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Boady hatte keine Zeit, Ben das weiterzugeben, was er im Treppenhaus mit angehört hatte. Er war kaum an seinem Platz angekommen, als Richter Ransom auch schon den Raum betrat und das Gericht erneut zur Ordnung rief.
»Ist die Anklage bereit, mit dem Schlussplädoyer fortzufahren?«, wollte der Richter wissen.
Jetzt geht’s los,
dachte Boady.
»Euer Ehren«, begann Dovey, »wie Sie sicher wissen, hat dieser Fall sehr viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren, was sicher auch daran liegt, wer die Verstorbene war. Sie und ihre Familie gehörten und gehören zu den Grundpfeilern einiger der wichtigsten Wohltätigkeitsorganisationen dieses Staates.«
Ben beugte sich zu Boady hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Was macht er denn jetzt?«
Boady wisperte zurück: »Er schiebt Panik. Anna hat ihn bei den Eiern und droht, sie ihm abzureißen. Er kann es sich nicht leisten, diesen Fall zu verlieren.«
Dovey fuhr fort. »Ich würde auch behaupten, dass die Haltung zum verfahrensmäßigen Vorgehen in diesem Fall etwas … nun, zumindest ein wenig ungewöhnlich gewesen ist. Da wir zwei eigenständige Verhandlungen hatten, haben wir einige der Zeugenaussagen, die für ein gerechtes Urteil dieses Gerichts notwendig sind, bereits vor mehreren Wochen gehört. Dann kommt noch hinzu, dass das Gericht entschieden hat, Mr. Kagens frühere Aussage komplett zu streichen … Nun, das macht die Dinge noch einmal komplizierter. Ich halte es für angebracht, den beteiligten Parteien zu erlauben, ihre Schlussplädoyers in schriftlicher Form einzureichen und uns damit etwas Zeit zu geben, unsere Fakten zu sortieren und in eine kohärentere Form zu bringen, bevor Sie zu einem Urteil kommen. Vielleicht könnten Sie uns Zeit bis Ende der Woche geben, die Plädoyers einzureichen?«
»Was?« Ben Pruitts Stimme war jetzt laut genug, auch über den Anklagetisch hinaus gehört zu werden. »Was tut er denn da?«
Boady hob eine Hand, um seinen Klienten zum Schweigen zu mahnen.
Er lehnte sich zu ihm hinüber. »Nur eine Hinhaltetaktik.«
»Was du nicht sagst«, flüsterte Ben zurück. »Aber ich kann nicht wieder ins Gefängnis gehen. Wir haben gewonnen. Das ist nicht fair.«
Ransom wirkte perplex. »Mr. Sanden, möchten Sie zu Mr. Doveys Gesuch gehört werden?«
»Eine Sekunde, Euer Ehren.« Boady wandte sich erneut leise an Ben. »Er weiß, dass er den Fall verloren hat. Ich habe ihn gehört. Anna und er haben während der Pause deswegen gestritten. Sie ist sauer und wird ihn nicht länger unterstützen, was den Richterposten angeht, es sei denn, er zieht noch ein Karnickel aus dem Hut. Er braucht Zeit, um das Karnickel zu finden, deswegen bittet er um die schriftliche Einreichung. Er braucht Zeit, um sich etwas aus den Fingern zu saugen. Nur darum geht es bei diesem Theater.«
»Mr. Sanden?«, wiederholte der Richter.
