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6. Allmählichkeitsschäden der Demokratie

»Allmählichkeitsschaden« ist ein anschaulicher, aber Sorgenfalten verursachender Begriff aus der Versicherungswirtschaft. Gemeint sind damit Schäden, die über einen längeren Zeitraum unbemerkt entstehen und die sich schleichend zu einem großen Problem auswachsen, das dann nur noch mit erheblichem Aufwand beseitigt werden kann – wenn überhaupt. Was könnten Allmählichkeitsschäden der Demokratie sein? Ich denke hier zum Beispiel an Beeinträchtigungen, die sich aus einer Verbreitung illiberaler Haltungen, der Normalisierung eines radikalen Vokabulars und dem sukzessiven Verlassen des demokratischen Grundkonsenses ergeben. Mir geht es um die kleinen Tabubrüche, die Entzivilisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die Verrohungen der politischen Debatte, denen man, solange sie randständig und lokal begrenzt bleiben, keine so große Aufmerksamkeit schenkt, an die wir uns aber nach und nach gewöhnen und deren Bedeutung für die Substanz des demokratischen Gemeinwesens man erst später erkennt.

Vor nunmehr zwanzig Jahren veröffentlichte der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ein Papier mit der zentralen und für viel Empörung sorgenden These, Ostdeutschland stehe in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht »auf der Kippe« (heute fragt man sich, was an dieser These so skandalträchtig war).1 Seinerzeit ging es um den »Aufbau Ost«, heute könnte man eine analoge These für die Demokratie aufstellen. Sie steht auf der Kippe, oder präziser: Es droht eine Korrosion tragender Säulen, was langfristig ihre Funktionsfähigkeit gefährden könnte.

112Es gibt – man muss diese Diagnose so hart stellen – im Osten aus strukturellen und historischen Gründen nur ein recht schwaches Band zwischen den Regierenden und den Regierten, das sich inzwischen so weit gelockert hat, dass wachsende Gruppen in eine staatsskeptische und sogar staatsablehnende Grundhaltung hineingeraten sind. Ostdeutschland mangelt es bis heute an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz, ein emphatisches Demokratieverständnis und ein Bekenntnis zu den Prinzipien der liberalen Ordnung tragen könnte.2 Ostdeutsche sind keine Demokratieverächter per se – das wäre eine falsche Interpretation (siehe oben) –, aber die gesellschaftliche Konstitution ist eine andere und sie ist weniger resilient gegen die strategischen Vorwärtsbewegungen des Rechtspopulismus sowie die Verlockungen des rechtsextremen Gedankenguts. Mit der rechten Mobilisierung wird ein zusätzlicher Keil zwischen politische Verantwortungsträger und Teile der Bevölkerung getrieben, der bis in das Verhältnis zu anderen Institutionen vordringt, letztlich bis zu allem, was mit dem »System« in Verbindung gebracht werden kann. Im »Sachsen-Monitor 2023«, einer repräsentativen Umfrage im Freistaat, sagten 89 Prozent, dass sie den Parteien misstrauen; auch gegenüber den Medien war die Skepsis erschreckend hoch (85 Prozent), ebenso gegenüber den Kirchen (79 Prozent), den Gerichten (44 Prozent) und der Wissenschaft (35 Prozent).3 Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Vertrauensschwund leistet die AfD samt ihrer rechten Vorfeldorganisationen und Netzwerke. Die Partei hat durch ihre Zugewinne und Erfolge beim Kampf um Landrats- und Bürgermeisterposten inzwischen ein bemerkenswertes Gewicht erhalten, das ihr Möglichkeiten verschafft, die politische Kultur zu verändern und die Grundfesten der demokratischen Institutionen zu beschädigen.

