Flammen züngelten am Nachthimmel, als sie losritten, aber Lara riskierte nur einen einzigen Blick zurück auf das brennende Gelände, das ihr Zuhause gewesen war, auf die blutbespritzten Böden und die Wände, die immer schwärzer wurden, während das Feuer alle Beweise der Verschwörung verschlang, die seit mehr als fünfzehn Jahren geplant wurde. Einzig das Herz der Oase, wo der von der Quelle umflossene Tisch stand, würde unberührt bleiben.
Es war immer noch fast mehr, als sie ertragen konnte, ihre schlummernden Schwestern umringt von Feuer zurückzulassen, ohnmächtig und hilflos, bis das Betäubungsmittel, das sie ihnen verabreicht hatte, seine Wirkung verlor. Schon jetzt sollte sich ihr Puls, der für eine gefährlich lange Zeit bis fast zum Tod verlangsamt worden war, beschleunigen, und jeder, der genau hinschaute, würde erkennen, dass sie nach wie vor atmeten. Wenn Lara Ausreden vorgeschützt hätte, um noch länger hierzubleiben und sich davon zu überzeugen, dass sie außer Gefahr waren, hätte sie lediglich riskiert, aufzufliegen, und dann wäre ihr ganzer Einsatz vergebens gewesen.
»Verbrennt sie nicht. Lasst sie für die Aasfresser liegen, die ihnen die Knochen sauber abnagen werden«, hatte sie ihrem Vater geraten, und ihr Magen hatte sich zusammengekrampft, bis er gelacht und ihrer makabren Bitte zugestimmt hatte. Ihre Schwestern waren zusammengesunken auf dem Tisch zurückgelassen worden, während die abgeschlachteten Diener einen blutigen Kreis um sie herum bildeten.
Das war es, wo ihre Schwestern erwachen würden: umgeben von Feuer und Tod. Denn nur wenn ihr Vater glaubte, dass sie zum Schweigen gebracht worden waren, hatten sie auch nur die geringste Chance auf eine Zukunft. Lara würde ihre Mission fortführen, während ihre Schwestern sich ihr eigenes Leben aufbauten – frei, um Herrscherinnen über ihr eigenes Schicksal zu sein. All das hatte sie in dem Brief erklärt, den sie Sarhina in die Tasche geschoben hatte, während ihr Vater den Befehl gegeben hatte, das Gelände nach Überlebenden abzusuchen. Denn niemand durfte am Leben bleiben, der auch nur ein Wort über die Spionin flüstern könnte, die jetzt auf dem Weg zu ihrer Hochzeit in Ithicana war.
Ihre Reise durch die Rote Wüste würde voller Herausforderungen und Gefahren sein. In diesem Moment aber war Lara davon überzeugt, dass ihr nichts davon so sehr zu schaffen machen würde wie das endlose Geplapper von der Elster. Denn da Laras Stute mit Marylyns Mitgift beladen war, hatte man sie angewiesen, hinter dem Intrigenmeister im Damensattel zu reiten.
»Von nun an müsst Ihr die perfekte maridrinische Dame sein«, belehrte er sie, und seine Stimme zerrte an ihren Nerven. »Wir dürfen das Risiko nicht eingehen, dass irgendjemand sieht, wie Ihr euch undamenhaft benehmt, nicht einmal jene, die Seine Majestät für loyal hält.« Er warf einen vielsagenden Blick auf die Wachen ihres Vaters, die mit einstudierter Mühelosigkeit die Karawane zusammengestellt hatten.
Kein einziger der Männer sah sie an.
Sie wussten nicht, was sie war. Wozu sie ausgebildet worden war. Was außer der Erfüllung eines Kontraktes mit dem feindlichen Königreich ihre Aufgabe war. Aber jeder Einzelne von ihnen glaubte, dass sie kaltblütig ihre Schwestern ermordet hatte. Was in ihr die Frage aufwarf, wie lange ihr Vater diese Männer noch am Leben lassen würde.
