A nja spürte, wie ihre Augen mit jeder Sekunde, die sie auf den Bildschirm starrte, trockener wurden. Sie konnte nichts dagegen tun, nicht wirklich. Sie hatte schon zu viel Zeit vor dem verdammten Ding verbracht, getrieben von dem inneren Antrieb, der ihr ständig sagte, dass sie bis zum Umfallen weiterarbeiten musste. Jetzt war sie da. Der Sturz stand unmittelbar bevor, aber sie musste ihn irgendwie noch ein wenig hinauszögern.
Die Mission mit Savage war vorbei und Sal war im Zoo, entführt und nun auch noch gejagt von zwei rachsüchtigen Walküren in Form von Madigan und Courtney. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie nur noch rumsitzen und warten.
Sicher, sie hatte ein paar Dinge in der Mache, an denen sie arbeiten konnte. Dabei handelte es sich um Gesichtserkennung, Infiltrationen und Wanzen, die sie bereits hinter den feindlichen Linien hatte und die ihr ständig Daten zuspielten. Sie musste sie manuell durchforsten, da die meisten Algorithmen, selbst die, die sie geschrieben hatte, nicht in der Lage waren, das zu finden, was sie brauchte. Aber das war alles viel Arbeit, nichts, worauf sie sich zu lange konzentrieren konnte, ohne sich zu langweilen und ins Bett zu gehen.
Sie seufzte leise, schaffte es schließlich, sich aus der Haltung zu befreien, in der sie fast die Nase am Bildschirm hatte und rieb sich das Gefühl in die Augen zurück. Die verdammten Dinger waren so lange offen gewesen, dass ihr schon beim Schließen der Augenlider die Tränen kamen. Es war ein befriedigendes Gefühl, aber nicht den Schaden wert, den es ihrer Sehkraft zufügen würde. Sie konnte sich einen weiteren langgezogenen Seufzer der Erleichterung nicht verkneifen, als sie sich von ihrem Sitz erhob und ihre Beine ausstreckte. Es war an der Zeit, dass sie sich einen Tagesplan zurechtlegte. Vielleicht aber lieber zu einer Zeit, in der sie nicht Leuten half, die von der ganzen Welt aus Operationen leiteten, sowohl in den USA als auch dort in der Sahara-Wüste.
Außerdem musste sie mit Sal über eine Gehaltserhöhung sprechen. Oder vielleicht mit Courtney. Sie war sich noch nicht ganz sicher, wie die Befehlskette funktionierte. Es schien, als ob er die Operationen im Zoo leitete, aber sie für das zuständig war, was in den Staaten passierte. Vielleicht konnte sie bei beiden etwas herausholen.
Nein, das war nicht fair. Es ging ihr nicht um das Geld. Natürlich war es einfacher, Geld für ihre Arbeit zur Verfügung zu haben, aber das war nicht der Grund, warum sie das tat und sie hatte sowieso alle Mittel, die sie brauchte. Irgendwann würde sie natürlich woanders hingehen wollen. Vielleicht nicht nach Russland, denn sie war sich ziemlich sicher, dass sie diese Tür ganz fest hinter sich zugeschlagen hatte, aber es gab andere Orte, die sie ihr Zuhause nennen konnte. In Boston hatte es ihr gefallen.
Vielleicht würde sie dann arbeiten, um ein zu Haus kaufen und eine Familie zu gründen – etwas, das nie ganz oben auf ihrer Prioritätenliste gestanden hatte. Trotzdem war es immer irgendwo da gewesen und hatte auf sie gewartet, zumindest dachte sie das. Allein zu sein gehörte nicht zu ihren Plänen.
Sie schaute sich kurz um und wurde abgelenkt, als ihr Telefon summte. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu erinnern, wo sie es liegen gelassen hatte – in der Küche. Anja hatte nicht die Kraft, den ganzen Weg dorthin zu tapern, um es zu holen. Da die Leitung dann wahrscheinlich unterbrochen werden würde, ließ sie sich einfach auf ihren Stuhl fallen.
»Hey, Connie, bitte verbinde mein Telefon mit diesem Computer«, wies sie an.
»Sofort, Anja«, antwortete die KI. Sie war die Einzige, die Connie nicht ärgerte. Gut, sie nervte Sal nicht so sehr, aber das lag wahrscheinlich daran, dass er ein Mann war und sie darauf programmiert schien, vorwiegend Frauen zu nerven. Wie auch immer, die KI schien zu wissen, dass Anja in der Lage war, alles, was sie an ihr nicht mochte, umzuschreiben und war mehr als bereit, nett zu sein, damit das nicht passierte.
