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Boady starrte auf den Computerbildschirm, aber die Worte des Falles, die er eben noch gelesen hatte, verschwammen vor seinen Augen. Stattdessen schob sich das Bild von Emmas Gesicht davor. Sie hatte die Augen ihrer Mutter, nur waren die ihren von so viel Schmerz gezeichnet, wie keine Elfjährige ihn kennen oder ertragen sollte. Und das, was nun geschehen würde, was Boady vorschwebte, würde das Herz des Mädchens noch ein zweites Mal brechen. Er glaubte nicht, dass dieser Riss jemals wieder geheilt werden konnte.
Wie könnte sie ihm jemals verzeihen, was er als Nächstes tun würde? Aber er musste es dennoch tun. Boady sah keinen anderen Ausweg.
Er dachte an die Jahre zurück, die er mit Ben Pruitt verbracht hatte, und durchsuchte seine Erinnerungen nach Anzeichen dafür, dass der schon immer das Monster gewesen war, als welches er sich jetzt entpuppt hatte. Zehn Jahre trennten sie, aber Boady fühlte eine brüderliche Zuneigung für seinen Schützling, die ihm auch jetzt noch das Herz zerriss, obwohl er die Wahrheit kannte. Hatte das Monster schon die ganze Zeit hinter Bens umgänglicher Fassade gelauert? Hatte ihn die Nähe, die er zu Ben spürte, blind für dessen Abgründe gemacht? Boady dachte an all die Male, als sie sich im Gefängnis getroffen hatten, an die Emotionen, die sich in Bens Gesicht widergespiegelt hatten, die Tränen und kleinen Details, die seine Darbietung beinahe schon übertrieben wirken ließen. Er war so überzeugend gewesen.
Als Boady seine Erinnerungen an Ben auseinandernahm und neu zusammensetzte, kam er zu der Erkenntnis, dass Bens Auftritte nicht nur das Werk eines brillanten Schauspielers waren. Schauspielerei spielte eine zentrale Rolle, ja, aber das war mehr als nur Theater gewesen. Es war das Werk eines Soziopathen.
Er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, und nahm an, dass Lila zurückgekehrt war, weil sie etwas vergessen hatte. Das Geräusch riss ihn keineswegs aus seinen Gedanken, aber nach ein paar Minuten spürte er, dass er nicht allein war. Er blickte auf und sah Ben Pruitt im Türrahmen seines Arbeitszimmers stehen. Boady schrak innerlich heftig zusammen, unterdrückte diese Regung aber nach außen hin.
»Guten Abend, Ben«, sagte er.
»Darf ich reinkommen?«, fragte Ben.
»Nur zu.« Boady wies auf einen Stuhl.
»Solltest du jetzt nicht sagen, dass du überrascht bist, mich zu sehen?«
»Nein. Was für einen Sinn macht es noch, sich zu verstellen?« Boady klickte auf seine Maus, um das Standbild von der Mautstelle aufzurufen. Er drehte den Monitor, sodass Ben es sehen konnte.
»Ich glaube nicht, dass das meine Schokoladenseite ist, oder?«
»Du hast Jennavieve umgebracht?« Sosehr er es auch versuchte, Boady konnte den Schmerz in seiner Stimme nicht überspielen.