»Wie habt Ihr es gemacht?«
Die Worte der Elster rissen Lara einige Stunden später aus ihren Gedanken, und sie zog den weißen Seidenschal fester um ihr Gesicht, obwohl der Mann mit dem Rücken zu ihr saß. »Gift.« Sie legte einen Hauch von Schroffheit in ihre Stimme.
Er schnaubte. »Hach, sind wir jetzt schnippisch, da wir glauben, wir seien unberührbar?«
Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, während sie die Hitze der Sonne, die hinter ihnen aufging, deutlich spürte. Dann tauchte sie in den Teich der Ruhe ein, den ihr Meditationsmeister ihr gelehrt hatte, immer dann einzusetzen, wenn sie Strategien entwarf. »Ich habe die Suppenlöffel vergiftet.«
»Wie? Ihr habt nicht gewusst, wo Ihr sitzen würdet.«
»Ich habe alle Löffel vergiftet bis auf die an der Stirnseite des Tisches.«
Die Elster schwieg.
Lara sprach weiter: »Ich habe jahrelang kleine Dosen der unterschiedlichsten Gifte eingenommen, um meine Toleranz aufzubauen.« Trotzdem hatte sie sich zum Erbrechen gezwungen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen hatte, und sie hatte sich wieder und wieder übergeben, bis ihr Magen leer gewesen war. Dann hatte sie das Gegenmittel eingenommen, und der Schwindel sowie die Übelkeit waren das einzige verbliebene Zeichen dafür, dass sie überhaupt ein Betäubungsmittel zu sich genommen hatte.
Der winzige Körper des Intrigenmeisters verspannte sich. »Was wäre gewesen, wenn die Sitzordnung verändert worden wäre? Ihr hättet den König töten können.«
»Sie hat offenbar geglaubt, dass es das Risiko wert sei.«
Lara legte den Kopf schief. Sie hatte das Klimpern der Glocken am Zaumzeug ihres Vaters gehört, als dieser sich ihnen von hinten genähert hatte. Sein Ross war mit Silber geschmückt und nicht wie die Reittiere der Wachen mit Blech.
»Du bist davon ausgegangen, dass ich vorhatte, die Mädchen zu töten, die ich nicht brauche«, sprach er weiter. »Aber statt deine Schwestern zu warnen oder einen Fluchtversuch zu wagen, hast du sie ermordet, um den Platz der Auserwählten einzunehmen. Warum?«
Weil es für die Mädchen ein Leben auf der Flucht bedeutet hätte, wenn sie sich ihren Weg in die Freiheit erkämpft hätten. Ihren Tod vorzutäuschen, war die beste Möglichkeit gewesen. »Ich mag mein Leben in Isolation verbracht haben, Vater, aber die Lehrer, für die Ihr euch entschieden habt, haben mich gut ausgebildet. Ich weiß um die Not, die unser Volk unter Ithicanas Joch auf den Handel erlitten hat. Unser Feind muss in die Knie gezwungen werden, und ich bin die Einzige unter uns Schwestern, die in der Lage ist, das zu tun.«
»Du hast deine Schwestern zum Wohle unseres Landes ermordet?« Seine Stimme klang erheitert.
Lara zwang ein trockenes Kichern über ihre Lippen. »Wohl kaum. Ich habe sie ermordet, weil ich weiterleben wollte.«
»Ihr habt mit dem Leben des Königs gespielt, um Eure eigene Haut zu retten?« Serin drehte sich zu ihr um, er war leicht grün im Gesicht. Er hatte sie ausgebildet, was bedeutete, dass es das Recht des Königs wäre, ihm die Schuld an allem zu geben, das sie getan hatte. Und ihr Vater war für seine Unbarmherzigkeit bekannt.