Die Leitung wurde aktiviert und auf dem Bildschirm erschien Amanda, die von ihrem neuen Aufenthaltsort aus anrief. Der französische Stützpunkt war das einzige Detail, das Anja gehört hatte und sie hatte nicht wirklich verfolgen können, was dort draußen passierte, da alle anderen Dinge Vorrang hatten.
»Hallo, Amanda.« Die Hackerin machte ein fröhliches Gesicht, als die Kamerafunktion des Gesprächs aktiviert wurde. »Was geht?«
»›Was geht?‹ Ernsthaft?«
»Ich bin seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen und es sieht nicht so aus, als würde ich in nächster Zeit schlafen können, also ja, ›was geht‹ ist alles, was du von mir bekommen wirst«, beharrte sie. »Was ist los?«
»Nun, ich habe gerade ein Gespräch mit dem Barkeeper beendet, der dafür verantwortlich ist, dass Sal unter Drogen gesetzt wurde«, brummte die Frau mit einem rachsüchtigen Blick über ihre Schulter. Anja glaubte, ein leises Stöhnen im Hintergrund zu hören.
»Und in wie viele Stücke hat dieses Gespräch den Barkeeper zerlegt?«, fragte sie und knirschte mit einer Mischung aus Verärgerung und Belustigung mit dem Kiefer.
»Na ja, eins … zum größten Teil.« Die Waffenmeisterin blickte nach unten und schien mit ihrem Fuß etwas anzustoßen. Oder eher jemanden, dem Geräusch nach zu urteilen, das er machte. »Ich musste Bev trotzdem für die schlimmsten Teile wegschicken. Im Ernst, die Frau seziert den ganzen Tag lang Tiere und verträgt keinen gewalttätigen Austausch von Informationen?«
»Hast du etwas rausgefunden?«, fragte sie und versuchte krampfhaft, das Bedürfnis zu unterdrücken, auszurasten. Diese Stunden hatten wirklich ihren Tribut gefordert.
»Nicht viel. Er sagte, dass die vier Männer erst vor Kurzem angekommen, aber schon seit ihrer Ankunft Stammgäste waren und die meiste Zeit außerhalb des Zoos mit Trinken verbrachten. Sie konnten mit Geld um sich werfen und gaben anständig Trinkgeld. Ich habe auch erfahren, dass unser Freund hier dafür bekannt ist, seinen Stammgästen Roofies zu besorgen, wenn sie sie brauchen. Ein hilfsbereiter kleiner Scheißer, nicht wahr?«
Das erklärte, warum sie so hart mit ihm umgesprungen war, überlegte die Hackerin. Sie nahm es der Frau nicht übel. Ihre eigene Taktik wäre zwar etwas subtiler gewesen, aber sie wünschte sich immer, sie hätte den Mut gehabt, Arschlöchern wie ihm auf direktem Weg die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.
Davon abgesehen hatte sie nichts erfahren, was sie nicht schon wussten. Abgesehen von dem regulären K.-o.-Tropfen-Besorger hatte sie die Finanztransaktionen im Auge behalten und konnte feststellen, dass er nicht viel mehr verdiente, als man von einem Barkeeper auf dem französischen Stützpunkt erwarten konnte und sie bezweifelte ernsthaft, dass sie etwas Neues erfahren würden. Natürlich mussten sie diese Spur weiterverfolgen, aber sie war nicht überrascht, dass sie sich als eine weitere Sackgasse herausstellte.
Zum Glück hatten sie noch mehr Spuren.
»Ich habe ein bisschen geforscht und ich glaube, ich bin auf interessante Dinge gestoßen. Sie rief ein paar Dateien auf, die sie auf ihrem Computer gespeichert hatte. »Ich habe die Phoenix Industrial Group – kurz PIG – etwas genauer unter die Lupe genommen und bin auf sehr interessante Merkwürdigkeiten in ihren Finanzen gestoßen. Es wurde eine beträchtliche Summe in die Förderung von talentierten Menschen auf der ganzen Welt investiert, darunter unsere vier Söldner sowie lebende und tote Forscher und Spezialisten.«
»Was ist daran so verdächtig?«, fragte Amanda. »Viele Unternehmen gründen Stiftungen, um Talente zu fördern, die nicht direkt an sie gebunden sind.«
»Nun, ich habe das Geld bis auf vor ein paar Monaten zurückverfolgt.« Sie runzelte die Stirn und schielte auf die Akten, um ihr müdes Gehirn aufzufrischen. »Sie haben einen mühsamen Weg hinter sich, aber ich habe schließlich eine eindeutige Verbindung zu einem sehr interessanten Firmennamen gefunden.«
»Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn man mich auf die Folter spannt«, sagte die andere Frau gereizt.