113Wir sind gegenwärtig Zeugen einer Verrohung der Konfliktaustragung und ihrer zunehmenden Verlagerung auf die Straße, wo friedlicher Protest leicht in Gewalt umschlagen kann. Tabubrüche wie der Sturm auf den Reichstag im August 2020, Kundgebungen vor den Privathäusern von Politikern, hasserfüllte Schmierereien an Hauswänden sowie Mordfantasien (und ausgeführte rechtsextreme Morde) sind keine Einzelfälle mehr. Hier radikalisieren sich zwar noch überschaubare Gruppen, aber das Klima insgesamt verändert sich. Elitenhass und Narrative des »gerechten Widerstands« sind weit verbreitet, die Grenzen dessen, was als legitimes Mittel des Protests gelten kann, verschieben sich sukzessive. Insgesamt steigt die Konfrontativität, sowohl in den Parlamenten als auch auf den Marktplätzen.

Noch einmal: Wenn die Lauten in einer Demokratie übernehmen, dann ziehen sich die Leisen meist zurück – erschreckt von Ton und Schärfe der Auseinandersetzung. Die stille Mitte sucht im Engagement das Erleben von Kooperation und Gemeinschaft, nicht die Befeindung und den Kampf. Wenn diese Facette des politischen Mittuns mehr und mehr verschwindet, bleiben nur diejenigen übrig, die sich für derart aufgeheizte Konflikte robust genug fühlen (oder bereit sind, ihre Gesundheit und persönliche oder familiäre Sicherheit zu riskieren). Wie bereits angesprochen: Die breite gesellschaftliche Mitte würde sich damit sukzessive vom Spielfeld des Politischen verabschieden, sich in einer Art Selbstpassivisierung in eine Zuschauerposition begeben und radikalen Kräften das Feld überlassen.

Eine zentrale Frage der Gegenwart ist die nach den Instrumenten der Gegenwehr und der Immunisierung gegenüber offen rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien und Bewegungen, die sich daranmachen, die demokratische Ord114nung aus den Angeln zu heben.4 Diese Kräfte zielen auch auf die verfassungsschützenden Institutionen selbst, etwa auf die Verfassungsgerichte, die in ihrer Funktion geschwächt werden sollen.5 Seit geraumer Zeit wird im Hinblick auf die AfD über ein Verbot diskutiert, entweder der ganzen Partei oder zumindest jener Gliederungen, die vom Verfassungsschutz als »gesichert extremistisch« eingestuft wurden – dies sind etwa die Landesverbände Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Sich durch rechtsstaatliche Mittel (Verbote) einer wachsenden Konkurrenz zu entledigen, birgt politisch allerdings Risiken, da ein solches Vorgehen aus Sicht der Betroffenen als »illiberale Exklusion« skandalisiert und ausgenutzt werden kann. Zahlenmäßig große Gruppen von Sympathisanten und Unterstützern würden womöglich in eine noch aggressivere Politisierung hineingetrieben. Und nur weil etwas rechtlich verboten wird, ist das entsprechende Potenzial ja nicht verschwunden oder lahmgelegt, zumal das Rechtssystem selbst stärker als bislang politisiert würde. In den Augen von AfD-Anhängern verkäme die Justiz zum Instrument der etablierten politischen Klasse und wäre damit wahrscheinlich weitreichenden Anfechtungen ausgesetzt. Zudem könnte, darauf hat der Verfassungsjurist Christoph Möllers hingewiesen,6 ein Verbot ausschließlich ostdeutscher Landesverbände bei AfD-Anhängern, die sich als Ostdeutsche ohnehin bereits diskriminiert und zurückgesetzt fühlen, diesen Eindruck noch einmal verschärfen. Das ist zwar kein juristisches Argument, aber doch politisch zu bedenken.

