Lara schlief besser, als sie es seit langer Zeit getan hatte, was zum Teil an dem Betäubungsmittel lag und zum Teil an der Stille. Während der Reise durch Maridrina war ihr Schlaf ständig von irgendwelchem Lärm gestört worden. Hervorgerufen von Soldaten, Dienern, Pferden, Kamelen … Aber hier gab es nur die schwachen Geräusche von Vogelgezwitscher in den Bäumen des Gartens.
Es war friedlich.
Aber dieses Gefühl von Frieden war wie ein Schleier, der die gefährliche Wahrheit dieses Ortes verbarg. Und ihre eigene gewalttätige Wahrheit.
Lara zog sich leise an und wagte sich hinaus in Richtung Speiseraum. Sie wappnete sich gegen die Möglichkeit, dass Aren sich daran erinnerte, was in der vergangenen Nacht in seinem Zimmer geschehen war. Und begriff, dass sie ihn betäubt hatte. Und dann wäre ihre Mission vorüber, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Der Tisch bog sich unter Tabletts mit in Scheiben geschnittenen Früchten und verschiedenen Fleischsorten, cremigem Joghurt und winzig kleinem Gebäck, das mit Zimt und Muskatnuss bestäubt war. Aber sie hatte nur Augen für die riesigen Fenster. Obwohl es später Vormittag war, wurde das Sonnenlicht von einer Schicht von Wolken gedämpft, sodass es nicht heller war als Zwielicht. Doch es offenbarte, was die Dunkelheit in der vergangenen Nacht verborgen hatte: den wilden Dschungel, die himmelhohen Bäume, unter denen das Blätterwerk so dicht war, dass es undurchdringbar sein würde. Und das alles war verhangen von Nebel.
»Wo ist Seine Majestät?«, fragte sie Eli in der Hoffnung, dass er die Röte nicht bemerkte, die ihr in die Wangen stieg. Letzte Nacht war einiges ihrer Kontrolle entglitten. In mehr als nur einer Hinsicht.
Die ältere Dienerin warf Eli einen scharfen Blick zu. »Seine Majestät steht früh auf. Er ist mit dem Kommandanten fortgegangen, um dafür Sorge zu tragen, dass die neuen Handelsbedingungen mit Maridrina an die Handelsplätze Nordwacht und Südwacht weitergegeben werden.«
Gott sei Dank. Sie war sich nicht sicher, ob sie schon bereit war, ihm zu begegnen. Nicht nach den Dingen, die sie getan hatten, ganz gleich, ob er sich daran erinnerte oder nicht.
Lara nickte der Frau mit ernster Miene zu und hoffte, dass die Geste ihr Unbehagen verbarg. »Die neuen Handelsbedingungen werden ein Gottesgeschenk für mein Heimatland sein. Daraus kann nur Gutes erwachsen.«
Ein Schatten schien über die Augen der älteren Dienerin zu gleiten, aber sie neigte nur den Kopf. »Wie Ihr sagt, Herrin.«
»Wie heißt du? Eli habe ich bereits kennengelernt, und ich würde gern auch den Rest von euch besser kennenlernen.«
»Mein Name ist Clara, Herrin. Eli ist mein Neffe, und meine Schwester Moryn ist die Köchin.«
»Ihr seid nur zu dritt?«, fragte Lara und dachte an die Legion von Dienstboten, die ihre Reisegruppe von den Gebieten am Rande der Roten Wüste nach Ithicana begleitet hatte.
Ein träges Lächeln schlich sich in Claras Züge. »Seine Majestät hatte die Angewohnheit, die Gesellschaft seiner Soldaten zu suchen, statt sich in diesem Haus aufzuhalten. Obwohl ich vermute, dass Eure Anwesenheit das ändern wird, Herrin.«
In den Augen der Dienerin trat ein leichtes Funkeln, bei dem Laras Wangen warm wurden. »Weißt du, wann er zurückkehren wird?«
»Das hat er nicht gesagt, Herrin.«
»Ich verstehe.« Lara ließ einen Hauch von Enttäuschung in ihre Stimme fließen.