Aber der König von Maridrina stieß nur ein vergnügtes Lachen aus. »Gespielt und gewonnen.« Er beugte sich vor und schob Laras Schal beiseite, um ihre Wange zu umfassen. »König Aren wird erst begreifen, was er da vor sich hat, wenn es schon viel zu spät ist. Eine schwarze Witwe in seinem Bett.«
König Aren von Ithicana. Aren, ihr zukünftiger Gemahl.
Lara nahm nur am Rande wahr, dass ihr Vater seinen Wachen den Befehl erteilte, das Lager aufzuschlagen, um die Hitze des Tages zu verschlafen.
Einer der Wachposten hob sie von Serins Kamel, und sie setzte sich auf eine Decke, während die Männer das Lager errichteten. Sie nutzte die Zeit, um darüber nachzudenken, was ihr bevorstand.
Lara wusste genauso viel über Ithicana wie die meisten Maridriner – wahrscheinlich sogar mehr. Ithicana war ein Königreich, um das sich ebenso viele Rätsel rankten wie Nebelschwaden: eine Reihe von Inseln, die sich zwischen zwei Kontinenten erstreckten, geschützt von der Stürmischen See und den Verteidigungsanlagen der Ithicaner, um Eindringlinge abzuwehren. Aber das war es nicht, was Ithicana so mächtig machte. Es war die Brücke, die sich über diese Inseln spannte und für zehn Monate des Jahres den einzigen sicheren Weg bildete, zwischen den Kontinenten zu reisen und Waren zu transportieren. Und Ithicana nutzte seinen Vorteil gnadenlos aus, um die Königreiche, die auf den Handel über die Brücke angewiesen waren, hungern zu lassen. Verzweifeln zu lassen. Bis sie bereit waren, jeden Preis zu zahlen, den das Bridge Kingdom für seine Dienste verlangte.
Als Laras Zelt fertig aufgebaut war, wartete sie, bis die Männer ihre Taschen hineingetragen hatten, dann schlüpfte sie ebenfalls in den willkommenen Schatten, wobei sie dem Drang widerstand, ihnen im Vorbeigehen zu danken.
Sie war gerade lange genug allein, um ihren Schal abzulegen, bevor ihr Vater zu ihr ins Zelt kam, dicht gefolgt von Serin.
»Ich muss jetzt damit beginnen, Euch den Code beizubringen«, erklärte der Intrigenmeister und wartete, bis der König saß, ehe er es sich vor Lara bequem machte. »Marylyn hat diesen Code selbst ersonnen, und ich vermute, dass es eine Herausforderung sein wird, ihn Euch in so kurzer Zeit beizubringen.«
»Marylyn ist tot«, erwiderte sie und nahm einen Schluck von dem lauwarmen Wasser aus ihrer Feldflasche, bevor sie sie wieder zuschraubte.
»Erinnert mich nicht daran«, blaffte er sie an.
Ihr Lächeln war erfüllt von einem Selbstbewusstsein, das sie nicht empfand. »Findet Euch damit ab, dass ich alles bin, was von den Mädchen, die Ihr ausgebildet habt, übrig geblieben ist, dann werde ich Euer Gedächtnis nicht auffrischen müssen.«
»Fangt an«, befahl ihr Vater, dann schloss er die Augen. Seine Anwesenheit in ihrem Zelt diente lediglich dem Anstand.
Serin begann mit seinen Unterweisungen im Gebrauch des Codes. Sie musste ihn komplett auswendig lernen, da sie keine Notizen nach Ithicana mitnehmen konnte. Ob sie den Code jemals würde nutzen können, hing davon ab, ob der König von Ithicana ihr die Freundlichkeit erwies und ihr erlaubte, mit ihrer Familie zu korrespondieren. Und Freundlichkeit, das hatte man ihr erklärt, war keine Eigenschaft, für die der Mann bekannt war.