Auch die im engeren Sinn politische Auseinandersetzung ist nicht einfach. Gewiss, man sollte Wutbürger nicht »in Watte« packen (Jürgen Habermas) und ihnen mit therapeutischem oder sozialarbeiterischem Verständnis begegnen.7 Gleichzeitig hören Wählerinnen und Wähler es nicht gern, 115wenn man sie kritisiert. Für die AfD-Anhängerschaft gilt das umso mehr, sieht sie sich doch als »Verteidigerin der Demokratie« und als »schweigende Mehrheit«, die sich gegen das »Elitenkartell« und die »Staatsmedien« zu behaupten versucht. Setzt man hier auf Abgrenzung und harte Kritik, könnten Menschen in diesem Lager gleichsam festgezurrt werden. In diesem Fall würde sich eine – schon jetzt erkennbare – Wagenburgmentalität weiter verfestigen. Denkbar ist aber auch, dass eine schärfere Auseinandersetzung mit den rechtsextremen und verfassungsfeindlichen Zielen der Partei erfolgreich sein könnte, weil potenzielle Wählerinnen deutlicher erkennen, welche Gefahren von ihr ausgehen, und weil sie dadurch vielleicht abgeschreckt werden, ihr Kreuz bei der AfD zu machen. Am Ende hat man hinsichtlich der Strategien gegenüber der AfD wohl nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Ein allzu hartes Angehen von Partei und Wählerschaft kann deren Gruppenidentität festigen, ein allzu weicher Umgang trägt zur Normalisierung bei und bestärkt womöglich das Selbstbild der Wähler als »besorgte Bürger«. Die großen Anti-AfD-Demonstrationen im Frühjahr 2024 waren jedenfalls ein klares Signal an die Schwankenden, wo die gesellschaftliche Mehrheit steht. Vor allem in den kleineren und Mittelstädten Ostdeutschlands könnten sie dazu beitragen, dass sich die demokratische Zivilgesellschaft ihrer Größe und Lebendigkeit vergewissert und der Hegemonieanspruch der AfD durchbrochen wird.

Eine andere Herangehensweise besteht darin, sich jeglicher Kooperation oder indirekten Zusammenarbeit zu enthalten (so wurde es in der Vergangenheit gegenüber den Republikanern gehandhabt, die ebenfalls in mehreren Landesparlamenten und im Europaparlament – bei den Europawahlen 1989 holten sie 7,1 Prozent – vertreten waren). Die Vorstellung von Schutzkorridoren, Abstandsgeboten oder 116Brandmauern basiert auf der Annahme, dass man trotz beachtlicher Gewinne bei Wahlen selbst größere Fraktionen durch konsequente Kooperationsverweigerung auf Abstand zur politischen Macht halten kann. Dies würde die AfD unabhängig von ihrem Stimmenanteil im parlamentarischen Betrieb in eine Sonderrolle bringen und isolieren, sie würde sozusagen zum schwarz-blauen Schaf. Hier ist freilich ebenfalls ein Preis zu zahlen: Ändert man die Usancen, schafft man eine »Lex AfD«, um die Partei von eingespielten Verfahren auszuschließen und ihr systematisch Ausschussvorsitze oder andere Ämter vorzuenthalten, öffnet man Türen für Opferposen und schürt womöglich Diskriminierungsgefühle in breiten Wählerschaften.

Ein dritter zuweilen propagierter politischer Weg besteht darin, sich in Gelassenheit zu üben und darauf zu setzen, dass sich die AfD mit der Übernahme von Regierungsverantwortung selbst entzaubert oder sogar entradikalisiert. Die Mühen und Zwänge der Ebene, so die Hoffnung, würden bestimmte autoritäre und extremistische Kanten abschleifen. Manche Versprechen hinsichtlich Migration, Haushaltspolitik oder Europäischer Union ließen sich schlicht nicht einlösen, so dass sich Wählerinnen und Wähler irgendwann enttäuscht abwenden könnten. Allerdings: Ihr Aufstieg verschafft rechtspopulistischen Parteien erweiterte Möglichkeiten, sich zu professionalisieren und zu institutionalisieren (mit jedem Parlamentssitz vergrößert sich der öffentlich finanzierte Mitarbeiterstab), während rechte und rechtsradikale Positionen weiter normalisiert werden. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) hat diesen Weg erfolgreich beschritten und sich trotz der Nähe zum Rechtsextremismus vom Randseiter zu einer Partei mit bürgerlichem Anstrich entwickelt.

