63
Das Blut gefror Boady in den Adern, als Ben Pruitt drohte, ihn umzubringen. Aber im selben Augenblick flog die Tür mit einem Krachen auf. Glasscherben wurden in alle Richtungen katapultiert, als Max ins Zimmer stürmte.
»Lassen Sie die Waffe fallen!«, brüllte Max in voller Lautstärke. »Fallen lassen, sofort!«
Ben sprang vom Stuhl auf und fiel dabei fast vornüber.
»Ich sagte, Waffe fallen lassen. Na los!«
Bens Beine torkelten wie von selbst rückwärts, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Die gab ihm genügend Halt, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er wollte sich aufrichten und hielt die Waffe auf den Boden gerichtet. »Nicht schießen!«
»Waffe fallen lassen!«
»Warten Sie! Nicht schießen. Ich muss mit Ihnen reden.« Ben hob langsam die Waffe, achtete aber darauf, dass sie weder auf Boady noch auf Max gerichtet war.
»Lassen Sie die Waffe fallen oder ich schwöre bei Gott, ich knalle Sie ab! Wird’s bald?!«
Ben ignorierte Max’ Befehl nach wie vor. Die Waffe wanderte immer höher, bis Ben sie sich an den eigenen Kopf hielt, die Mündung gegen seine Schläfe gedrückt. »Wenn Sie mich erschießen, Detective, dann erfahren Sie niemals, wer Ihre Frau umgebracht hat.«
Das Geschrei und Tohuwabohu, das gerade noch den Raum erfüllt hatte, verstummte auf einen Schlag. Was blieb, war eine unnatürliche Stille. Max hatte offenbar die Fähigkeit zu sprechen verloren, also sagte Boady noch einmal: »Ben, bitte lass die Waffe fallen.«
»Wie sieht es aus, Detective? ›Der Tod Ihrer Frau war kein Unfall. Hier ist der Beweis‹. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?«
»Wovon zum Teufel spricht er denn?«, wollte Boady wissen.
»Sie haben den Brief geschrieben«, stellte Max fest. »Sie …« Max zielte mit seiner Waffe auf Bens Kopf. Die Mündung war gerade einmal zwei Meter von Bens Nase entfernt.
Boady spürte, dass die Spannung ein wenig nachließ, also stand er hinter dem Schreibtisch auf, in der Hoffnung, die Konfrontation wieder in ein Gespräch zu verwandeln. »Würde mir bitte einer von euch
erklären, was hier vor sich geht?«
»Wenn du erlaubst?«, sagte Ben. In seiner Stimme klang ein leichtes Zittern mit, auch wenn Boady ihm ansah, dass er sein Bestes tat, gelassen zu wirken. »Ich hatte gewisse … Insiderinformationen über den Tod einer Frau namens Jennifer Rupert. Ganz ehrlich, ich hätte damals nie gedacht, dass mir diese Informationen je von Nutzen sein könnten.«
»Woher haben Sie Ihr Wissen, Pruitt?«, fauchte Max ihn an. »Spucken Sie’s aus, oder …«
»Oder was, Detective?« Ben wedelte mit seiner Pistole vor seiner Schläfe herum. »Wollen Sie sehen, wer von uns beiden mich schneller erschießt? Denn ins Gefängnis gehe ich ganz sicher nicht zurück.«
»Wovon redest du denn da, Ben?« Boady war immer noch verwirrt.
»Ganz ehrlich, ich habe nie damit gerechnet, dass mir dieses Wissen irgendwann von Nutzen sein würde, aber ich habe es trotzdem in der Hinterhand behalten. Plan B, nur für alle Fälle. Womit ich dagegen fast gerechnet habe, ist, dass die Stadt den besten Mordkommissar auf mich ansetzt, den sie in ihren Reihen hat. Ich meine, wieso auch nicht? Und wie sich herausstellt, war es sowieso von Anfang an Ihr Fall.«
Während Ben redete, konnte Boady ihm ansehen, dass seine Entschlossenheit wuchs. Er musste sich nicht mehr gegen die Wand lehnen, um aufrecht stehen zu bleiben, und das Zittern in seiner Stimme war auch verschwunden.