Zufrieden beobachtete sie, wie die Miene der Frau weicher wurde. »An den meisten Tagen hat er alle Hände voll zu tun, aber wenn schon nichts anderes, wird sein Magen ihn zum Abendessen nach Hause treiben.«
»Gibt es Einschränkungen für mich, wo ich hingehen darf?«
»Das Haus gehört Euch, Herrin. Seine Majestät hat darum gebeten, dass Ihr es Euch behaglich macht.«
»Vielen Dank.« Danach ließ Lara die beiden in Ruhe den Tisch abräumen, während sie eine Runde durchs Haus drehte.
Neben ihren Gemächern und denen von Aren gab es vier weitere Schlafzimmer, den Speiseraum, die Küche und die Dienstbotenquartiere. Die ganze rückwärtige Seite des Hauses war angefüllt mit gepolsterten Sesseln, einer Vielzahl von Spielen, die auf Tischen ausgebreitet waren, und Wänden voller Bücher. Es verlangte sie danach, nach diesen Büchern zu greifen, aber sie strich nur mit einem Finger über die Buchrücken, bevor sie weiterging. Jeder Raum hatte unzählige Fenster, aber die Aussicht aus allen war die gleiche: Dschungel. Wunderschön, aber vollkommen ohne jede Zivilisation. Vielleicht beschrieb das ganz Ithicana, dachte Lara. Es gab die Brücke, den Dschungel und wenig sonst.
Oder vielleicht war es nur das, was sie denken sollte.
Als sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, untersuchte sie die Auswahl an ithicanischer Kleidung im Schrank und wählte eine Hose und eine ärmellose Bluse aus. Zu guter Letzt schlüpfte sie in ein Paar steife Lederstiefel und ging dann durch den Flur und durch die Vordertür des Hauses nach draußen.
»Testet Eure Grenzen auf eine Weise, die keinen Verdacht auf Eure Fähigkeiten lenkt«, hörte sie Serins stumme Unterweisung. »Sie erwarten von Euch, dass Ihr ignorant, hilflos und verwöhnt seid. Schlachtet ihre Irrtümer aus.«
In der Erwartung, dass man ihr vielleicht folgen würde, ging Lara los. Ein Pfad führte nach oben, aber sie entschied sich stattdessen dafür, dem Wasserlauf zu folgen. Das würde sie zwangsläufig zum Meer bringen.
Es war nur eine Frage von Minuten, bis sie das leise Geräusch von Schritten hörte, die ihr folgten. Das Knacken eines Zweiges. Ein sanfter Wasserspritzer. Wer immer es war, verfügte über die Verstohlenheit eines Jägers, aber Lara hatte gelernt, den Unterschied zwischen Sand zu erkennen, den der Wind herbeiwehte, und dem, der sich unter dem Gewicht eines Mannes bewegte, daher war es ein Leichtes für sie, in diesem Dschungel einzelne Geräusche eines Verfolgers wahrzunehmen.
Lara entdeckte Spuren mehrerer Fallen, weshalb sie sich weiter an den Bachlauf hielt, und schon bald war sie durchnässt von Regen und Schweiß. Die Feuchtigkeit in der Luft vermittelte ihr das Gefühl, als würde sie Wasser atmen, aber trotzdem hatte sie weder die Brücke noch den Strand gesehen noch hatte ihr Verfolger irgendwelche Anstalten gemacht, einzugreifen.
Sie legte eine Hand auf einen Baumstamm und heuchelte Erschöpfung, während sie gen Himmel schaute und erfolglos versuchte, durch den Baldachin der Blätter und den Nebel etwas zu erkennen. Serin hatte ihr ausführlich erklärt, was sie über die Brücke wussten. Dass die Mehrheit der Pfeiler natürliche Felsen seien, die aus dem Meer ragten und die Brückensegmente oft in dreißig bis sechzig Meter Höhe über dem Wasserspiegel trugen. Es gab nur einige wenige Inseln, auf denen die Brücke aufsaß, und diese Inseln wurden durch alle möglichen Abwehrmaßnahmen geschützt, die feindliche Schiffe versenken sollten. Laras wichtigstes Ziel bestand darin, herauszufinden, wie die Ithicaner zwischen Südwacht und Nordwacht auf die Brücke kamen. Aber dazu musste sie erst einmal die Brücke selbst entdecken.
