Aren legte den Wetzstein beiseite, mit dem er die Klinge eines Messers geschärft hatte, und starrte in die Tiefen des Dschungels rund um sein Zuhause. Obwohl aus den Bäumen unzählige Laute kamen – das Plätschern von Wasser, die Rufe von Tieren, das Summen von Insekten –, fühlte sich die Insel still an. Ruhig. Friedlich.
Etwas Warmes und Pelziges rieb sich an seinem Arm, und Aren hob die Hand, um Vitex hinter den Ohren zu kraulen. Der große Kater schnurrte zufrieden, bis etwas in den Büschen seine Aufmerksamkeit erregte. In der Nähe war schon länger ein Weibchen umhergewandert, und auch jetzt bemerkte Aren ihre gelben Augen unter einem großen Blatt, von dem aus sie sie beobachtete.
»Willst du sie dir holen?«, fragte er seinen Kater.
Vitex saß nur auf seinen Läufen und gähnte. »Guter Plan. Lass sie zu dir kommen.« Aren lachte leise. »Gib mir Bescheid, wie das für dich funktioniert.«
Hinter ihnen war das Scharren von Stiefeln auf Marmor zu hören, dann schwang die Tür auf. Seine Schwester blinzelte, als sie ins Freie trat.
»Du bist besser in Form, als ich erwartet hatte«, bemerkte er trocken.
Ahnna musterte ihn finster und stieß mit einem Fuß den Kater hinein, damit sie die Tür schließen konnte. »Wieso das?«
»Weil die Menge an Wein, die du zu dir genommen haben musst, um bei Tisch ohnmächtig zu werden, wahrscheinlich bedeutet, dass mein Keller mager aussieht.«
»Guter Gott, so schlimm?«
»Wenn man dem Geschnatter, das ich aus der Küche gehört habe, Glauben schenken darf.« Aren griff nach seinem Bogen, erhob sich von seinem Sitzplatz auf der Vordertreppe und klopfte mit dem Ende der Waffe auf seinen Stiefel. »Eli und Lara haben dich in dein Zimmer zurückgeschleppt.«
Ahnna strich sich mit einer Hand über die Augen und schüttelte den Kopf, als versuche sie, ihn freizubekommen. »Ich erinnere mich daran, mich mit ihr unterhalten zu haben, und dann …« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich habe geschlafen wie eine Tote.«
Genau wie er, was seltsam war, wenn man bedachte, dass es eine klare Nacht gewesen war. Wenn kein Sturm Ithicanas Gestade schützte, wälzte Aren sich normalerweise die halbe Nacht lang von einer Seite auf die andere. Er wäre selbst zu spät aufgestanden, wenn der verdammte Kater ihn nicht geweckt hätte.
»Guten Morgen, Kinder.«
Aren drehte sich um, als Jor durch den Nebel auftauchte, mit einem Brötchen, das er offensichtlich aus der Küche hatte mitgehen lassen, in der Hand.
Der ältere Mann musterte Aren. »Für einen Mann, der gerade geheiratet hat, wirkt Ihr schrecklich ausgeruht.«
Ahnna kicherte. »Ich glaube nicht, dass er gestern Nacht viel Gesellschaft hatte. Oder überhaupt Gesellschaft.«
»Habt Ihr die neue Ehefrau jetzt schon verärgert?«
Aren ignorierte die Frage. Eine Vision von Lara, wie sie am Fußende seines Bettes stand, geisterte ihm im Kopf herum, in ihrer Nacktheit so verdammt perfekt, dass es ein Traum gewesen sein musste. Der Geschmack ihrer Lippen, das Gefühl ihrer seidigen Haut unter seinen Händen, der Klang ihres Atems, rau von Verlangen. Es wirkte alles so lebendig, aber seine Erinnerung brach dort ab.
Definitiv ein Traum.
Aren zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es Ahnna. »Dein Marschbefehl für Südwacht.«
Sie faltete es auseinander, und als sie die überarbeiteten Handelsbedingungen mit Maridrina überflog, furchte sich ihre Stirn vor frischem Ärger.
