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Zu Silvester war es in der Stadt eiskalt geworden. Die Meteorologen tönten, dass Minnesota einen neuen Tiefstpunkt erreicht hatte, was die Temperaturen anging, und eine Erwärmung war nicht in Sicht. Boady parkte den Wagen am Straßenrand vor Max Ruperts Haus und zog sich Lederhandschuhe über.
Er hatte Thanksgiving in Missouri verbracht und versucht, Emma zu erklären, wieso sie zu einer Beerdigung nach Minnesota zurückkehren würden. Er hatte sich sogar eine Geschichte über einen Gefängnisaufstand zurechtgelegt, um den Tod ihres Vaters zu beschönigen, aber Diana hatte diese Idee im Keim erstickt. »Eines Tages wird sie die ganze Geschichte im Internet nachlesen können«, hatte Diana gesagt. »Es wird wehtun, aber wir werden ihr von Anfang an die Wahrheit sagen. Wenn sie all das irgendwie verarbeiten soll, dann muss sie die Wahrheit erfahren. Sie muss wissen, wohin mit ihrer Wut.«
Natürlich hatte Diana wie immer recht.
Seit der Schießerei hatte er nicht mit Max gesprochen. Er hatte ein paarmal angerufen, Nachrichten hinterlassen, aber Max hatte sich nicht gemeldet. Als er aus dem Wagen stieg und in die riesige Kühltruhe hinaustrat, in die sich seine Wahlheimat, der Bundesstaat Minnesota, wieder einmal verwandelt hatte, hielt er noch einmal inne, um seine Gedanken zu ordnen – und vielleicht auch, um seinen Mut zusammenzunehmen. Mit dem Aktenkoffer in der einen Hand klopfte er an Max’ Tür und wartete. Er hörte Schritte. Dann Stille, während ein Schatten das kleine Fenster in der Haustür füllte. Dann hörte er, wie der Riegel zurückgeschoben wurde.
Max öffnete die Tür, begrüßte Boady aber nicht. Er stand einfach nur da.
»Darf ich reinkommen?«
»Was willst du, Boady?«
»Ich will nur fünf Minuten deiner Zeit. Das ist alles. Danach verschwinde ich und gehe dir nie wieder auf den Sack. Nur fünf Minuten.«
Max überlegte kurz, bevor er zurücktrat und Boady hereinließ.
Boady folgte Max ins Wohnzimmer, wo der sich in den Sessel fallen ließ. Boady nahm auf der Couch Platz. Boady war schon viele Male hier gewesen, sowohl vor als auch nach Jennis Tod. Hier schien sich rein gar nichts verändert zu haben seit dem Tag, an dem sie gestorben war.
»Fünf Minuten«, sagte Max.
Boady klappte den Aktenkoffer auf und zog eine knapp fünf Zentimeter dicke Aktenmappe heraus.
»Was ist das?«
»Ich bin zum Nachlassverwalter von Ben Pruitts Anwaltskanzlei bestimmt worden.«
Max blickte ihn nur ausdruckslos an.
»Wenn ein praktizierender Anwalt stirbt, bestimmt die Kammer einen anderen Anwalt, um die Kanzlei abzuwickeln: Akten schließen, Vorschüsse zurückzahlen, die Aufbewahrung oder Vernichtung von Akten überwachen, solche Sachen. Bens Kanzlei ist ja früher einmal meine gewesen. Ich war derjenige, der die Rechnungssetzung und die Ablage damals eingerichtet hat. Himmel, mein ehemaliger Rechtsanwaltsgehilfe hat immer noch für ihn gearbeitet. Nun, es war jedenfalls naheliegend, dass ich mich darum kümmern sollte, diese Kanzlei abzuwickeln.«
Er machte eine Pause, um festzustellen, ob Max ahnte, worauf er hinauswollte. Dem schien allerdings nicht so.
»Ich bin den gesamten Dezember über Bens Klientenliste durchgegangen. Alles schien ordnungsgemäß und klar, aber dann bin ich auf diese Akte gestoßen.« Er reichte Max die Mappe. »Der Name des Mannes ist Ray Kroll.
»Die Akte war in einer eigenen Schublade. Es ist nirgendwo vermerkt, dass Kroll einen Vorschuss gezahlt hat, was wahrscheinlich bedeutet, dass er in bar bezahlt hat.«
Boady sah zu, wie Max mit dem Daumen die Seiten in der Aktenmappe durchblätterte. »Er wurde bei einer Kneipenschlägerei verhaftet?«, fragte Max.
»Und wegen tätlichen Angriffs mit Tötungsabsicht angeklagt. Hat einen Mann mit einem Ziegelstein beinahe totgeschlagen. Kam auf Kaution frei und wurde prompt erschossen.«
»Der Kerl, den er angegriffen hat, hatte Freunde. Und weiter?«
»Vielleicht. Aber schau dir das hier mal an.« Boady blätterte die Seiten zurück, um die Innenseite der Aktenmappe freizulegen. Dort hatte jemand mit blauer Tinte eine Notiz hingekritzelt. Jennifer Rupert – gelber Corolla – #49 – St. Louis Park.
Max erstarrte.
Dann hob Boady die Papiere auf der anderen Seite der Mappe hoch und zeigte Max die CD-ROM in der Papierhülle, die hinten mit einem Tesastreifen eingeklebt war. »Ich habe mir diese CD angehört, Max. Darauf hört man das Telefongespräch zweier Männer. Max, sie sprechen über Jenni. Daher hatte Ben seine Informationen über ihren Tod. Ich war der Meinung, dass du das bekommen solltest.«
Max starrte auf die Akte in seinen Händen. Boady konnte sehen, wie sich die Rädchen im Kopf des anderen drehten. Dann hob Max den Kopf und vergewisserte sich langsam: »Ich dürfte das eigentlich gar nicht haben, nicht wahr?«
Boady dachte an den immensen Ärger, der ihm ins Haus stand, sollte das je herauskommen. Er würde seine Lizenz verlieren, seine Anstellung – wer wusste schon, wie weit das Gremium für berufliche Verantwortung gehen würde? Auf der anderen Seite der Bilanz stand allerdings die Tatsache, dass Boady wieder ruhig schlafen und sich selbst im Spiegel ansehen konnte, wenn er Max diese Akte jetzt überließ. Schlussendlich war ihm die Entscheidung leichtgefallen.
»Ich müsste sie eigentlich zerstören«, erwiderte Boady. »Aber ich sehe das so: Ray Kroll ist tot. Ben ist tot. Und irgendwo da draußen läuft ein Mörder herum, der ungeschoren davongekommen ist. Ich kann diese Akte nicht einfach schreddern. Aber wenn du irgendjemandem erzählst, wo du sie herhast, werde ich alles leugnen.«
»Niemand wird je etwas erfahren«, sagte Max. »Das verspreche ich.«
Boady erhob sich. »Ich glaube, meine fünf Minuten sind um.« Er wandte sich zur Tür.
Max blieb in seinem Sessel sitzen und starrte auf die Akte hinab.
»Ich hoffe, dass du findest, wonach du suchst, Max. Und wenn du je in der Stimmung bist, ein Bier mit mir zu trinken … nun, du weißt ja, wo ich wohne.«
Max klappte die Mappe zu, sah aber nicht auf. »Danke«, sagte er leise.
Boady nickte schweigend und verließ das Haus.