5
Aren

Aren, der siebenunddreißigste Herrscher Ithicanas, lag auf dem Rücken und starrte zu den Rußflecken an der Decke der Kaserne empor. Sein Helm lag neben seiner linken Hand, und als er den Kopf drehte, um das monströse, stählerne Ding zu betrachten, das er zusammen mit seinem Titel geerbt hatte, kam er zu dem Schluss, dass, wer immer von seinen Ahnen auf die Idee gekommen war, die Helme zu tragen, gleichzeitig ein Genie und ein Sadist gewesen sein musste. Ein Genie, weil die Dinger Furcht in den Herzen von Ithicanas Feinden heraufbeschworen. Ein Sadist, weil es sich anfühlte, als würde sein Kopf in einem Kochtopf stecken, der nach verschwitzten Socken roch, wenn er den Helm trug.

Das Gesicht seiner Zwillingsschwester erschien in seinem Blickfeld, sie wirkte amüsiert. »Nana hat sie untersucht. Sie sagt, das Mädchen sei schockierend in Form, ganz gewiss gesund und wird, sofern keine Tragödie geschieht, wahrscheinlich ein schön langes Leben vor sich haben.«

Aren blinzelte einmal.

»Enttäuscht?«, fragte Ahnna.

Aren stützte sich auf einen Ellbogen und richtete sich auf der Bank auf. »Auch wenn unsere benachbarten Königreiche über mich das Gegenteil behaupten, ich bin nicht wirklich so verdorben, dass ich einem unschuldigen Mädchen den Tod wünsche.«

»Bist du dir so sicher, dass sie unschuldig ist?«

»Behauptest du, sie sei es nicht?«

Ahnna verzog das Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf. »Nach wahrer maridrinischer Manier haben sie dir ein schönes und behütetes, schüchternes Pflänzchen geschickt. Hübsch anzusehen und sonst zu nicht viel zu gebrauchen.«

Bei der Erinnerung daran, wie die junge Frau gezittert hatte, als sie über den Kai gegangen war, wie sie sich an den Arm ihres Vaters geklammert hatte, ihre riesigen blauen Augen voller Entsetzen, neigte Aren dazu, der Einschätzung seiner Schwester zuzustimmen. Trotzdem war er fest entschlossen, Lara zu isolieren, bis er sich ein Bild von ihrer wahren Natur machen konnte. Und herausgefunden hatte, wem gegenüber sie wirklich loyal war.

»Haben unsere Spione mehr über sie herausgefunden?«

Ahnna schüttelte den Kopf. »Nichts. Er scheint sie in der Wüste versteckt zu haben, und bis sie aus dem roten Sand geritten kam, haben nicht einmal die Maridriner ihren Namen gekannt.«

»Warum die ganze Heimlichtuerei?«

»Es heißt, es sei zu ihrem Schutz geschehen. Nicht jeder freut sich über unser Bündnis mit Maridrina, am wenigsten Valcotta.«

Aren runzelte die Stirn. Er war nicht zufrieden mit der Antwort, obwohl er nicht hätte sagen können, warum. Maridrina und Valcotta lagen ständig im Krieg miteinander wegen des fruchtbaren Streifen Landes, der an der Westküste des südlichen Kontinents verlief, der Grenze, um die beide Königreiche wetteiferten. Es war durchaus möglich, dass die valcottische Kaiserin versucht hätte, mit einer geplanten Ermordung der Prinzessin das Bündnis zu unterbinden, aber er hielt es doch für unwahrscheinlich. Zum einen hatte Silas Veliant mehr Töchter, als er gebrauchen konnte, und der Bündnisvertrag hatte nicht konkret festgelegt, welches Mädchen nach Ithicana geschickt werden sollte. Zweitens, jedes Königreich im Norden wie im Süden wusste, dass Arens Heirat mit einer maridrinischen Prinzessin nicht mehr war als ein symbolischer Akt, weil alle beteiligten Parteien ein weitaus größeres Interesse an den Handelsbedingungen hatten, die durch diese Übereinkunft und den Frieden erkauft wurden. Der Bündnisvertrag hätte überlebt, selbst wenn die Prinzessin es nicht getan hätte.

Aber der dritte Punkt und der, der ihm am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war, dass es nicht in der maridrinischen Natur lag, sich vor irgendjemandem zu verstecken. Wenn überhaupt, hätte Silas die Ermordung von ein oder zwei Töchtern mit großer Freude hingenommen, weil das die erlahmende Unterstützung seines Volkes für den Krieg gegen Valcotta wieder hätte aufleben lassen.