»Wie Ihr wisst, sind die Ithicaner vorbildlich im Knacken von Codes, und alles, was Ihr werdet senden können, wird genau überprüft werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie auch diesen Code durchschauen.«
Lara hob eine Hand und zählte die Punkte an ihren Fingern ab, während sie sprach. »Ich muss also damit rechnen, vollkommen isoliert zu werden, sowohl von den Ithicanern als auch von der Außenwelt. Man wird mir vielleicht erlauben, zu korrespondieren, oder auch nicht, und selbst wenn man es mir erlaubt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass unser Code geknackt wird. Ihr habt keine Möglichkeit, mich zu erreichen, um selbst die Nachricht zu überbringen. Ich habe keine Möglichkeit, über ihre Leute etwas zu verschicken, denn es ist Euch bisher nicht gelungen, auch nur einen Einzigen auf Eure Seite zu ziehen.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Abgesehen von einer Flucht, die das Ende meiner Möglichkeiten bedeuten würde, für Euch zu spionieren, wie erwartet Ihr, dass ich Euch die Informationen zukommen lasse?«
»Wenn es eine einfache Lösung gäbe, hätten wir sie bereits gefunden.« Serin zog ein großes Pergament aus der Tasche. »Es gibt nur einen einzigen Ithicaner, der mit der Außenwelt korrespondiert, und das ist König Aren persönlich.«
Sie nahm das goldumrandete Pergament entgegen, dem das Wappen Ithicanas – eine gewölbte Brücke – eingeprägt war. Dann studierte sie das präzise Schreiben, das Maridrina aufforderte, eine Prinzessin zu liefern, die gemäß den Bedingungen des Fünfzehn-Jahre-Vertrags seine Braut werden sollte. Außerdem enthielt das Dokument eine Einladung, neue Handelsbedingungen zwischen den Königreichen zu vereinbaren. »Ihr wollt, dass ich in einer seiner Nachrichten eine Nachricht verberge?«
Serin nickte und reichte ihr ein Glas mit klarer Flüssigkeit. Unsichtbare Tinte. »Wir werden versuchen, ihm Nachrichten zu entlocken, um Euch diese Chance zu ermöglichen, aber er neigt nicht zu regelmäßiger Korrespondenz. Aus diesem Grund sollten wir uns wieder dem Studium des Codes Eurer Schwester zuwenden.«
Die Lektion war ermüdend, und Lara war erschöpft. Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, nicht vor Erleichterung zu seufzen, als Serin endlich zu seinem eigenen Zelt aufbrach.
Ihr Vater erhob sich gähnend.
»Darf ich eine Frage stellen, Euer Majestät?«, sagte sie, bevor er gehen konnte.
Als er nickte, befeuchtete sie ihre Lippen. »Habt Ihr ihn einmal gesehen? Den neuen König von Ithicana?«
»Niemand hat ihn gesehen. Sie tragen immer Masken, wenn sie Ausländer treffen.« Dann schüttelte ihr Vater den Kopf. »Aber ich bin ihm einmal begegnet. Das war vor Jahren, als er noch ein Kind war.«
Lara wartete, während ihre Handflächen die Seide ihres Kleides nass werden ließen.
»Es heißt, er sei noch skrupelloser als sein Vater vor ihm. Ein harter Mann, der Ausländern gegenüber keine Gnade zeigt.« Er suchte ihren Blick, und das untypische Mitleid in seinen Augen ließen ihre Hände eiskalt werden. »Ich habe das Gefühl, dass er dich grausam behandeln wird, Lara.«
»Ich bin dazu ausgebildet worden, Schmerz zu ertragen.« Schmerz und Hunger und Isolation. Alles, was ihr möglicherweise in Ithicana drohte. Sie war dazu ausgebildet worden, es zu ertragen und ihrer Mission treu zu bleiben.
»Die Grausamkeit wird vielleicht nicht die Form von Schmerzen bringen, die du erwartest.« Ihr Vater griff nach ihrer Hand und drehte sie um, um ihre Handfläche zu entblößen und zu studieren. »Sei vor allem vor ihrer Freundlichkeit auf der Hut, Lara. Denn die Ithicaner sind überaus gerissen. Und ihr König wird nichts geben, ohne das zu verlangen, was ihm zusteht.«
Ihr Puls beschleunigte sich.