Der Bach floss einen zunehmend steiler werdenden Hang hinunter, und das jetzt kühle Wasser strömte in winzigen Wasserfällen über Felsvorsprünge und erfüllte die Luft mit einem sanften Tosen. Lara hielt sich an Ranken fest und stützte sich auf Felsen, als sie sich einen Weg nach unten bahnte. Schon jetzt graute ihr vor dem Schmerz, den ihr der Aufstieg bereiten würde.
Dann glitt sie aus.
Die Welt kippte zur Seite, ein Reigen von Grüntönen, als sie stürzte und ihr Ellbogen schmerzhaft gegen einen Felsen schlug. Dann fiel sie.
Lara kreischte einmal auf und ruderte verzweifelt mit den Armen, um eine Ranke zu fassen zu bekommen. Sie klatschte in einen Teich, die Wucht des Aufpralls trieb ihr die Luft aus der Lunge. Wasser schloss sich über ihrem Kopf, und Bläschen strömten aus ihrem Mund, während sie um sich trat und schlug. Ihre Stiefel trafen auf Grund, und sie ging in die Knie, um sich abzustoßen …
Nur um festzustellen, dass ihr das Wasser lediglich bis zur Taille reichte.
»Verdammte Hölle«, knurrte Lara und watete zum Ufer. Aber bevor sie es erreichte, erregte ein Zischen ihre Aufmerksamkeit.
Lara erstarrte und suchte ihre Umgebung sorgfältig genau ab, bis sie schließlich eine braun-schwarze Schlange entdeckte, die sich durchs Unterholz wand. Sie war länger, als Lara groß war, und befand sich zwischen ihr und der Felswand. Zaghaft trat Lara einen Schritt zurück ins Wasser, aber ihre Bewegung schien die Schlange nur noch mehr zu provozieren. Eli hatte sie also nicht umsonst gewarnt.
Es kostete sie erhebliche Selbstbeherrschung, nicht nach einem der Messer an ihrem Gürtel zu greifen. Plötzlich fingen ihre Ohren das Scharren von Stiefeln auf und einen leise gemurmelten Fluch. Wurfmesser waren Laras Spezialität, aber ihr Bewacher stand oben auf der Klippe, und auf keinen Fall wollte sie jetzt eine ihrer Waffen benutzen.
Die Schlange bäumte sich auf, sodass ihr Kopf mit Lara auf Augenhöhe war. Sie zischte. Zornig. Bereit zum Angriff. Lara atmete ruhig ein und aus. Komm schon, wer immer du bist, brummte sie bei sich. Kümmere dich endlich um diese Kreatur.
Die Schlange schwankte von einer Seite zur anderen, und langsam lagen Laras Nerven blank. Ihre Hand schloss sich um ihr Messer, während sie mit dem Finger die Hülle um den Griff herum öffnete.
Die Schlange schoss vor.
Ein Bogen sirrte, und kurz darauf nagelte ein schwarz gefiederter Pfeil den Kopf des Geschöpfs auf den Boden. Die Schlange zuckte heftig hin und her, bis sie still dalag. Lara drehte sich um.
Aren kniete am Rand des Wasserfalls, den sie mit so wenig Anmut heruntergestürzt war, einen Bogen in der Hand, und über seiner Schulter ragte ein Köcher voller Pfeile hervor. Er richtete sich auf. »Wir haben in Ithicana ein kleines Schlangenproblem. Auf dieser Insel ist es nicht gar so schlimm, aber« – er sprang über den Felsvorsprung und landete fast lautlos neben ihr – »wenn sie die Zähne in Euch vergraben hätte, hättet Ihr nicht mehr lange in dieser Welt verweilt.«
Lara betrachtete die tote Schlange, deren Leib sich immer noch wand.
