8. Oktober 2016, 6.24 Uhr: Endlich Ruhe! Die Sonne ist gerade aufgegangen. Das Wasser steht mir bis zum Hals, ich bin in meinem Element, an meinem Sehnsuchtsort Hawaii. Nur wenige Sekunden bis zum Start des Ironmans. Normalerweise ist der Pazifik in der Bucht von Kailua-Kona zu dieser Tageszeit spiegelglatt, doch die 55 Profis in Schwimmanzügen und Badekappen verursachen leichten Wellengang. Ein letztes Aufwärmen, noch mal die Muskeln lockern. Für etwas mehr als acht Stunden wird es nun sehr, sehr hart – für alle. Jedem von uns wird es irgendwann während des Rennens schlecht gehen, dem einen früher, dem anderen später. Schon so früh am Morgen beträgt die Außentemperatur 24 Grad, der Pazifik ist drei Grad wärmer. Eine trügerische Badewanne. Kein Morgen der vergangenen Woche war heißer. 82 Prozent Luftfeuchtigkeit und bis zu 35 Grad sind für heute vorhergesagt. Auf der Kaimauer, an der gesamten Bucht des kleinen Ortes drängeln sich die Zuschauer. Anspannung überall, bei den Athleten, den Begleitern, den Trainern, den Fans. Der Countdown zur schönsten Quälerei der Welt.
Tue ich mir das jetzt wirklich an? Ja, ich will. Dafür habe ich das ganze Jahr trainiert. Mein Pensum pro Woche: 25 Kilometer im Wasser, 600 Kilometer auf dem Fahrrad, 110 Kilometer in Laufschuhen, ob in der Natur oder auf dem Laufband im Studio. Jetzt gibt es kein Zurück. Warum auch? Ich bin fit. In meinem Kopf schwimmt nur ein Gedanke: Ich will es, ich kann es, ich schaffe es. Nimm die Energie des Augenblicks mit auf die Reise über die acht Stunden. Das Adrenalin donnert wie ein reißender Fluss durch den Körper. Ich feuchte meine Schwimmbrille von innen mit Spucke an, atme noch einmal tief ein, setze die Brille auf meine Augen. Nur noch drei Minuten. Ich schwimme nach vorne zum Start, rund einhundert Meter parallel zum Pier. Dort noch einige Male auf und ab. Ich bin einer der letzten Profis, die sich dort einreihen. Rettungsschwimmer, bäuchlings auf Surfbrettern, bilden die Startlinie. Gleich gilt es, knallhart meine Leistung und die Dinge abzurufen, die ich jeden Tag versucht habe zu automatisieren. Ich weiß: Ich bin gut vorbereitet. Läuft es, kommt auch der Erfolg. Noch 60 Sekunden. Am Kona-Pier wird es jetzt ganz ruhig. Ich kann meinen Puls hören. Und dann:
BAMM!
Ein Schuss zerreißt die Stille, die Anspannung verfliegt wie der Rauch der Kugel aus der altehrwürdigen, legendären Kanone, die stets direkt am Pier aufgebaut wird. Die Kraul-schlacht beginnt, wir durchpflügen den Ozean. Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte. Gedränge, Geschubse.
Für mich heißt das jetzt aber: Endlich habe ich meine Ruhe. Die Stimmen im Kopf feuern mich an, es ist Zeit für Taten. Der Wettkampf! Das Rennen! Mein Element!