117Was die Brandmauer angeht, darf man für den ostdeutschen Fall nicht allzu optimistisch sein. Das Wachstum und die Etablierung dieser Partei geschahen ja nicht über Nacht. Wie gesagt: Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in den 1990er Jahren, als es rechten Akteuren gelang, im Osten lokale Strukturen aufzubauen, was aber wiederum ohne eine schon in der DDR vorhandene rechtsextreme Szene kaum denkbar gewesen wäre. Im sozialen Alltag hartnäckig auf Distanz und Tabuisierung zu setzen ist hier eine ungleich größere Herausforderung als in Westdeutschland, weil die Partei vor allem in den Mittelstädten und im ländlichen Raum in einem erheblichen Ausmaß Fuß gefasst hat. An dieser Stelle büßen die auf Bundesebene regelmäßig bekräftigten Brandmauerargumente lebensweltlich an Plausibilität ein.

Wo Kleingartennachbarn, Kita-Erzieherinnen, Kollegen, Kegelbrüder, der Bäcker um die Ecke, Mitsängerinnen im Chor oder medizinisches Personal einer rechtsextremen Partei zuneigen, ist es schwer, dauerhaft auf Abstand zu gehen. Menschen, die man lange kennt und die irgendwann AfD wählen, kann man kaum dämonisieren. Dass man sich in ostdeutschen Gemeinden mit »solchen Leuten« einlässt, hat etwas damit zu tun, dass »solche Leute« eben Verwandte, Freunde oder Kolleginnen sind. Aus der sozialen Verwobenheit ergibt sich eine politische Normalisierung. Die Forderung, Distanz zu halten und Rechtsextreme als Rechtsextreme zu bekämpfen, sagt sich leichter in einer Hannoveraner, Berliner oder Münchner Altbauwohnung als in Südbrandenburg oder im sächsischen Meißen. Manche lokalen Akteure vermeiden es sogar bewusst, den AfD-Wählern mit einer harten Rhetorik zu begegnen. Ihr Argument: Man könne es sich vor Ort einfach nicht erlauben, eine zu scharfe Abgrenzung zu fahren, wolle man die Gräben nicht zu 118groß werden lassen und die Menschen nicht endgültig verlieren.

Mit dem Vordringen der AfD wächst jedenfalls der Druck auf die Brandmauer. Schon jetzt fällt es der CDU in Ostdeutschland auf kommunaler und Landesebene erkennbar schwer, nicht in einen Rechts-links-Wahlkampf hineinzustolpern, bei dem die Feindbildpflege gegenüber SPD, Grünen und der Linken die Abgrenzung zur AfD relativiert. Dabei ist es nicht nur die inhaltliche Nähe etwa auf dem Feld der Migration, welche die Kompassnadel zittern lässt, es sind auch die Sirenengesänge des Kulturkampfes, von dem man glaubt, ihn politisch bewirtschaften zu müssen. Allerdings kennen wir aus der internationalen Anschauung zahlreiche Beispiele für konservative Parteien, die sich diesen Verlockungen nicht widersetzen konnten – und dabei untergingen oder zumindest marginalisiert wurden.8 Deshalb besteht die große Herausforderung insbesondere für die ostdeutschen CDU-Landesverbände darin, einen Kurs von Maß und Mitte zu entwickeln sowie der AfD nicht hinterherzulaufen, sondern sich verlässlich von den extremen Rechten abzugrenzen, selbst wenn man sich damit strategischer Optionen (etwa eines möglichen Koalitionspartners) beraubt und selbst wenn Teile der Wählerschaft und der Mitglieder eher eine Positionierung gegen »linksgrün« wünschen denn eine gegen »extremrechts«. Es müsse klar sein, so mein Kollege Armin Nassehi, dass Konservativ-Sein heißt, Kontinuitätsbedürfnisse und eine »lebensweltliche und subsidiäre Fundierung etwa von Solidarität, Toleranz, sozialer Gerechtigkeit« anzuerkennen, sich aber eben nicht »rechten Fantasien einer ethnisch oder national fundierten Form einer natürlichen Solidarität« hinzugeben.9