»Fragst du mich das als mein Freund oder als mein Anwalt?«
»Ich glaube, wir können wohl ausschließen, dass wir beide noch Freunde sind, Ben. Nicht nach alledem.«
»Das ist aber schade, weil ich dich immer noch sehr gern mag, Boady. Du hast großartige Arbeit geleistet. Ehrlich gesagt wollte ich dir schon eine ganze Weile reinen Wein einschenken, spätestens nachdem sie die Laken und das Messer gefunden haben. Ich wollte dich so gern in mein kleines Geheimnis einweihen. Und weil das Anwaltsgeheimnis gilt, hätte ich das auch machen können. Aber dann habe ich an den armen Miguel Quinto gedacht. Ich wollte nicht riskieren, dass du nicht mehr bei der Sache bist und es deswegen versaust so wie bei ihm. Es ging schließlich ums Ganze, da musste ich sichergehen, dass du mit dem Kopf ganz und gar bei mir bist.«
»Wieso bist du hier, Ben?«
»Na ja, Boady, als du mich in der Innenstadt gesehen hast, da bin ich ein bisschen nervös geworden. Ich meine, du hättest mal dein Gesicht sehen sollen – so als hättest du mich gerade dabei beobachtet, wie ich einen Welpen abgestochen hätte oder so was. Das hat mich nachdenklich gemacht und, na ja, ich dachte, ich schaue besser mal bei dir vorbei und sorge dafür, dass du nichts Unüberlegtes tust.«
»Was könnte ich denn schon tun?«, wollte Boady wissen. »Mir sind doch die Hände gebunden.«
»Das habe ich immer an dir gemocht, Boady. Du hältst dich immer schön an die Regeln.«
»Du hast Emmas Mutter getötet.«
»Ich habe einen Hausdrachen getötet«, konterte Ben kalt. Boady sah in seinem Blick, dass er gerade eine Wahrheit ausgesprochen hatte, die er gar nicht laut hatte sagen wollen. Ben atmete kurz ein, um sich wieder zu fangen, und fuhr dann mit normaler Stimme fort: »Gut gemacht übrigens, dass du die Serviette mit Kagens DNA besorgt hast.
Ich fing an, mir ein wenig Sorgen zu machen, dass du es nicht schaffst, mich zu entlasten, aber dann hast du das aus dem Hut gezaubert.«
»Ich stelle mir das so vor, dass Malena Gwin ihren Wagen nach Chicago gebracht hat und dann … Was hat sie gemacht, einen Zug zurück nach Minneapolis genommen?«
»Du zeichnest das doch nicht auf, oder?«
»Dann würde immer noch das Anwaltsgeheimnis gelten, schon vergessen? Es würde keinen Unterschied machen.«
Ben stand auf und beugte sich über den Schreibtisch, um sicherzugehen, dass dahinter kein Aufnahmegerät versteckt war, das er nicht sehen konnte. Dann setzte er sich wieder hin. »Sicher ist sicher. Ein Mann kann heutzutage gar nicht vorsichtig genug sein.«
Boady fuhr fort, den Ablauf so darzulegen, wie er ihn sich bisher zusammengereimt hatte. »Du nimmst also Malenas Autoschlüssel mit, fliegst nach Chicago, begrüßt einige deiner Kollegen und fährst dann zurück. Du kommst gerade rechtzeitig an, um Kagen wegfahren zu sehen.«
Ben antwortete nichts darauf.
»Du wusstest von Jennavieves Affäre. Malena hat dein Haus für dich observiert. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch, dass er seine DNA auf dem Bettzeug hinterließ.«
»Denkst du wirklich, dass es dir guttut, dir den Ablauf im Detail vorzustellen, alter Freund? Wir wissen doch beide, wie empfindsam du sein kannst. Außerdem hast du es doch eben selbst gesagt: Es gibt nichts, was du in dieser Sache noch tun könntest.«
»Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte Boady.
Ben betrachtete Boady nachdenklich, bevor er etwas erwiderte. »Das Anwaltsgeheimnis greift nach wie vor. Was du weißt, darf diesen Raum niemals verlassen. Wenn du es irgendjemandem erzählst, verlierst du deine Lizenz und deine Aussage ist trotzdem unzulässig. Glaub mir, Boady, ich habe das gründlich durchdacht.«
Boady nahm den Hörer des Telefons auf seinem Schreibtisch ab. »Ich habe hier die Nummer von Richter Ransoms Büro. Er wird um diese Zeit wahrscheinlich eher nicht mehr dort sein, aber du kannst eine Nachricht hinterlassen.«
»Und wieso zur Hölle sollte ich Richter Ransom anrufen wollen?«
»Du hast zum zweiten Mal eine Täuschung des Gerichts begangen.«
Ben lachte dröhnend auf. »Hast du völlig den Verstand verloren?«
»Du hast vor Gericht ausgesagt, dass du deine Frau nicht umgebracht
hast. Das war eine Lüge.« Boady blickte Ben direkt in die Augen und suchte nach Anzeichen, dass seinem Gegenüber dämmerte, worauf er hinauswollte.
»Ach du lieber Himmel, du meinst das wirklich ernst.« Bens Lachen verstummte, aber sein Grinsen verschwand nicht.