»Das Herz unseres Königreichs ist gefangen zwischen der Roten Wüste und der Stürmischen See, und Ithicanas Brücke ist die einzig sichere Route hinaus«, fuhr er fort. »Weder Wüste noch Meer unterwerfen sich irgendeinem Herrn, und Ithicana … Sie würden unser Volk eher verarmen und verhungern lassen, würden es eher zerstören, als jemals zu erlauben, dass der Handel frei fließt.« Er ließ ihre Hand los. »Über Generationen hinweg haben wir alles in unserer Macht Stehende getan, um sie zur Vernunft zu bringen. Um ihnen klar zu machen, welchen Schaden ihre Habgier den unschuldigen Bewohnern unserer Reiche zufügt. Aber die Ithicaner sind keine Menschen, Lara. Sie sind Dämonen, die sich in Menschengestalt verstecken. Was du, wie ich befürchte, sehr bald herausfinden wirst.«
Lara beobachtete ihren Vater, als er das Zelt verließ, dann krümmte sie ihre Finger. Am liebsten würde sie sie um irgendwelche Waffen schließen. Um anzugreifen. Um zu verstümmeln. Um zu töten.
Nicht wegen seiner Worte.
So ernst die Warnung ihres Vaters auch war, es war eine, die sie schon ungezählte Male gehört hatte. Nein, es war das Heruntersacken seiner Schultern. Die Resignation in seiner Stimme. Die Hoffnungslosigkeit, die sich kurz in seinen Augen gezeigt hatte. Alles Zeichen dafür, dass ihr Vater trotz allem, was er in dieses Glücksspiel investiert hatte, nicht wirklich daran glaubte, dass sie mit ihrer Mission Erfolg haben würde. So sehr Lara es hasste, unterschätzt zu werden, sie verabscheute es noch mehr, dass jene, die ihr etwas bedeuteten, Schaden nahmen. Und da ihre Schwestern jetzt frei waren, lag ihr nichts mehr am Herzen als Maridrina.
Ithicana würde für seine Verbrechen an ihrem Volk zahlen, und wenn sie mit dem König des Bridge Kingdoms fertig war, würde er nicht einfach nur nachgeben.
Er würde bluten.
Nach weiteren vier Nächten der Reise nach Norden wichen die roten Sanddünen Hügeln mit trockenen Büschen und teils abgestorbenen Bäumen, dann zerklüfteten Bergen, die den Himmel zu berühren schienen. Sie folgten schmalen Schluchten, die Tageshitze wurde milder, die Luft feuchter, und immer öfter bedeckten grüne Flecken die endlose braune Erde. Jetzt sahen sie gelegentlich sogar Blumen mit Blüten in strahlenden Farben. Das ausgetrocknete Flussbett, dem sie folgten, wurde schlammig, und mehrere Stunden später durchquerte die Karawane brackiges Wasser, das nach allen Seiten wegspritzte. Abseits des Flusslaufs blieb die Erde jedoch knochentrocken, das Gelände schroff und anscheinend unbewohnbar.
Männer, Frauen und Kinder hielten in ihrer Arbeit auf den Feldern inne, um die an ihnen vorbeiziehende Gruppe zu beobachten. Sie alle waren mager, trugen fadenscheinige Kleider aus selbst gewebten Tüchern und dazu Strohhüte mit breiter Krempe, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Sie lebten von den spärlichen Ernten und dem knochigen Vieh, das sie hielten; eine andere Wahl hatten sie nicht. In früheren Generationen hingegen hatten die Familien mit ihren Gewerben und Geschäften genug verdient, um sich aus Harendell über die Brücke importiertes Fleisch und Getreide leisten zu können. Doch das hatte sich geändert, nachdem Ithicana die Steuern und Zölle erhöht hatte. Jetzt waren solche Importe nur noch für die Reichen erschwinglich, und der arbeitenden Bevölkerung Maridrinas blieb nichts anderes übrig, als den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder diesen trockenen Feldern abzuringen.
