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Lila parkte an der Summit Avenue, weil Boadys Einfahrt noch nicht geräumt war. Sie trampelte den Schneematsch von ihren Stiefeln ab, als sie die Stufen zur Veranda hinaufstieg, klopfte wie üblich an die Haustür und betrat dann das Haus. Im Eingangsflur und in Professor Sandens Arbeitszimmer waren die Lichter an, aber der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Sie begann, die Schnürsenkel ihrer Stiefel zu lockern.
»Professor Sanden?«, rief sie in Richtung Arbeitszimmer. »Ich bin nur hier, um mein Zimmer auszuräumen.«
Immer noch keine Reaktion.
Sie glitt aus den nassen Stiefeln und tappte auf Strümpfen zu seinem Arbeitszimmer. Durch das Glas der Tür sah sie ihn auf seinem Schreibtischstuhl sitzen. Er stierte auf den Computermonitor.
»Professor? Alles in Ordnung?«
Professor Sanden blickte auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war so traurig und niedergeschlagen, dass Lila verwirrt innehielt. Er winkte sie herein. »Setz dich«, sagte er und zeigte auf einen Stuhl. Als sie Platz genommen hatte, drehte er den Monitor so, dass sie auf den Bildschirm sehen konnte. Der zeigte ein Standbild aus den Videoaufzeichnungen der Mautstellen: ein weißer SUV mit einem Mann am Steuer. »Erkennst du ihn?«, fragte er.
Lila betrachtete das Bild genau, aber das Erkennen sickerte nur langsam in ihr Bewusstsein. »Das sieht aus wie … Mr. Pruitt.«
»Es ist Mr. Pruitt«, bestätigte Professor Sanden. »Der Wagen gehört Malena Gwin.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nachdem die Verhandlung heute beendet war, habe ich gesehen, wie Ben in diesen Wagen einstieg und Malena Gwin küsste. Wir haben die ganze Zeit nach einem roten Wagen gesucht, aber nicht nach ihrem SUV. Ich meine, wer hätte auch darauf kommen sollen?«
»Professor Sanden, ich verstehe das immer noch nicht.«
Sanden atmete aus, als müsste er sich zwingen, die Worte auszusprechen, die ihm nicht über die Lippen wollten. »Ben Pruitt hat seine Frau umgebracht und hatte Malena Gwin als Komplizin.«
»Aber das ergibt doch gar keinen Sinn«, wandte Lila ein. »Malena Gwin war diejenige, die den Prozess erst ins Rollen gebracht hat. Sie
war diejenige, die ausgesagt hat, dass sie Mr. Pruitt in jener Nacht gesehen hat. Ohne sie wäre er doch niemals angeklagt worden.«
»Und wenn er freigesprochen wird, hat er den Strafklageverbrauch auf seiner Seite. Er kann kein zweites Mal für diesen Mord belangt werden. Er wollte angeklagt werden. Er musste vor Gericht stehen. Genau das hat er von Anfang an geplant.«
»Aber er wurde verurteilt.«
»Das ist wahr. Ich glaube nicht, dass das auch Teil seines Plans war. Ich bin sicher, er glaubte, dass er freigesprochen werden würde, sobald Malena Gwin ihre Aussage änderte. Aber selbst wenn nicht, hatte er immer noch ein Ass im Ärmel. Er wusste, wie das mit dem Bettzeug laufen würde. Er wusste, dass die Heizanlage in seinem Haus nicht ordentlich funktionieren würde, wenn der Schacht verstopft war. Er hat die Laken dort hineingestopft, um sicherzugehen, dass sie irgendwann gefunden werden würden.«
Lila ließ sich den Fall erneut durch den Kopf gehen und sah ihn nun in einem gänzlich anderen Licht. »Deswegen hat er die Leiche weggebracht.«
Boady lächelte, weil Lila so clever war. »Ganz genau. Bisher hat uns nicht wirklich eingeleuchtet, wieso der Mörder sich überhaupt die Mühe machte, die Leiche zu diesem Parkplatz zu schaffen. Wir haben alle angenommen, dass der Mörder versuchen wollte, sein Verbrechen zu vertuschen, aber an dem überfüllten Müllcontainer scheiterte. Aber in Wirklichkeit war es genau andersherum. Ben hat Jennavieves Leiche auf dem Parkplatz abgelegt, um sicherzustellen, dass sie gefunden wurde, während er in Chicago war und somit ein Alibi hatte. Dieses Alibi konnten wir nicht beweisen, weil Max Rupert natürlich recht hatte. Er ist hierher zurückgefahren. Malena Gwin hat nur von einem roten Viertürer gesprochen, damit Max nach dem falschen Wagen sucht.«
