oder es könnte jemand sein, dem deine Frau eine Klage auf den Hals gehetzt hat und der deswegen wütend war. Himmel, nach allem, was wir wissen, hätte es auch der wütende Troll gewesen sein können. Vielleicht …«
Boady hielt inne, weil sich plötzlich eine merkwürdige Ahnung in den Vordergrund drängte. Ihm war nie der Gedanke gekommen, dass Mrs. Kagen die Täterin sein könnte. Aber nun erinnerte er sich an jenen Tag während der ersten Verhandlung, als Everetts Tränen beim Blick zu seiner Frau jedes Mal versiegten. Boady sprach leise aus, was in seinem Kopf Gestalt annahm. »Vielleicht hat sie herausgefunden, dass die beiden eine Affäre hatten.« Stille legte sich über die Zelle, während die neue Möglichkeit im Raum stand.
Lila war die Erste, die das Schweigen brach. »Aber Malena Gwin hat ausgesagt, dass sie einen Mann gesehen hat, der aus dem roten Viertürer stieg.«
»Nein«, widersprach Boady. Er holte einen Block voller Prozessnotizen aus seinem Aktenkoffer und blätterte rasch immer weiter zurück, bis er fand, wonach er suchte. »Hier ist es. Wortwörtlich sagte sie, dass sie einen Mann aus dem Wagen steigen sah, und dann fügte sie hinzu: ›Zumindest glaube ich, dass es ein Mann war‹.«
»Das stimmt«, fiel es nun auch Ben wieder ein. »Das hatte ich komplett vergessen.«
»Wäre das möglich?«, fragte Lila.
Bevor sie diesen Punkt weiterdiskutieren konnten, klopfte der Gerichtsdiener an die Tür und steckte den Kopf herein. »Der Richter bittet alle, sich in zehn Minuten wieder im Gerichtssaal zu versammeln«, verkündete er.
Boady warf seinen Block mit den Notizen auf den Tisch. »Ich muss den Kopf freibekommen«, sagte er. Ich suche mir eine ruhige Ecke und konzentriere mich auf mein Schlussplädoyer. Wir sehen uns in zehn Minuten im Gerichtssaal.«
Der Gerichtsdiener ließ Boady aus der Arrestzelle. Der ging dann durch den Saal und in den Flur hinaus, um einen ruhigen Ort zu finden, wo er sich konzentrieren konnte. Obwohl der Tag bereits weit fortgeschritten war, wurden auf dieser Etage immer noch mehrere andere Fälle gehört und die Besprechungsräume waren alle besetzt. Also machte sich Boady auf den Weg zum nächstgelegenen Treppenhaus und ging hinein. Er musste eine Etage hochgehen, bis er eine saubere Stufe fand, um sich hinzusetzen.
Dort begann er, die Fakten aufzulisten, die er dem Richter in seinem Schlussplädoyer noch einmal nahebringen wollte. Er benutzte für diese Aufgabe keine Notizen, sondern verließ sich lieber auf Gedächtnisstützen, um die Indizien und Beweise später in der für seine Darstellung richtigen Reihenfolge abspulen zu können. Er war kaum zur Hälfte mit den Aussagen aus der ersten Verhandlung durch, als er Stimmen hörte, die sich von unten her im Treppenhaus näherten. Er fluchte leise vor sich hin, weil seine Abgeschiedenheit gestört wurde. Die Stimmen kamen näher und er meinte, Doveys zu erkennen.
Eine Tür ging auf und er hörte Dovey sagen: »Kommen Sie kurz hier herein.«
»Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie diesen Prozess verloren haben?« Es war Anna Adler-King. »Sie haben gesagt, dass Sie ihn in der Tasche hätten. Dass es bombensicher sei. Das haben Sie gesagt. Und nun erzählen Sie mir, dass Ben Pruitt als freier Mann da rausgeht?«
»Ich kann doch nichts daran ändern«, verteidigte sich Dovey in gedämpftem Ton. »Es ist nicht meine Schuld, dass Kagen die Aussage verweigert hat. Damit hat er dafür gesorgt, dass er schuldig wirkt. Über manche Dinge habe ich schlichtweg keine Kontrolle.«
»Ich beginne langsam, mich zu fragen, ob Sie die Art Mensch sind, die ich als Richter sehen will«, stellte Anna kalt fest. »Ich habe mich für Sie eingesetzt, Frank, und das ist der Dank?«
»Richter Ransom hat noch kein Urteil gesprochen. Er könnte …«
»Erzählen Sie keinen Schwachsinn, Frank.« Anna hatte zu flüstern aufgehört und fing an, Dovey herunterzuputzen, als wäre er ein kleines Kind. »Wir beide wissen, wohin dieser Prozess geht. Sie müssen einen Weg finden, das Ruder herumzureißen. Haben Sie mich verstanden? Wenn Sie weiterhin meine Unterstützung wollen, dann müssen Sie mir zeigen, dass Sie zu Ihrem Wort stehen.«
»Was erwarten Sie denn, das ich jetzt noch tue? Wir halten in fünf Minuten unsere Schlussplädoyers.«
»Das liegt ganz bei Ihnen«, zischte Anna. »So wie die Dinge im Augenblick stehen, kommen Sie in meinem Bericht an den Gouverneur jedenfalls gar nicht gut weg.«
Das Geräusch von Anna Adler-Kings Schuhen, die über den schmutzigen Boden des Treppenhauses kratzten, als sie sich zum Gehen wandte, hallte von den Wänden wider. Boady hörte, wie Dovey ihr durch die Tür zurück in den Flur folgte. Er spähte über die Kante der Treppe hinunter, um ganz sicherzugehen, dass er wieder allein war, bevor er aufstand und sich den Hosenboden abwischte.
Dovey stand mächtig unter Druck. Aber da die Schlussplädoyers unmittelbar bevorstanden, hatte er keine Möglichkeit, noch etwas zu bewegen, zumindest fiel Boady keine einzige ein. Als Boady zum Gerichtssaal zurückkehrte, überlegte er, was er wohl machen würde, wenn er an Doveys Stelle wäre. Jede Option endete mit demselben Problem: Die Verhandlung war vorbei. Dovey hatte keine Zeugen, die er anführen konnte, um einen Gegenbeweis zu erbringen. Er hatte auch keine weiteren laufenden Ermittlungen, auf die er zurückgreifen konnte. Kagen hatte die Aussage verweigert und war damit außer Reichweite. Und selbst wenn Dovey einen Weg wüsste, wie er an Kagen herankommen konnte, fehlte ihm schlichtweg die Zeit.
Boady lächelte bei dem Gedanken, dass Doveys Richterposten vom Ausgang eines Falls abhing, von dem jetzt bereits jeder wusste, dass er ihn verloren hatte. Normalerweise freute sich Boady nicht über den Sturz eines anderen, aber Dovey war ein Zoon politikon, ein politischer Taktierer, und für solche Menschen hegte Boady keinerlei Sympathien. Und nun hatte Dovey sich selbst in die Ecke manövriert und seine Welt brach um ihn herum zusammen. Als er den Gerichtssaal betrat, mahnte Boady sich selbst, dass in die Enge getriebene Tiere die gefährlichsten Tiere von allen waren.