Unwillkürlich schrak sie zusammen, weshalb sie rasch versuchte, die Bewegung mit einer Frage zu verschleiern. »Hat sie sich bedrängt gefühlt, oder war sie auf Beute aus?«
»Vermutlich beides.« Er ging in die Hocke und zog den Pfeil aus dem Schädel des Tieres. Dann wischte er Blut und Schuppenbröckchen von der Pfeilspitze, die im Gegensatz zu den Stachelspitzen mit Widerhaken, die die Maridriner bevorzugten, dreikantig war. Schließlich richtete er den Blick seiner dunklen Augen auf Lara. »Ihr solltet eigentlich im Haus bleiben.«
Sie öffnete gerade den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass niemand ihr eine derartige Anweisung gegeben hatte, als er hinzufügte: »Stellt Euch nicht dumm. Ihr habt gewusst, was Clara gemeint hat.«
Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange. »Ich lasse mich nicht gern gefangen halten.«
Er schnaubte, dann stieß er den jetzt sauberen Pfeil zurück in seinen Köcher. »Ich hätte gedacht, dass Ihr daran gewöhnt seid.«
»Ich bin daran gewöhnt, ja. Aber das bedeutet nicht, dass es mir gefallen muss.«
»Ihr wart zu Eurer eigenen Sicherheit auf diesem Wüstengelände eingeschlossen. Betrachtet meine Beweggründe, Euch hier festzuhalten, als genau das Gleiche. Ithicana ist gefährlich. Zum einen ist die ganze Insel mit Fallen übersät. Und zweitens werdet Ihr keine zwei Schritte weit kommen, ohne irgendeiner Kreatur zu begegnen, die Euch ins Grab bringen kann. Und drittens hat eine verhätschelte kleine Prinzessin, wie Ihr es seid, nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich selbst aufpassen soll.«
Lara knirschte mit den Zähnen. Es kostete sie jede Unze ihrer Selbstbeherrschung, ihm nicht zu sagen, wie sehr er sich in diesem Punkt irrte.
»Nachdem das geklärt ist: Ihr seid weiter gekommen, als ich erwartet hatte«, bemerkte Aren und ließ den Blick über ihren Körper wandern. Ihr war bewusst, dass ihre tropfnassen Kleider an ihrer Haut klebten. »Womit haben sie Euch und Eure Schwestern auf diesem Gelände beschäftigt? Runden drehen und Sand schaufeln?«
Es war eine unvermeidliche Frage. Obwohl sie von zarter Statur war, hatten endlose Stunden des Trainierens ihr kräftige Muskeln eingetragen – ihr Körper glich nicht dem der meisten maridrinischen Edelfrauen. »Das Leben in der Wüste ist hart. Und mein Vater wollte mich auf die … Herausforderungen eines Lebens in Ithicana vorbereiten.«
»Ah.« Er lächelte. »Was für ein Pech, dass er Euch nicht auf die Tiere hier vorbereitet hat.« Er strich blitzschnell die Spitze seines Bogens über Laras Schulter, und aus dem Augenwinkel nahm sie einen schwarzen Schatten wahr, der durch die Luft segelte. Eine Spinne von der Größe ihrer Handfläche landete im Dreck, bevor sie in die Dunkelheit des Unterholzes davonhuschte. Lara beobachtete das Geschöpf interessiert und fragte sich gleichzeitig, ob es giftig war. »Nicht schlimmer als die Skorpione in der Roten Wüste.«
»Mag sein. Aber ich habe den Verdacht, dass die Rote Wüste nicht übersät ist von diesen Kreaturen hier.« Er hob einen Stein hoch und schleuderte ihn einige Schritte weit nach links.