»Ist sie schon wach?«

»Nein. Ich bin sofort heruntergekommen, nachdem Nana sie zu einer fitten und gesunden Ehefrau für dich erklärt hatte, da ich diejenige sein wollte, die die wunderbare Nachricht mit dir teilt.«

Die Stimme seiner Zwillingsschwester troff von Sarkasmus, und Aren warf ihr einen warnenden Blick zu. »Lara ist jetzt deine Königin. Vielleicht versuchst du, ihr ein wenig Respekt zu erweisen.«

Ahnna antwortete, indem sie ihm den Mittelfinger zeigte. »Was wirst du mit Königin Lara machen?«

»Bei solchen Brüsten würde ich vorschlagen, dass Ihr sie in Euer Bett holt«, erklang eine raue Stimme.

Aren drehte sich um, um Jor, den Hauptmann seiner Ehrengarde, anzufunkeln, der auf der anderen Seite der Feuergrube saß. »Vielen Dank für den Vorschlag.«

»Was haben sie sich dabei gedacht, sie in dem strömenden Regen in Seide zu kleiden? Ebenso gut hätten sie sie nackt vor uns allen herumstolzieren lassen können.«

Aren hatte es tatsächlich ebenfalls bemerkt. Selbst gebeutelt vom Regen war sie atemberaubend gewesen, ihre Figur kurvig, ihr exquisites Gesicht umrahmt von honigfarbenem Haar. Nicht dass er etwas anderes erwartet hätte. Obwohl der König von Maridrina die Blüte seiner Jahre überschritten hatte, war er doch ein vitaler Mann geblieben, und es war bekannt, dass er die Mehrheit seiner Gemahlinnen um ihrer Schönheit willen auswählte und aus keinem anderen Grund.

Bei dem Gedanken an den anderen König stieg Aren die Magensäure hoch. Er dachte an den selbstgefälligen Ausdruck auf Silas’ Gesicht, als er ihm seine geliebte Tochter überreicht hatte.

Es war ein Gesichtsausdruck, auf den eigentlich der Rattenkönig ein Anrecht hatte.

Während Ithicana jetzt an neue und wenig wünschenswerte Handelsbedingungen gebunden war, hatte der König von Maridrina lediglich eines seiner ungezählten Kinder hergegeben und das Versprechen, den Frieden, der während der vergangenen fünfzehn Jahre zwischen den beiden Königreichen geherrscht hatte, aufrechtzuerhalten. Und nicht zum ersten Mal verfluchte Aren seine Eltern dafür, dass sie seine Heirat mit einer maridrinischen Prinzessin zu einem Teil der Vereinbarung gemacht hatten.

»Ein Stück Papier mit drei Unterschriften wird wenig dazu beitragen, unsere Königreiche zu einen«, hatte seine Mutter immer geantwortet, wenn er sich beklagt hatte. »Deine Heirat wird der erste Schritt sein, ein echtes Bündnis zwischen unseren Völkern zu erschaffen. Du wirst mit gutem Beispiel vorangehen, und damit wirst du sicherstellen, dass Ithicana mehr tut, als nur um Haaresbreite zu überleben. Und wenn dir das nichts bedeutet, dann erinnere dich daran, dass dein Vater sein Wort in meinem Auftrag gegeben hat.«

Und ein Ithicaner hielt immer sein Wort. Was der Grund war, warum Aren am fünfzehnten Jahrestag der Übereinkunft und trotz des Todes seiner Eltern vor einem Jahr eine Nachricht nach Maridrina geschickt und darum gebeten hatte, ihre Prinzessin herzubringen, damit sie sich vermählen konnten.

»Ich kann nicht bestreiten, dass sie ein Augenschmaus ist. Und ich kann nur hoffen, dass ich auch solches Glück haben werde.« Obwohl Ahnnas Stimme unbeschwert klang, entging Aren nicht, wie der Glanz aus ihren haselnussbraunen Augen verschwand, als sie ihre Hälfte des Handels erwähnte.

Der König von Harendell, ihr Nachbar im Norden, hatte noch nicht nach der ithicanischen Braut für seinen Sohn geschickt, aber da Aren jetzt mit Lara vermählt war, war es nur eine Frage der Zeit. Harendell würde inzwischen die Bedingungen kennen, die Maridrina ausgehandelt hatte, und sie würden darauf brennen, ebenfalls ein Stück vom großen Ganzen abzubekommen. Beide Übereinkünfte würden Amarid zu einem Vergeltungsschlag anspornen. Die Beziehungen des anderen nördlichen Königreichs zu Ithicana waren bereits voller Konflikte, wenn man bedachte, dass ihre Handelsschiffe mit dem Bridge Kingdom um Geschäfte wetteiferten.

Aren warf einen vielsagenden Blick in Jors Richtung und wartete, bis sich seine Ehrengarde zurückzog, bevor er leise zu seiner Schwester sagte: »Ich werde dich nicht dazu zwingen, den Prinzen zu heiraten, wenn du es nicht möchtest. Ich werde sie auf irgendeine andere Weise entschädigen. Harendell ist pragmatischer als Maridrina. Sie sind käuflich.« Es war eine Sache für Aren, um des Friedens willen eine Braut zu akzeptieren, die er nicht selbst erwählt und niemals kennengelernt hatte. Eine ganz andere war es jedoch, seine Schwester einem anderen Königreich zu überlassen, wo sie allein an einem fremden Ort sein würde und benutzt werden konnte, wie immer es ihnen in den Sinn kam.