»Ich werde dich zur Kaserne begleiten«, sagte er. »Ich brauche einen Läufer, der eine Kopie nach Nordwacht bringt. Maridrina hat bereits Käufer mit Gold über die Brücke geschickt. Sie werden die Sache in Gang bringen wollen.« An Jor gewandt, fügte er hinzu: »Wer hat die Wache?«
»Lia.«
»Gut. Behaltet sie hier. Ich erwarte nicht, dass Lara Ärger macht, aber …«
Jor hüstelte. »Was Lara betrifft. Aster ist hier. Er will mit Euch reden.«
»Er ist in der Kaserne?«
»Auf dem Wasser.«
»Natürlich ist er das.« Der Kommandant der Garnison in Kestark – südlich von Mittwacht gelegen – gehörte zur alten Garde. Seine Ernennung war kurz vor dem Lebensende von Arens Großvater erfolgt, und Arens Mutter hatte fast ihre gesamte Regentschaft damit verbracht, nach einem legitimen Grund zu suchen, ihn aus dem Amt entfernen zu lassen, aber ohne Erfolg. Der alte Bastard klammerte sich an die ithicanische Tradition, wie eine Muschel am Rumpf eines Bootes klebt, und es war Aren keineswegs entgangen, dass Aster von allen Kommandanten der Wache der Einzige gewesen war, der sich bei seiner Hochzeit nicht gezeigt hatte. »Ich nehme an, wir sollten ihn nicht warten lassen.«
Der Nebel hing in der Luft wie eine große graue Decke, reduzierte die Sonne auf eine silberne Kugel und schränkte die Sicht auf einen Umkreis von nur wenigen Schritten ein. Ahnnas Leibwächter erwartete sie unten an der Bucht, genau wie sein eigener, während die Männer und Frauen schweigend ihre Boote ins Wasser schoben. Ahnna gesellte sich zu ihm in eins der Boote aus Mittwacht.
Die Luft war völlig ruhig, und wo ein Segel gesetzt war, hing es schlaff herunter. Das Rasseln der Kette, die den Eingang zur Bucht versperrte und die sich jetzt hob, fühlte sich an wie eine vulgäre Verletzung der Stille. Ruder tauchten ins Wasser und glitten wieder heraus, während die Boote Gefahren auswichen, die nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche lauerten.
»Aren.«
Aren drehte sich zu seiner Zwillingsschwester um und folgte ihrem Blick ins Wasser, wo er eine gewaltige Gestalt ausmachte, die sich unter ihnen bewegte. Der Hai war länger als das Boot, in dem sie saßen – und mühelos dazu in der Lage, es zu zerstören, sollte ihm danach zumute sein –, aber das war nicht der Grund, warum Ahnna ihn auf das Raubtier aufmerksam gemacht hatte. Das Erscheinen des Hais kündigte das alljährliche Zur-Ruhe-Kommen der sonst so stürmischen See an, und es würde nicht mehr lange dauern, bevor die Gewässer Ithicanas sich rot von Blut färbten.
Seine Wirbelsäule kribbelte, und Aren griff nach einem Fernglas, um ihre Umgebung abzusuchen, doch seine Bemühungen ergaben nichts als Grau. Eine gute Sache, um das Kommen und Gehen seiner Leute zu verschleiern, aber es leistete ihren Feinden genauso gute Dienste.
»Es ist noch Wochen zu früh. Nana hat noch nicht einmal das Ende dieser Sturmsaison verkündet.« Aber trotz Ahnnas Worten war ihre Hand zu dem Waffengürtel um ihre Taille gewandert, und in ihren Augen stand ein wachsamer Ausdruck. »Ich muss zurück nach Südwacht.«
Aus dem Nebel tauchten zwei Schiffe auf. Aster – mit seiner Liebe zu übertriebenem Symbolismus – hatte sich dafür entschieden, direkt unter der Brücke zu warten.
»Euer Gnaden.« Der ältere Mann streckte die Hand aus, um die beiden Boote zueinander hinzuziehen. »Es erleichtert mich, Euch wohlauf zu sehen.«
»Habt Ihr etwas anderes erwartet?« Die Boote schaukelten, als Arens Wachen mit dem Kommandanten die Plätze tauschten, sodass die drei einen Hauch von Privatsphäre genießen konnten.
»Wenn man bedenkt, was Ihr Euch ins Haus geholt habt, ja.«
»Sie ist kaum mehr als ein Mädchen und allein und uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich denke, damit werde ich fertig.«
»Selbst ein Kind kann Gift in einen Becher schmuggeln. Und die Maridriner sind bekannt dafür.«
»Seid beruhigt, Aster, von Lara geht keine Gefahr für mein Leben aus. Silas Veliant ist kein Narr – er weiß, dass es ihn seinen neuen Handelsvertrag mit Ithicana kosten würde, wenn seine Tochter mich ermordet.«
»Lara.« Aster spuckte ins Wasser. »Ich kann in Eurer Stimme hören, dass sie bereits ihre Krallen in Euer Fleisch geschlagen hat. Ihr müsst wissen, dass es einen Grund dafür gibt, dass sie eine so schöne Frau geschickt haben.«
»Woher wollt Ihr wissen, wie sie aussieht, Kommandant?«, schaltete Ahnna sich in das Gespräch ein. »Ich habe Euch bei der Hochzeit nicht gesehen, obwohl es durchaus möglich ist, dass Ihr Euch weiter hinten versteckt habt.«
Aren biss sich auf die Zunge. Der Kommandant von Kestark war relativ klein für einen Ithicaner, und er schätzte es gar nicht, wenn man ihn daran erinnerte.