Und das schafften diese armen Menschen nur mit knapper Not, wie Lara aufs Neue bewusst wurde, und ihre Brust schnürte sich zusammen, als neben der Karawane Kinder herliefen, deren Rippen unter den zerlumpten Kleidern leicht zu zählen waren.
»Gott segne Seine Majestät!«, riefen sie. »Gott segne die Prinzessin!« Kleine Mädchen liefen neben Serins Kamel her und reckten sich, um ihr geflochtene Zöpfe aus Wildblumen zu schenken.
Lara nahm sie mit Dank an, drapierte sie sich über die Schultern und dann über den Sattel, als es zu viele wurden. Serin gab ihr einen Sack mit Silbermünzen, die sie verteilen sollte, und es war eine echte Herausforderung, ihre Finger ruhig zu halten, während sie die Münzen in winzige Hände drückte.
Die Kinder lernten sehr bald Laras Namen, und als der schlammige Fluss auf dem Weg zum Meer plötzlich kristallklar über ausgedehnte Stromschnellen floss, riefen sie: »Gesegnet sei Prinzessin Lara! Wacht über unsere schöne Prinzessin!« Aber es waren die immer lauter gesungenen Worte »Gesegnet sei Lara, Maridrinas Märtyrerin«, die Laras Hände kalt werden ließen. Sie hielten sie wach, noch lange nachdem Serin seinen allabendlichen Unterricht beendet hatte, und füllten ihren Schlaf mit Albträumen, als sie endlich wegdämmerte. Es waren Träume, in denen sie von spottenden Dämonen gefangen gehalten wurde, Träume, in denen all ihre Talente sie im Stich ließen und in denen sie sich nicht befreien konnte, was auch immer sie tat. Es waren Träume, in denen Maridrina lichterloh brannte.
Und mit jedem Tag kamen sie ihrem Ziel näher.
Als die Erde immer fruchtbarer und feuchter wurde, stieß ein größeres Kontingent von Soldaten zu ihrer Karawane, und Lara wurde vom Kamel in eine von zwei weißen Pferden gezogene blaue Kutsche verfrachtet. Das Zaumzeug der Schimmel war mit den gleichen Silbermünzen geschmückt wie das Pferd von Laras Vater. Mit den Soldaten kam auch ein ganzes Gefolge von Dienern, die sich um alles kümmerten, was Lara brauchte, die sie wuschen und frisierten und schmückten. Schon bald würden sie Vencia erreichen, die Hauptstadt Maridrinas.
Das Getuschel der Bediensteten entging Lara natürlich nicht: Dass ihr Vater die zukünftige Braut für Ithicanas König all die Jahre zu ihrem eigenen Schutz in der Wüste versteckt gehalten hatte. Dass sie eine heiß geliebte Tochter sei, geboren von einer bevorzugten Gemahlin, die von ihm persönlich ausgewählt worden war, um die beiden Königreiche in Frieden zu einen. Ihr Charme und ihre Anmut sollten dafür sorgen, dass Ithicana ihrem Herkunftsland, dem Königreich Maridrina, all die Vorteile gewährte, die ein Verbündeter genießen sollte und die es Maridrina ermöglichen würden, zu neuer Blüte zu gelangen.
Die bloße Vorstellung, dass Ithicana so etwas erlauben würde, war lächerlich, aber Lara empfand keine Erheiterung über die Naivität der einfachen Leute. Nicht, wenn sie die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen sah. Stattdessen schürte sie bedächtig ihren eigenen Zorn und verbarg ihn unter einem sanften Lächeln und anmutigem Winken aus dem offenen Fenster der Kutsche. Sie brauchte diese Stärke, wenn man bedachte, dass sie auch anderes Getuschel hörte: »Habt Mitleid mit der armen, sanften Prinzessin«, sagten die Diener mit Kummer in den Augen. »Was wird aus ihr werden inmitten dieser Dämonen? Wie soll sie ihre Brutalität überleben?«
»Hast du Angst?« Ihr Vater zog zu Laras großem Missfallen die Vorhänge der Kutsche zu, als sie die Außenbezirke von Vencia erreichten. Es war die Stadt, in der sie geboren wurde, und sie hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie aus dem Harem fortgeholt und zu der Oase gebracht worden war, um im Alter von fünf Jahren ihr Training zu beginnen.