»Pegasus. Das Geld stammt von Pegasus und ist seit Jahren in die Phoenix Industrial Group geflossen. Es sieht so aus, als hätten sie es benutzt, um Geld auf die Kaimaninseln zu schicken und es dann als Boni an die Führungskräfte auszuzahlen. Normalerweise wurde es nur zur Steuerhinterziehung verwendet, aber in den letzten Wochen sind viel mehr Mittel auf die Konten geflossen und entweder dort geblieben oder für talentierte Spezialisten wie die vier Söldner ausgezahlt worden.«
»Das sind Pegasus-Schläger?«, rief Amanda entrüstet. »Ich dachte, wir hätten mit diesen Wichsern hier nichts mehr zu tun. War das nicht der Grund, warum Anderson in die Staaten geschickt wurde?«
»Nun, wir werden uns wohl noch eine Weile mit ihnen herumschlagen müssen.« Die Hackerin zuckte mit den Schultern. Sie hatte etwas mehr Zeit gehabt, sich an die Realität zu gewöhnen und versuchte, sich in Geduld zu üben. »Was hältst du davon, ein paar von diesen Wichsern zu erledigen, während du in der französischen Basis bist?«
»Als ob ich mein ganzes Leben darauf gewartet hätte.« Die Antwort kam sofort und enthusiastisch. »Schick mir die Adresse, wo sie stationiert sind. Ich rufe ein paar Freunde an, ziehe mich um und zeige diesen Arschlöchern, mit wem sie sich anlegen. Na ja, ich erinnere sie eher daran, nehme ich an. Sie haben eindeutig Gedächtnisschwierigkeiten.«
»Das klingt nach einem Plan. Ich habe dir die Details bereits per SMS geschickt. Viel Spaß bei der Jagd.«
»Danke.« Amandas Grinsen war das pure Böse. »Sag Connie, sie soll sich in den Arsch ficken und für mich sterben, ja?«
Anja lachte, als die andere Frau auflegte. Sie fand das ständige Gezänk zwischen Amanda und der KI charmant, wenn auch ein wenig seltsam. Wenn Menschen und KI sich vertrugen, war das nie ein gutes Zeichen.
Sie warf einen Blick auf die Kamera in der Bar und war sich nicht ganz sicher, ob sie sehen wollte, was zuvor passiert war. Der Barkeeper war noch am Leben und bei Bewusstsein, was immerhin ein Anfang war. Er hatte es geschafft, auf die Beine zu kommen und verzog das Gesicht, während er sich ein Steak an den Kopf hielt, um die Schwellung zu lindern. Amanda ignorierte seine passiven Beleidigungen, als sie sich ihre Rüstung anlegte. In der französischen Basis gab es Regeln, die es untersagten, in einer kompletten Kampfrüstung herumzulaufen, weshalb sie nur die Powerarme und die Schulterstützen anbrachte. Nichts in den Regeln verbot es ihr, Teile davon zu tragen. Es hat wirklich Spaß gemacht, die Regeln ungestraft zu umgehen.
Anja schüttelte den Kopf und fragte sich, ob ein Kaffee helfen würde. Dies war einfach eine weitere Mission, bei der sie Unterstützung leisten musste. Das Leben in Freiheit hatte seine Nachteile, beschloss sie, als sie die Sicherheitskanäle der französischen Basis abrief, um Amanda zu unterstützen. Connie würde auch ihren Teil dazu beitragen und es war ja nicht so, als hätten die beiden etwas Besseres zu tun.
»Du hast doch gehört, was sie gesagt hat, oder Connie?«, fragte sie.
»Das habe ich, ja«, antwortete die KI. »Und du kannst Miss Gutierrez sagen, dass das gut ankommt und in gleicher Weise erwidert wird.«
Sie konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.