Boady stand auf. »Euer Ehren, es gibt keinen Präzedenzfall, der das Gesuch der Anklage auf schriftliche Einreichung unterstützt. Mr. Dovey führt hier einen Regentanz auf, weil er hofft, den kommenden Wolkenbruch abzuwenden. Das ist vorschriftswidrig, weswegen ich darum bitten möchte, dass wir unsere Schlussplädoyers hier und jetzt halten.«
Auf Richter Ransoms Gesicht spiegelte sich nun ehrliche Neugier. »Mr. Sanden«, sagte er, »wollen Sie mir sagen, es wäre unzulässig, wenn ich der Anklage erlaube, ihr Plädoyer schriftlich einzureichen? Denn ich stimme Ihnen insofern zu, als ich ebenfalls keinen Fall kenne, der besagt, dass ich es erlauben muss. Gleichzeitig ist mir aber auch kein Fall bewusst, der besagt, dass ich es nicht erlauben kann. Wenn Sie einen solchen Fall kennen, wäre ich interessiert, mehr darüber zu hören.«
»Nein, Euer Ehren, mir ist kein Fall bekannt, der besagen würde, dass das nicht so gehandhabt werden darf. Aber ich glaube nicht, dass es hier tatsächlich darum geht, ein schriftliches Plädoyer verfassen zu wollen. Ich glaube, dass es darum geht, den Ausgang dieses Falls hinauszuzögern. Ich glaube …«
Dovey sprang von seinem Stuhl auf. »Euer Ehren, das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung. Ich verlange eine Entschuldigung. Als Rechtspfleger habe ich …«
»Mr. Dovey!«, brüllte Richter Ransom zurück. »Nehmen Sie wieder Platz, bis das Gericht Sie anspricht.«
Dovey blieb sekundenlang stehen und starrte Boady wütend an, bevor er sich wieder hinsetzte. Boady erwiderte den Blick und glaubte
ein panisches Flackern in Doveys Augen zu entdecken, einen kurzen Funken der Erkenntnis, dass Boady ihn durchschaute.
»Wenn ich mich erklären darf, Euer Ehren«, fuhr Boady fort. »Ich will gar nicht behaupten, dass das Gericht Mr. Doveys Gesuch nicht gewähren darf, aber ich bin der Meinung, dass das Gericht es nicht gewähren sollte. Dieses Gesuch ist nicht nur unaufrichtig; hier steht auch die Freiheit eines Mannes auf dem Spiel. Ich behaupte, dass Mr. Dovey das Menetekel deutlich sehen kann und sich daher eine letzte Chance erhofft, irgendetwas zu finden, das seine Theorie noch retten kann, bevor das Protokoll geschlossen wird. Und nicht nur das, denn mein Klient, ein Mann, der fälschlich für ein Verbrechen verurteilt wurde, das er nicht begangen hat, wäre dadurch gezwungen, noch länger darauf zu warten, seine Freiheit wiederzuerlangen, während Mr. Dovey seinen Luftschlössern nachjagt. Das, Euer Ehren, wäre eine Farce. Mr. Pruitt sollte keine weitere Nacht hinter Schloss und Riegel verbringen müssen.«
Richter Ransom lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dovey wollte sich erneut erheben, aber der Richter hob eine Hand, um ihn davon abzuhalten. Er strich sich über das Kinn, während er über eine Entscheidung nachdachte. Dann lehnte er sich wieder zum Richtertisch vor. »Mr. Sanden, ich bin geneigt, das Gesuch der Anklage zu gewähren. Mr. Dovey hat das Recht, seinen Fall ausführlich darzulegen.«
Aus dem Augenwinkel sah Boady Dovey erleichtert ausatmen.
»Aber«, fuhr der Richter fort, »die schriftliche Einreichung ist morgen fällig, nicht erst am Wochenende. Mr. Dovey, Sie können mir Ihr schriftliches Plädoyer bis zwölf per E-Mail schicken. Mr. Sanden kann dann bis 14 Uhr antworten, und eine etwaige Entkräftung seitens der Anklage muss bis 15 Uhr bei mir eingehen. Ich werde meine Entscheidung vor Ende des morgigen Tages einreichen.«
Boady sah auf die Uhr an der Wand. Es war bereits nach 16 Uhr. Nur noch 24 Stunden, dann war Ben frei. Er wusste, welches Urteil Richter Ransom fällen würde. Zum Teufel, jeder im Gerichtssaal Anwesende wusste, dass Ben freigesprochen werden würde, aber aufgrund von Doveys politischen Ambitionen würden sie darauf noch einen Tag warten müssen.