Schaut man auf die Kommunen, zeigt sich, dass es schon Zusammenarbeit in Form von Absprachen, gemeinsamen An119trägen, bei Abstimmungen oder Wahlen gibt, und zwar nicht nur in Einzelfällen. Eine neuere Studie zu Kooperationen demokratischer Parteien mit Rechtspopulisten oder extremen Rechten (darunter neben der AfD auch Gruppierungen wie Alternative für Sassnitz, Der III. Weg, Pro Chemnitz, das Bündnis Zukunft Hildburghausen oder die Fraktion freier Bürger) findet für den Zeitraum Sommer 2019 bis Ende 2023 121 konkrete Fälle, welche die Brandmauer porös erscheinen lassen, wobei Sachsen und Thüringen besonders hervorstechen.10 Mit starken Wahlergebnissen übernehmen AfD-Politiker Bürgermeisterposten und Landratsämter, doch selbst wenn das nicht gelingt, könnten Vertreter der Partei je nach Stimmenanteil in Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte kommunaler Unternehmen, der Sparkassen oder Theater einrücken.

Daneben gehört es zur Strategie der AfD, ihre Anhänger zu ermuntern, sich in zivilgesellschaftlichen Strukturen zu engagieren. Ihre Mitglieder und Wähler sind in der Freiwilligen Feuerwehr, in Schützen- oder Kulturvereinen aktiv und arbeiten dort an der Veralltäglichung ihrer Partei, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass sie in einigen Regionen die politische Kultur langfristig dominieren könnte, selbst wenn sie bundesweit mit etwa 20 Prozent plus kleinem X ausmobilisiert sein dürfte. Das Augenmerk der Partei liegt zudem auf der »Infiltration« wichtiger Säulen des demokratischen Rechtsstaats wie etwa der Bundeswehr, der Polizei und der Justiz. Ihre Anhänger sollen sich als Laienrichter oder Schöffen bewerben und darüber Einfluss auf gerichtliche Entscheidungen nehmen; es ist bekannt, dass Neonazis, Identitäre und Reichsbürger in der Vergangenheit bereits in solche Ämter gelangt sind. Noch einmal folgenreicher wäre ein weiteres Vordringen der AfD bei professionellen Richterämtern und in den Verfassungsgerichten der Länder oder 120gar das des Bundes. An deutschen Hochschulen wiederum finden sich in den juristischen Fakultäten längst Parteigänger der AfD, die Studierende unterrichten. Auch in den Schulen bzw. in der Lehrerschaft ist die Partei inzwischen präsent und übt Einfluss auf die nachkommenden Generationen aus. Es stellt sich die Frage, ob und wie entsprechende Lehrer den demokratischen Bildungsauftrag erfüllen.

Bei den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland wird die AfD der Macht voraussichtlich so nahe kommen wie noch nie. Erringt sie absolute Mehrheiten, was derzeit wohl ausgeschlossen werden kann, wäre ihr Durchmarsch kaum aufzuhalten. Sie könnte Ministerpräsidenten sowie die Landesminister stellen, weitreichende Weichenstellungen vornehmen und in einer Breite und Tiefe in die Institutionen sowie über den Bundesrat auch in den nationalen Gesetzgebungsprozess eingreifen, dass eine grundlegende Umgestaltung der politischen Ordnung denkbar wäre.

Deutlich wahrscheinlicher, aber noch längst nicht sicher ist es, dass die AfD in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt stärkste Partei wird und dann versucht, die CDU oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in eine Koalition zu locken. Auch hier wären die Flurschäden für das politische Gemeinwesen gewaltig. Ob dieser Fall eintritt, hängt von der Standfestigkeit der genannten Akteure ab und von ihrem Geschick, Mehrheiten gegen die AfD herzustellen. Eine wiederum andere Variante ergäbe sich, wenn die CDU in diesen Ländern die Nase vorn haben sollte und auf der Suche nach einem oder mehreren Juniorpartnern bei der AfD anklopfen würde. In diesem – bislang von der CDU ausgeschlossenen – Szenario hätte die AfD Zugriff auf einzelne Ministerien und könnte über einen Koalitionsvertrag die Richtung der Entwicklung mitbestimmen.