»Sei kein Narr, Aren. Du weißt, dass das Wohl unseres Königreichs bei mir an erster Stelle steht«, murmelte Ahnna, aber sie lehnte sich an seine linke Schulter, wo sie ihr Leben lang neben ihm gestanden und für ihn gekämpft hatte. »Und du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Was daran lag, dass er nicht wusste, was er mit Lara machen sollte.

»Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen«, bemerkte Ahnna. »Silas mag Frieden versprochen haben, aber glaube keine Sekunde lang, dass er beabsichtigt, das Versprechen um ihretwillen einzuhalten. Der Bastard würde wahrscheinlich ein Dutzend Töchter opfern, wenn uns das dazu bringen würde, unsere Verteidigungswälle aufzugeben.«

»Das ist mir bewusst.«

»Sie mag schön sein«, fuhr seine Schwester fort, »aber glaube niemals, nicht einen Herzschlag lang, dass dahinter nicht Absicht steckt. Sie ist die Tochter unseres Feindes. Er will, dass sie dich ablenkt. Wahrscheinlich hat sie die Anweisung, dich zu verführen und so viel wie möglich über Ithicanas Geheimnisse herauszufinden, in der Hoffnung, dass sie sie an ihren Vater weiterleiten kann. Wir können es nicht gebrauchen, dass er diese Art von Vorteil hat.«

»Wie genau sollte sie das bewerkstelligen? Es ist ja nicht so, als würden wir sie zu Besuchen nach Hause schicken. Sie wird keinen Kontakt zu irgendjemandem außerhalb von Ithicana haben. Das muss ihm klar sein.«

»Es ist besser, auf Nummer sicher zu gehen. Besser, sie im Dunkeln tappen zu lassen.«

»Also soll ich sie für den Rest ihrer Tage auf dieser verlassenen Insel im Haus unserer Eltern weggeschlossen halten?« Aren starrte in die rote Glut des Feuers. Ein Windstoß wehte Regen in das Loch im Dach über ihnen, und die Tröpfchen zischten, als sie auf das verkohlte Holz trafen. »Und falls« – er schluckte hörbar, denn er kannte seine Verpflichtung gegenüber seinem Königreich – »wenn wir ein Kind haben, soll ich ihn oder sie dann ebenfalls hier einsperren?«

»Ich habe nie gesagt, dass es leicht werden würde.« Seine Schwester ergriff seine Hand und drehte sie um, um die Schnittwunde quer über seiner Handfläche zu betrachten. Sie blutete noch immer an einer Stelle. »Aber unsere Pflicht ist es, unser Volk zu beschützen. Eranahl geheim zu halten. Darauf achtzugeben.«

»Ich weiß.« Aber das bedeutete nicht, dass er keine Verpflichtungen gegenüber seiner neuen Braut verspürte. Die er über die dunkle, lange Brücke hatte tragen lassen, in dem Wissen, dass sie an einem ganz anderen Ort aufwachen würde, als jene, die sie bisher gekannt hatte. Dass sie nicht das Leben führen würde, das sie selbst gewählt hatte, sondern eines, das ihr aufgezwungen worden war.

»Du solltest zum Haus hinaufgehen«, riet Ahnna ihm. »Das Beruhigungsmittel wird schon bald seine Wirkung verlieren.«

»Geh du zu ihr.« Aren legte sich wieder auf die Bank und lauschte dem Donnergrollen über der Insel. Der Sturm war fast weitergezogen, obwohl er schon bald durch einen anderen ersetzt werden würde. »Sie hat genug durchgemacht, da muss sie nicht auch noch in einem Raum mit einem fremden Mann aufwachen.«

Ahnna machte für einen Moment den Eindruck, als würde sie protestieren wollen, aber dann nickte sie. »Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn sie aufwacht.« Sie erhob sich und verließ auf lautlosen Füßen die Kaserne. Er blieb allein zurück.

Du bist ein Feigling, dachte er bei sich. Denn es war nur ein Vorwand gewesen, um das Mädchen nicht sehen zu müssen. Seine Mutter hatte geglaubt, dass diese Prinzessin der Schlüssel zu neuer Größe für Ithicana sei, aber Aren war davon keineswegs überzeugt.

Ithicana brauchte eine Königin, die eine Kriegerin war. Eine Frau, die für ihr Volk bis auf den Tod kämpfte. Eine Frau, die schlau und skrupellos war, nicht weil sie es sein wollte, sondern weil es das war, was ihr Land von ihr brauchte. Eine Frau, die ihn für den Rest seines Lebens an jedem Tag herausforderte. Eine Frau, die Ithicana respektieren würde.

Und in einem Punkt war er sich sicher: Diese Frau war nicht Lara Veliant.