Dann kam ihm ein Gedanke und er erhob sich noch einmal. »Euer Ehren, ich beantrage, dass das Gericht Mr. Pruitt bis zur Urteilsverkündung Hafturlaub gewährt.«
Dovey schlug mit der Faust auf den Tisch. »Auf gar keinen Fall, Euer Ehren.« Dovey brüllte seinen Einwand geradezu in den Saal. »Dieser Mann ist ein verurteilter Mörder. Sie dürfen ihn nicht aus der Haft entlassen …«
»Mr. Dovey!« Ransoms Stimme dröhnte. »Sie werden sich in meinem Gerichtssaal anständig benehmen. Ich sage Ihnen das nicht noch einmal.«
»Aber Euer Ehren«, verlegte sich Dovey aufs Flehen. »Ich kann nicht zulassen, dass dieser Mann zurück auf die Straße entlassen wird.«
»Mr. Dovey, das ist nicht Ihre Entscheidung«, erinnerte Richter Ransom ihn. »Ich kann nach eigenem Gutdünken Hafturlaub gewähren. Sie sind doch derjenige, der diese Verhandlung durch schriftliche Einreichungen in die Länge zieht. Ich habe Ihrem Gesuch entsprochen, aber ich bin der Auffassung, dass der Gerechtigkeit nur dann Genüge getan wird, wenn ich auch bezüglich Mr. Sandens Gesuch meinem Gewissen und meinem Urteilsvermögen folge. Ich werde dem Antrag der Verteidigung entsprechen und Hafturlaub gewähren.«
Dovey blickte sich über die Schulter in Richtung Zuschauertribüne um.
Es schien Boady, als wollte er sich vergewissern, dass Anna Adler-King nicht ihn für Richter Ransoms Entscheidung, Ben freizulassen, verantwortlich machen würde. Aber wenn es das war, wonach er in ihrem Gesicht suchte, dann fand er es offenkundig nicht. Anna Adler-King erhob sich und verließ den Gerichtssaal.
Ransom vertagte die Verhandlung, und während sich der Saal langsam leerte, blieben Boady, Ben und Lila reglos sitzen. Sobald sie allein waren, sprang Ben Boady geradezu an und umarmte ihn so fest, dass er glaubte, er würde gleich ohnmächtig werden.
»Was ist gerade passiert?«, fragte Lila.
»Wir haben gewonnen«, sagte Ben.
»Aber er hat doch das Urteil noch nicht gesprochen«, meinte Lila.
Ben meldete sich zu Wort. »Er hat mir Hafturlaub gewährt. Wenn er mich schuldig sprechen würde, hätte er das sicher nicht getan.«
»Herzlichen Glückwunsch, Lila«, freute sich Boady. »Du hast soeben deinen ersten Mordprozess gewonnen.«
Bens Knie schienen ihm den Dienst zu versagen, also ließ er sich auf seinen Stuhl zurücksacken. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er. »Ich meine … ich habe darauf gehofft und dafür gebetet, aber im Hinterkopf
hatte ich immer …« Bens Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann es kaum erwarten, Emma wiederzusehen.«
»Und ich kann dir sagen, dass Diana sich unglaublich freuen wird, sie aus Missouri zu dir zurückzubringen. Die beiden waren eine ganze Weile länger dort unten, als wir geplant hatten. Was das angeht, haben wir Emma übrigens nichts über den Fortgang der Verhandlung erzählt. Wir wollten warten, bis … na ja, bis heute, bis wir dich freibekommen haben. Und jetzt lass uns die Formalitäten regeln, damit du aus dem Arrest kommst.« Boady streckte die Hand nach seinem Mantel aus und fing an, die Taschen auszuleeren. »Es ist heute ein wenig kälter als an dem Tag, als sie dich verhaftet haben. Du wirst einen Mantel brauchen.« Boady hielt Ben seinen Mantel hin.
»Nein, das kann ich nicht annehmen«, wehrte Ben ab. »Du brauchst ihn doch selbst.«
»Ich kann mir gleich einen neuen kaufen gehen. Ich habe 200.000 auf dem Konto, die nur darauf warten, ausgegeben zu werden. Ich kann den Skyway nehmen und zu Macy’s rübergehen. Ich muss nicht einen Fuß nach draußen setzen.«
»Nun, wenn du darauf bestehst …«, sagte Ben.
»Das tue ich. Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«
»Nein.« Ben nickte in Richtung des Deputys, der immer noch schweigend hinten im Saal stand. »Ich nehme mir ein Taxi und fahre nach Hause. Ich war 24 Stunden täglich umgeben von anderen Männern; ich wäre gern eine Nacht ganz allein. Mich duschen, in Ordnung bringen und meine Gedanken zur Ruhe bringen, bevor ich Emma wiedersehe.«
Ben streckte ein letztes Mal die Arme aus und umarmte Boady und Lila gemeinsam. »Ohne euch hätte ich das nicht geschafft.«