»Ich habe gehört, wie sie aussieht.« Aster betrachtete aus Augen, die so kalt waren wie die des Hais, der unter ihnen hindurchschwamm. »Ich habe nicht teilgenommen, weil ich Eure Wahl, dieses Mädchen zu Eurer Gattin zu machen, nicht unterstützt habe.«
Er stand mit dieser Meinung nicht allein. Es gab eine große Anzahl von Menschen, vor allem in der älteren Generation, die vehement gegen die Vereinigung protestiert hatten. »Warum seid Ihr dann jetzt hier?«
»Um Euch einen Rat zu geben, Euer Gnaden. Geht mit dem maridrinischen Mädchen zum Wasser hinunter und ertränkt es. Haltet sie unter den Wellen fest, bis Ihr Euch absolut sicher seid, dass sie tot ist, und dann verfüttert ihren Leichnam an die See.«
Für einen Moment sagte niemand etwas.
»Ich pflege keine unschuldigen Frauen zu ermorden«, stellte Aren schließlich fest.
»Unschuldig. Das ist ein Wort.« Aster verzog das Gesicht und hob den Blick zu der Brücke über ihnen, bevor er sich wieder Aren zuwandte. »Ich vergesse immer, wie jung Ihr seid, Euer Gnaden. Ihr wart noch ein Knabe und sicher behütet in Eranahl, als wir das letzte Mal gegen Maridrina in den Krieg gezogen sind. Ihr habt nicht gekämpft in diesen Schlachten, in denen sie uns ihre gesamte Marine entgegengeschleudert, Südwacht blockiert und den Handel unmöglich gemacht haben, und in all dieser Zeit hat unser Volk gehungert. Ihr wart nicht dort, als Silas Veliant begriffen hat, dass er mit Gewalt nicht siegen konnte, und sich daraufhin an den umliegenden Inseln gerächt hat. Seine Soldaten haben ganze Familienclans niedergemetzelt und ihre Leiber als Festmahl für die Vögel aufgeknüpft.«
Aren war tatsächlich nicht alt genug gewesen, um zu kämpfen, aber das bedeutete nicht, dass er sich nicht daran erinnerte, wie verzweifelt seine Eltern gewesen waren, als sie Maridrina und Harendell den Bündnisvertrag angeboten hatten. »Wir hatten fünfzehn Jahre Frieden mit ihnen, Aster. Fünfzehn Jahre, in denen Silas keinen Finger gegen Ithicana gerührt hat.«
»Er ist trotzdem immer noch derselbe Mann!«, donnerte Aster. »Und Ihr habt Euch einen seiner Sprösslinge ins Bett geholt! Ich habe Euch für vieles gehalten, Aren Kertell, aber erst jetzt halte ich Euch für einen Narren.«
Ahnna hatte ein Messer in der Hand, aber Aren schüttelte warnend den Kopf. Er hatte das vergangene Jahr damit verbracht, sich von seinen Wachkommandanten herumschubsen und ausfragen zu lassen, und es bedurfte mehr als einiger Beleidigungen, um ihn in Rage zu bringen. »Ich weiß so gut wie jeder andere, was für eine Art Mann Silas Veliant ist, Kommandant. Aber dieser Bündnisvertrag hat uns Stabilität und Frieden mit Maridrina geschenkt, und ich werde nichts tun, um das zu gefährden.«
Aren wartete darauf, dass der andere Mann sich beruhigte, dann sprach er weiter: »Während der Rest der Welt voranschreitet, stagniert Ithicana. Unser einziges Gewerbe sind die Brücke und der Kampf, um die Brücke zu halten. Wir bauen nichts an. Wir erschaffen nichts. Wir kennen nichts als Krieg und Überleben. Wenn unsere Kinder aufwachsen, lernen sie unzählige Methoden, um einen Mann zu töten, aber ihre Schulbildung reicht kaum aus, um ihren eigenen Namen zu schreiben. Und das ist einfach nicht genug.«
Aster versuchte, ihn niederzustarren, denn er hatte diese Ansprache schon früher gehört. Aber Aren würde sie noch tausendmal wiederholen, wenn das notwendig war, damit Männer wie Aster die Veränderung akzeptierten, die Ithicana brauchte.
»Wir benötigen Bündnisse – echte Bündnisse. Bündnisse, die über von Königen unterzeichnete Papiere hinausgehen. Bündnisse, die unserem Volk Möglichkeiten jenseits des Schwertkampfes verschaffen werden.«
»Ihr seid ein Träumer, genau wie Eure Mutter es war.« Aster hob eine Hand und signalisierte den anderen Booten, zurückzukehren. »Und es ist eine wunderschöne Zukunft, die Ihr Euch da ausmalt, das will ich Euch lassen, Euer Gnaden. Aber es ist nicht Ithicanas Zukunft.«
Asters Boot tauchte wieder neben ihrem auf, und der Kommandant sprang hinüber und nahm zwischen seinen Wachen Platz. »Und damit Euer Traum sich nicht in unseren Albtraum verwandelt, tut uns allen einen Gefallen, Euer Gnaden, und haltet diese Frau hinter Schloss und Riegel.«