Sie drehte sich zu ihm um. »Ich wäre eine Närrin, wenn ich keine Angst hätte. Wenn sie herausfinden, dass ich eine Spionin bin, werden sie mich töten und dann aus reiner Bosheit die Handelskonzessionen zurücknehmen.«
Ihr Vater gab einen zustimmenden Laut von sich, dann zog er zwei mit maridrinischen Rubinen besetzte Messer unter seinem Mantel hervor und reichte sie ihr. Lara erkannte in ihnen die zeremoniellen Waffen, die zum Feststaat verheirateter Maridrinerinnen gehörten. Sie sollten von einem Ehemann zur Verteidigung der Ehre seiner Gemahlin benutzt werden, aber typischerweise waren die Klingen stumpf. Dekorativ. Nutzlos.
»Sie sind wunderschön. Danke.«
Er lachte leise. »Schau genauer hin.«
Lara zog die Messer aus ihrer Scheide, prüfte die Klingen und stellte fest, dass sie scharf waren, aber die Balance stimmte nicht. Dann beugte ihr Vater sich vor und drückte auf eins der Juwelen, und die goldene Hülle fiel herunter, um ein Wurfmesser zu entblößen.
Lara lächelte.
»Wenn sie dir nicht erlauben, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen, wirst du auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen und währenddessen ihre Geheimnisse in Erfahrung bringen, bevor du fliehst. Vielleicht kämpfst du dir ja sogar den Weg frei und kehrst mit dem, was du herausgefunden hast, zu uns zurück.«
Sie nickte und ließ die Waffen in ihren Händen vor- und zurückschnellen, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Unter keinen Umständen würde sie zurückkehren und ihre Invasionsstrategie freiwillig preisgeben. Das wäre Selbstmord.
Nachdem sie von der Absicht ihres Vaters erfahren hatte, sie und ihre Schwestern – mit einer Ausnahme – bei ihrem gemeinsamen Festmahl in der Wüste zu töten, hatte Lara genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, warum ihr Vater die Töchter tot sehen wollte, die nicht dazu bestimmt waren, Königin zu sein. Dahinter steckte mehr als nur der Wunsch, seine Verschwörung geheim zu halten, bis er die Brücke erfolgreich erobert hatte. Ihr Vater wollte, dass diese Verschwörung für immer geheim blieb, denn wenn jemand davon erfuhr, würde das die Möglichkeit, eins seiner anderen noch lebenden Kinder für politische Verhandlungen zu nutzen, schlagartig vernichten. Niemand würde ihm jemals wieder vertrauen. Genauso, wie er ihr niemals vertrauen würde. Was bedeutete, dass auch Lara zum Schweigen gebracht werden würde, sollte sie jemals zurückkehren, erfolgreich oder nicht.
Ihr Vater durchbrach ihre Gedanken. »Ich war dabei, als ihr Mädchen eure ersten Morde begangen habt«, sagte er. »Hast du das gewusst?«
Die Klingen erstarrten in ihren Händen, als Lara sich an jenen Tag erinnerte. Sie und ihre Schwestern waren sechzehn gewesen, als unter Serins wachsamem Blick eine Reihe in Ketten liegender Männer auf das Gelände gebracht worden waren. Es waren Plünderer aus Valcotta gewesen, die man gefangen genommen und hergebracht hatte, um die Kriegerprinzessinnen Maridrinas auf die Probe zu stellen. Töten oder getötet werden, hatte Meister Erik ihnen erklärt, als man sie eine nach der anderen in den Kampfhof gestoßen hatte. Einige ihrer Schwestern hatten gezögert und waren unter den verzweifelten Hieben der Plünderer gefallen. Lara war das nicht passiert. Sie würde niemals das Geräusch des fleischigen, dumpfen Aufpralls ihrer Klinge vergessen, als sie sich von der anderen Seite des Hofes in die Kehle ihres Gegners gebohrt hatte. Ebenso wenig das Erstaunen, mit dem er sie angestarrt hatte, bevor er langsam im Sand zusammengebrochen war und sein Blut eine Lache um ihn herum gebildet hatte.