Es folgte ein lautes Krachen, und ein mit hölzernen Dornen bedecktes Brett schnellte vom Boden hoch. Jeder, der das Brett aktivierte, würde anschließend von der Taille abwärts ein halbes Dutzend Löcher im Leib haben. Sie hatte zwar einige Schritte hinter ihnen den Tau an dem Draht bemerkt, aber um ehrlich zu sein, im Dunkeln hätte dieses Ding sie eiskalt erwischt. »Ihr habt gewonnen«, entgegnete sie auf eine Art und Weise, die andeutete, dass er das nicht wirklich getan hatte. »Wollen wir weitergehen?«
Statt mit einem schlagfertigen Witz zu antworten, trat Aren näher und schloss eine Hand um ihr Handgelenk. Lara hätte zurückweichen sollen, aber stattdessen erstarrte sie und dachte an das Gefühl dieser Hand auf ihrem nackten Körper, an das sanfte Streicheln auf ihrem Oberschenkel.
Sie machte Anstalten, sich von ihm zu lösen, aber er drehte ihren Arm um und betrachtete stirnrunzelnd die Schnittwunde an ihrem Ellbogen. Einen Moment später griff er in den Beutel an seinem Gürtel, holte eine kleine Dose mit Salbe und einen zusammengerollten Verband heraus und begann, mit geübten Händen die Verletzung zu versorgen. Die Muskeln in seinen Unterarmen dehnten sich unter dem Stahl und dem Leder der Armschienen, die er sich umgeschnallt hatte. Aus dieser Nähe betrachtet, wurde Lara auf eine ganz neue Art bewusst, wie viel größer er war als sie selbst. Er überragte sie um Haupteslänge und wog locker doppelt so viel wie sie. Und alles davon waren sehnige Muskeln.
Aber Erik, ihr Waffenmeister, war genauso ein gewaltiger Mann gewesen, und er hatte Lara und ihren Schwestern beigebracht, gegen Kämpfer anzutreten, die größer und stärker waren. Während Aren ihren Arm verband, stellte sie sich vor, wo sie ihn angreifen würde. In der Wölbung seines Fußes oder seiner Kniekehle. Ein Messer, um seine Eingeweide aufzuschlitzen. Ein weiteres in die Kehle, bevor er auch nur eine Chance hatte, sie zu packen.
Er verknotete den Verband. »Ich habe bei diesem Geschäft mit Eurem Vater eine Menge aufgegeben, und alles, was ich als Gegenleistung bekommen habe, abgesehen von dem Versprechen auf fortgesetzten Frieden, wart Ihr. Also werdet Ihr mir verzeihen müssen, dass ich Euch nicht innerhalb weniger Tage nach Eurer Ankunft hier tot sehen möchte.«
»Und doch wart Ihr offensichtlich damit einverstanden, mich durch Euren gefährlichen Dschungel wandern zu lassen.«
»Ich wollte wissen, wo Ihr hingeht.« Aren bedeutete ihr, ihm zu folgen, dann wanderte er durch die toten Blätter auf dem Boden des Dschungels, wobei er die glitzernde Machete, die er in einer Hand hielt, äußerst sparsam einsetzte. »Habt Ihr versucht, zu fliehen?«
»Wohin denn?« Sie zwang sich, seinen Arm zu akzeptieren, als er ihr über einen umgestürzten Baum half. »Mein Vater würde mich, wenn ich nach Maridrina zurückkehrte, töten lassen, weil er meine Rückkehr als Schande empfände. Und ich besitze keinerlei Talente, die mir ermöglichen würden, auf mich allein gestellt anderswo zu überleben. Ob ich will oder nicht, Ithicana ist der Ort, an dem ich bleiben muss.«
Er schmunzelte. »Zumindest seid Ihr ehrlich.«
Lara unterdrückte ein Lachen. Sie war vieles, aber definitiv nicht ehrlich.