121Aber selbst wenn die AfD nicht an die Macht kommt oder in eine Regierung eintritt, was zu verhindern die anderen Parteien sich auferlegt haben, werden ihre Möglichkeiten, das politische Geschehen zu beeinflussen, doch erheblich wachsen. Als stärkste Fraktion hätte sie das Vorschlagsrecht für die Präsidentinnen oder Präsidenten der Landtage und könnte die Geschäftsordnung mitbestimmen. In Thüringen ist es derzeit so, dass sich das Parlament nicht konstituieren und keinen Ministerpräsidenten küren könnte, falls kein Landtagspräsident gewählt würde. Die AfD hätte bei einem entsprechend starken Ergebnis zudem eine Sperrminorität bei Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit vorsehen. Ebenfalls in Thüringen wäre es verfassungsrechtlich möglich, dass die Partei sogar das Landesoberhaupt stellen könnte, sollten sich die anderen Parteien nicht einigen und sollte es zu einem dritten Wahlgang kommen, in dem dann eine einfache Mehrheit ausreichen würde.11 Darüber hinaus könnte eine starke AfD-Fraktion eine gewisse Zahl von Ausschussvorsitzen übernehmen und dort stärker als bislang an Beschlüssen und Gesetzen mitwirken. Sie würde in vielen Bereichen über die Besetzung von Posten mitbestimmen, beispielsweise bei den Landeszentralen für politische Bildung. Noch können wir uns kaum vorstellen, was das für Kultur, Schulen, Universitäten oder die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft bedeuten würde. Betroffen wären auch marginalisierte Gruppen, politisch Andersdenkende und Migrantinnen und Migranten, die schon heute zur Zielscheibe von Angriffen, Herabwürdigung und Denunziation durch rechte Akteure werden und auf staatlichen Schutz und rechtliche Anerkennung angewiesen sind.

Kehren wir noch einmal zum düstersten der oben angesprochenen Szenarien zurück, also zu einer möglichen Allein- oder einer von der AfD angeführten Koalitionsregie122rung. Für das Drehbuch, nach dem es dann weitergehen könnte, gibt es umfangreiches Anschauungsmaterial aus zahlreichen Ländern wie etwa Polen unter der PiS-Partei, Ungarn unter Viktor Orbán oder der Türkei unter Erdoğan (wobei der Unterschied darin besteht, dass wir hierzulande über einzelne Bundesländer sprechen und nicht über eine nationale Regierung; hinsichtlich der grundsätzlichen Bestrebungen lassen sich aber dennoch Parallelen ziehen, so dass es sinnvoll ist, an den genannten Beispielen das eigene Gespür für sukzessive Veränderungen der liberalen Kultur und der demokratischen Verfasstheit zu schulen).

In solchen Konstellationen kommt es in den seltensten Fällen zu einem sofortigen Regimewandel oder einem Putsch. Stattdessen ist in der Forschung meist von einem allmählichen demokratischen »backsliding« (also Abgleiten oder Zurückfallen) die Rede,12 man könnte auch von einer illiberalen Drift sprechen – Demokratien sterben zumeist »im Stillen«.13 Autoritär-nationalistische oder rechtsextreme Akteure streben häufig danach, ihre Macht und ideologische Hegemonie dauerhaft zu sichern, indem sie nach und nach den politischen Wettbewerb einschränken und unparteiische Instanzen wie Verfassungsgerichte »neutralisieren«.14 Schritte dazu können unter anderem Wahlrechtsänderungen, Einflussnahme auf das Justizwesen, neue Mediengesetze oder Eingriffe in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sein. Dazu kommen Zensur von Kunst und Kultur, Einschränkungen der akademischen Freiheit und der Kampf gegen Symbole »liberaler Gesinnung«. Letztendlich geht es dabei darum, die politische Konkurrenz sowie eine plurale Öffentlichkeit auszuschalten und eine liberale Demokratie in eine Wahlautokratie zu verwandeln.15 Die einzelnen Maßnahmen auf diesem Weg sind möglicherweise zunächst unscheinbar. Man hat es, um das Bild der Allmählichkeitsschä123den von der Ebene der politischen Kultur auf die der Institutionen zu übertragen, mit einer Art langsamem Einsickern von Wasser in das Fundament eines Hauses zu tun, das ohne wirksame Gegenmaßnahmen die Struktur des ganzen Gebäudes gefährdet.