»Das müssen wir dem Richter erzählen«, drängte Lila. »Er hat Mr. Pruitt heute nicht freigesprochen. Wir müssen es ihm sagen, bevor er morgen diesen Freispruch verkündet.«
»Das dürfen wir aber nicht.«
»Professor Sanden, Ben Pruitt ist ein Mörder. Wir wissen, dass er ein Mörder ist. Wir wissen, dass er freigesprochen wird. Wir können doch nicht einfach hier sitzen und nichts tun.«
»Uns sind die Hände gebunden. Wir haben die moralische Verpflichtung, stets im Interesse unseres Klienten zu handeln. Wenn
wir irgendetwas unternehmen, das den Interessen des Klienten zuwiderläuft, dann übertreten wir nicht nur diese Verpflichtung, die Beweise würden auch gar nicht erst zugelassen. Ransom hat mehr oder weniger offen gesagt, dass er vorhat, Ben freizusprechen. Wenn wir zu ihm gehen und ihm sagen würden, was wir wissen, müsste er das bei seiner Entscheidung ignorieren. Er hat genauso wenig eine Wahl wie wir. Was wir jetzt über Ben wissen, wird nicht als Beweis zugelassen. Ben wird nicht plötzlich doch noch verurteilt, wenn wir jetzt zu Ransom rennen und ihn verpfeifen – jedenfalls nicht auf diesem Wege.«
»Gibt es denn gar nichts, was wir tun können?«
»Darüber zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf, Lila. Ich habe eine Idee, aber … ich weiß nicht. Es gibt keinen Präzedenzfall dafür; jedenfalls weiß ich von keinem.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ja. In der Jura-Bibliothek gibt es ein Buch, eine Abhandlung über Ethik, die ich in meinem Kurs verwende. Man kann es nicht entleihen, aber ich werde anrufen und sagen, dass ich es für meine Recherchen brauche, dann geben sie es dir mit.« Boady schrieb den Titel des Buches auf einen Zettel und reichte ihn Lila. »Könntest du rüberfahren und mir das Buch mitbringen?«
»Natürlich, Professor. Es wird nicht lange dauern.« Lila rannte zur Tür, schlüpfte in ihre Stiefel und rannte zu ihrem Wagen, ohne auf dem glatten, schneebedeckten Gehweg auch nur einmal auszurutschen.
Das Innere ihres Wagens war immer noch warm, die Windschutzscheibe sauber. Als sie hinter das Steuer glitt, zog sie den Schlüssel mit solcher Hast aus ihrer Handtasche, dass er ihr aus den zitternden Fingern flog, vom Lenkrad abprallte und auf die Fußmatte fiel. Lila streckte die Hand nach unten aus und tastete die nasse Fußmatte nach dem Autoschlüssel ab, während sie sich im Stillen schalt, weil sie so kopflos war. Sie wollte gerade die Fahrertür aufstoßen und aussteigen, um den Schlüssel so besser zu finden, als ihre Finger ihn unter dem Sitz berührten.
Als sie sich wieder aufsetzte, sah sie die Scheinwerfer eines Wagens, der auf der anderen Straßenseite anhielt, um dort zu parken. Es war ein schwarzer BMW. Sie wollte gerade den Schlüssel ins Zündschloss stecken, als die Fahrertür des BMW aufgestoßen wurde. Die Innenbeleuchtung ging an und hinter dem Steuer erkannte sie Ben Pruitt.
Lila glitt in ihrem Sitz so weit wie möglich nach unten. Sie konnte
gerade noch sehen, wie Ben Pruitt aus seinem Wagen stieg. Er richtete sich zu voller Höhe auf, blickte sich um, beugte sich dann wieder in den Wagen und streckte die Hand zur Mittelkonsole aus. Als er wieder stand, hielt er eine kleine schwarze Pistole in der Hand.
Lila rutschte noch tiefer und hielt den Atem an.
Ben Pruitt steckte sich die Waffe hinten in den Hosenbund und stapfte auf Professor Sandens Haus zu.