»Was habt Ihr denn hier draußen gemacht?«
Spar dir die Lügen für Gelegenheiten auf, bei denen sie notwendig sind, ermahnte sie sich. »Ich wollte die Brücke sehen.«
Aren blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um, um ihr einen scharfen Blick zuzuwerfen. »Warum?«
Sie hielt seiner Musterung ohne einen Wimpernschlag stand. »Ich wollte das Bauwerk sehen, das das Recht auf meinen Körper wert ist. Auf meine Loyalität. Mein Leben.«
Er prallte zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt. »Nur Ihr habt das Recht, diese Dinge zu geben, nicht Euer Vater.«
Das war nicht das, was sie von ihm zu hören erwartet hatte. Aber statt ihre Furcht vor diesem Aspekt ihrer Mission zu lindern, ließen seine Worte ihre Haut heiß brennen von einem Zorn, den sie nicht recht hätte erklären können, daher nickte sie nur knapp. »Das sagt Ihr.«
Aren schlug mit seiner Machete eine Ranke beiseite und ging einen steilen Hang hinauf, ohne darauf zu warten, ob sie ihm folgte. »Ihr wart übrigens in der falschen Richtung unterwegs. Jetzt versucht, Schritt zu halten. Es gibt immer nur ein kleines Zeitfenster, in dem Ihr die Brücke durch den Nebel sehen könnt.«
Sie kletterten weiter den Hang hinauf und benutzten dabei größtenteils einen schmalen Pfad. Die ganze Zeit über sprachen sie kein Wort miteinander. Es gab nichts zu sehen als endlosen Dschungel. Lara glaubte langsam, dass Aren nur mit ihr spielte, als er eine Lichtung mit einem steinernen Turm darauf betrat.
Lara wandte das Gesicht himmelwärts und ließ den endlosen Regen den Schweiß von ihren Wangen spülen, während sie beobachtete, wie die Wolken von Winden bewegt wurden, die den Baldachin aus Bäumen nicht durchdrangen.
Aren deutete auf den Turm. »Der Riss in der Wolkendecke wird zu dieser Jahreszeit nur kurz sein.«
Im Turm roch es nach Erde und Moder, und die steinerne Treppe, die sich nach oben wand, war in der Mitte von ungezählten Stiefeln abgetreten. Sie kamen oben an – in einem kleinen, leeren Raum, der nach allen Seiten offen war, und so weit das Auge reichte, war nichts als nebelverhangener Dschungel zu sehen. Der Aussichtspunkt befand sich auf dem Gipfel eines kleinen Berges, begriff sie plötzlich, doch sie konnte nur ganz schwach das graue Meer unter sich ausmachen. Einen Strand gab es nicht. Auch keine Mole. Und das Wichtigste, keine verdammte Brücke.
»Wo ist sie?«
»Geduld.« Aren stützte die Ellbogen auf die steinerne Mauer, die den Aussichtspunkt einrahmte.
Eher neugierig als verärgert trat Lara neben ihn und betrachtete die Bäume, die Wolken und das Meer, aber eigentlich galt ihre Aufmerksamkeit dem Mann an ihrer Seite. Er roch nach feuchtem Leder und Stahl, nach erdigen und grünen Dingen, aber darunter fing ihre Nase auch den Geruch von Seife und etwas auf, das sehr deutlich und keineswegs unangenehm männlich war. Plötzlich fegte ein Windstoß durch den Turm und vertrieb alle Düfte bis auf die von Himmel und Regen.
Die Wolken teilten sich mit unglaublicher Schnelligkeit, und die Sonne brannte mit einer Intensität auf sie herab, die sie seit dem Verlassen der Wüste nicht mehr verspürt hatte. Die Schwaden aus verblasstem Grün verwandelten sich in einen Smaragdton, der so stark leuchtete, dass es ihr fast in den Augen wehtat. Der Nebel zog vom Wind gejagt davon und hinterließ einen saphirfarbenen Himmel. Verschwunden war die mysteriöse Insel, und was an ihrer Stelle übrig blieb, waren kräftige Farben und Licht. Aber wie gründlich sie auch suchte, sie konnte nichts entdecken, das auch nur ansatzweise einer Brücke ähnelte.
Ein erheitertes Lachen drang an ihre Ohren, im gleichen Moment, in dem Fingerspitzen ihr Kinn berührten und sanft ihren Kopf nach oben drückten. »Schaut in die Ferne«, sagte Aren, und Lara richtete den Blick auf das jetzt türkisfarbene Meer.
Was sie sah, raubte ihr den Atem.