»Nein, das habe ich nicht gewusst«, antwortete sie.
»Messer sind, wenn ich mich recht erinnere, deine Spezialität.«
Töten war ihre Spezialität.
Die Kutsche holperte über gepflasterte Straßen, und die Hufe der Pferde machten auf dem Stein scharfe, klackernde Geräusche. Lara hörte draußen immer wieder Jubel, und sie zog den Vorhang beiseite und versuchte, den schmutzigen Männern und Frauen zuzulächeln, die die Straßen säumten und deren Gesichter von Hunger und Krankheit bleich waren. Noch schlimmer waren die Kinder unter ihnen. Sie wirkten so stumpf und hoffnungslos und wehrten nicht einmal mehr die Fliegen ab, die sie umschwirrten und sich auf ihrer Haut niederließen.
»Warum tut Ihr nichts für sie?«, fragte sie ihren Vater, der mit ausdrucksloser Miene aus dem Fenster schaute.
Er richtete den Blick seiner blauen Augen auf sie. »Warum, glaubst du, habe ich dich erschaffen?« Dann griff er in seine Tasche und gab ihr eine Handvoll Silber, das sie aus dem Fenster werfen konnte, was sie auch tat.
Sie schloss die Augen, als ihre verarmten Untertanen um das glänzende Metall kämpften. Sie würde sie retten. Sie würde Ithicana die Kontrolle über die Brücke entreißen, und kein Maridriner würde je wieder Hunger leiden.
Die Pferde verlangsamten ihr Tempo und trabten die steilen, gewundenen Straßen zum Hafen hinunter. Wo das Schiff darauf wartete, sie nach Ithicana zu bringen.
Lara zog den Vorhang vollständig beiseite, um ihren ersten Blick auf das Meer zu erhaschen. In der Luft lag der Duft von Fisch und Salz. Auf dem Wasser war Gischt zu sehen, und das Heben und Senken der Wellen nahm Laras ganze Aufmerksamkeit ein, während ihr Vater ihr die Messer aus den Händen nahm, um sie zur richtigen Zeit zurückzugeben.
Die Kutsche fuhr über einen Markt, der fast kein Lebenszeichen zeigte. Die Stände waren verwaist. »Wo sind denn alle?«, fragte sie.
Das Gesicht ihres Vaters war dunkel und undeutbar. »Sie warten darauf, dass du ihnen die Tore nach Ithicana öffnest.«
Die Kutsche rollte in den Hafen und blieb dann stehen. Ohne jedwedes Zeremoniell half ihr Vater ihr aus der Kutsche. Das Schiff, das auf sie beide wartete, hatte die azurblaue und silberne Flagge gehisst. Maridrinas Farben.
Er führte sie eilends zum Kai hinunter und über eine Laufplanke auf das Schiff. »Die Überfahrt nach Südwacht dauert weniger als eine Stunde. Unten warten bereits Diener darauf, dich zurechtzumachen.«
Lara warf einen letzten Blick zurück auf Vencia, auf die Sonne, die heiß und strahlend darauf herabbrannte, dann richtete sie den Blick auf die Wolken, den Nebel und die Dunkelheit, die auf der anderen Seite der schmalen Meeresenge vor ihr lagen. Ein Königreich, das sie retten musste. Ein Königreich, das sie vernichten musste.