»Gemäß Regel 3.3, ›Aufrichtigkeit dem Gericht gegenüber‹«, paraphrasierte Boady den Grundsatz für Ben, »wenn ein Anwalt die begründete Vermutung oder das Wissen hat, dass sein Klient betrügerisch in Bezug auf das Verfahren handelt, muss er geeignete Abhilfemaßnahmen ergreifen, einschließlich Offenlegung gegenüber dem Gericht.«
»Das ist eine Regel fürs Zivilgericht, Boady. Hier geht es aber nicht um einen Zivilprozess, sondern um einen Strafprozess. Unsere Klienten lügen doch andauernd. Himmel, die Richter und Geschworenen erwarten gar nichts anderes von ihnen.«
»Es ist eine Regel der Ethik, Ben. Es gibt keine Ausnahme für Strafprozesse.«
Bens Gesicht verdüsterte sich und er wurde ernst. Er schürzte die Lippen und seufzte auf. »Ich hatte befürchtet, dass du anfangen würdest, dir verrücktes Zeug auszudenken. Genau deswegen hatte ich das Gefühl, dass es nötig wäre vorbeizuschauen.«
»Der Grundsatz verlangt, dass ich dir zunächst Gelegenheit gebe, deine Täuschung aufzudecken.« Boady zeigte auf das Telefon.
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann verlangt der Grundsatz, dass ich Richter Ransom anrufe.«
»Kein Gericht der Welt wird deiner Auslegung folgen. Wenn du das durchziehst, erreichst du absolut gar nichts, verlierst lediglich deine Lizenz.«
Nun war es Boady, der leise lachte.
»Was ist so komisch daran?«
»Fiat justitia ruat caelum.«
»Wie bitte?«
»Ich habe diese Wendung seit mindestens zehn Jahren nicht mehr zitiert, und nun taucht sie gleich zweimal in einem Prozess auf. Du weißt, was der Satz bedeutet?«
»Ich fürchte, er sagt mir gar nichts.«
»Gerechtigkeit muss walten, auch wenn der Himmel einstürzt.« Boady lehnte sich ein Stück vor und fixierte Ben mit zornigem Blick. Der letzte Funke ihrer früheren Freundschaft war darin erloschen. »Ich
sage es dir klar und deutlich, alter Freund. Es ist mir scheißegal, ob ich meine Lizenz verliere. Das Risiko gehe ich ein. Ich werde diesen Anruf machen. Vielleicht ändert Ransom sein Urteil, vielleicht auch nicht. Das ist seine Entscheidung. Aber ich rufe ihn an.«
»Warte, Boady. Du weißt nicht, was du da tust.« Bens Tonfall war jetzt beinahe flehend. »Du hast doch die wahre Jennavieve gar nicht gekannt. Sie war besser darin, die Fassade zu wahren, als jeder andere.«
»Besser als du?«, hakte Boady nach.
»Sie hat mir die Eier abgeschnitten, Boady. Sie hat ihren Reichtum wie eine Peitsche verwendet. Sie hatte zu Hause alles völlig unter Kontrolle und ich habe genau gesehen, wie sie das mit dem Geld als Druckmittel auch bei Emma angefangen hat. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Du hättest dich von ihr scheiden lassen können. Menschen tun das ständig.«
»Du hast keine Ahnung, wie das bei reichen Leuten läuft, Boady. Bei Superreichen. Die haben Anwälte und Verbindungen … Himmel, du hast doch selbst gesehen, wie schnell die auf der Matte standen, nachdem ich verhaftet wurde. Diese Familie ist brutal. Ich hätte Emma für immer verloren.«
»Siehst du denn gar nicht, was du Emma angetan hast? Geht das nicht in dein egozentrisches Hirn?«
»Ich beschütze Emma doch nur, verflucht! Und darum musste ich tun, was ich getan habe.«
»Nein, Ben. Ich
bin derjenige, der Emma beschützt.«
Boady drehte das Telefon wieder zu sich herum und nahm erneut den Hörer ab. Als er anfing, die Nummer von Richter Ransoms Büro zu wählen, beugte Ben sich ein Stück nach vorn und griff hinter seinen Rücken. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt er eine Waffe.