»Dann höre ich, dass Sie die Aufnahmen der Mautstellen angefordert haben«, fuhr Ben fort. »Ich habe mir zwar große Mühe gegeben, meine Rückkehr, so gut es ging, zu verschleiern, aber es bestand ja trotzdem die Möglichkeit, dass unser Max hier mich dennoch erkennen würde. Also musste ich ihn auf eine kleine Schatzsuche schicken, um ihn abzulenken.« Ben ließ ein gezwungenes Lachen hören. »Ich konnte fast nicht mehr an mich halten, als ich erfuhr, dass Sie deswegen verwarnt wurden. Das war das i-Tüpfelchen für mich, schätze ich.«
»Sie wissen, wer meine Frau umgebracht hat?«, fragte Max. Boady hatte seine Stimme noch nie so verletzlich klingen hören. Selbst in jener Nacht, als sie ihn vom Friedhof wegschleppen mussten, hatte er sie immer noch angeblafft. Aber nun klang er beinahe zaghaft.
»Ja, Max. Und wenn ich in den Knast wandere, nehme ich das Geheimnis mit mir. Das schwöre ich Ihnen, dann werden Sie die Antwort nie erfahren. Das ist eine ganz einfache Rechnung, Detective. Sie lassen mich gehen und ich verrate Ihnen, wer der Mörder Ihrer
Frau war. Das klingt doch nach einem fairen Tausch.«
Die Hand mit der Waffe begann kaum wahrnehmbar zu zittern. Die Gleichung hatte sich verändert. Es ging nicht mehr darum, ob Ben verurteilt werden würde oder nicht. Es war eine rationale Transaktion. Ein Mörder gefasst, während ein anderer ungesühnt davonkam.
»Max«, sagte Boady sanft. »Es ist deine Entscheidung.«
Auf Max’ Stirn glänzte der Schweiß in den Furchen. Seine Augen verengten sich und sein Brustkorb blieb reglos, weil er den Atem anhielt. Seine Waffe sank langsam hinab, als wäre ihr Gewicht kaum mehr zu tragen, bis die Mündung auf Ben Pruitts Herz gerichtet war. Boady konnte nur spekulieren, welchen seelischen Kampf Max mit sich selbst ausfocht.
Dann sagte Max laut und deutlich: »Nein.«
»Nein?«, echote Ben. »Was soll das heißen, nein? Wollen Sie sich wirklich für den Rest Ihres Lebens mit der Frage quälen, wer Ihre Frau getötet hat?«
»Wollen Sie wirklich den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen? Ich wette, wir können uns einigen, wenn Ihnen erst klar wird, wie mies Ihre Aussichten sind. Vielleicht sagen Sie mir ja, was ich wissen will, wenn ich Ihnen im Austausch eine Zelle mit schöneren Gittern vor dem Fenster anbieten kann.«
»Es wird keine Einigung geben, Rupert. Es gibt nur jetzt oder nie.«
»Das werden wir sehen. Ich werde Sie einmal im Jahr besuchen kommen und nachschauen, wie es Ihnen geht. Werde fragen, ob Sie Ihre Meinung geändert haben. Wenn nicht, auch gut. Aber Sie kommen hier nicht raus. Sie wandern in den Knast. Und jetzt … lassen Sie die verdammte Waffe fallen.«
Bens Blick war plötzlich beinahe schwermütig, und er schüttelte langsam den Kopf hin und her. »Sie werden mich nicht besuchen kommen, Detective, denn ich gehe nicht ins Gefängnis zurück.«
Ben riss die Waffe hoch. Aus der Mündung blitzte das explodierende Schwarzpulver auf. Und obwohl er nur gute zwei Meter von Max entfernt stand, pfiff die Kugel weit am Ziel vorbei. Beinahe so, als hätte er Max gar nicht treffen wollen.
Max jagte Ben eine Kugel durch die Brust, bevor er die Chance hatte, darüber nachzudenken.
Ben fiel rückwärts gegen die Wand und glitt daran hinab zu Boden.
»Nein!«, brüllte Max und sackte neben Ben auf die Knie. »Warum haben Sie das getan?!«
Ben atmete keuchend ein. Seine Augen waren schreckgeweitet und voller Angst.
»Wer hat meine Frau umgebracht?« Max packte Bens Hemd und schüttelte ihn. »Wer hat meine Frau umgebracht?«
Bens Lider flatterten. Dann brachte er ein schlaffes Lächeln zustande.
»Geben Sie mir einen Namen!«
Bens Augäpfel rollten nach oben weg und sein Körper erschlaffte.
Boady spürte, wie ihm die Beine nachgaben, und ließ sich langsam auf seinen Stuhl zurücksinken. Er konnte kaum atmen, als er den Blick durch das Zimmer wandern ließ: Ben Pruitt lag tot auf dem Fußboden, Max kniete mit einem Blick abgrundtiefer Verzweiflung über dem Toten, Lila hielt sich am Türrahmen fest, während ihre blassen Augen den Raum nach einer Antwort absuchten. Boady versuchte etwas zu sagen, aber als er den Mund öffnete, kam nur ein leerer Atemhauch heraus.