12
Lara

Die Wochen nach der Versenkung des amaridischen Kriegsschiffes und dem Gemetzel am Strand verliefen ohne weiteren Zwischenfall. Aren stand frühmorgens auf und kehrte erst spätabends zurück, aber er ließ sie nicht unbewacht allein. Die Diener, die Laras ungenehmigte Erkundung der Insel nicht vergessen hatten, behielten sie genau im Auge, und Clara schien immer in der Nähe zu sein, um Staub zu wischen oder den Boden zu fegen, und der Duft von Möbelpolitur biss Lara ständig in die Nase. Allerdings trugen die unablässig aufeinanderfolgenden Stürme, die über die Insel hinwegzogen, wesentlich mehr dazu bei, Lara im Haus festzuhalten, als die Diener und Wachen. Grimmige Winde, Gewitter und schier endlose Sturzfluten von Regen stellten sich inzwischen regelmäßig ein. Moryn, die Köchin, erklärte ihr, dass dies die letzten Ächzer der zu Ende gehenden Jahreszeit seien und nichts im Vergleich zu den Taifunen, die sie miterleben würde, wenn die nächste begann.

Obwohl Lara darauf brannte, noch einen Blick auf die Öffnung im Brückenpfeiler zu werfen, tat sie bewusst nichts, was Interesse auf sich lenken würde, und sie nutzte die Zeit, um das Haus diskret nach Hinweisen abzusuchen, die bei der Planung von Maridrinas Eroberung Ithicanas hilfreich sein könnten. Ihr primäres Ziel waren Landkarten, und genau die fand sie nicht. Serin hatte ungezählte Dokumente, in denen die Inseln, aus denen das Königreich bestand, bis ins kleinste Detail eingezeichnet waren, und auf diesen Dokumenten gab es immer einen langen Strich, der die Brücke darstellen sollte, aber nie weitere Informationen dazu. Lara hatte es jetzt mit eigenen Augen gesehen – das Königreich war fast unmöglich zu infiltrieren, was dem Mangel an Stränden sowie der Verteidigungsmaßnahmen im Wasser geschuldet war, die die Ithicaner anscheinend nach Belieben bewegen und verändern konnten.

Das andere Mysterium war die Frage, wo die Inselbewohner selbst siedelten. Vom Meer aus hatte man niemals entsprechend dimensionierte Ortschaften entdeckt, und bei erfolgreichen Landungen und Überfällen war es immer nur um kleine Dörfer gegangen. Das hatte Serin und ihren Vater zu der Annahme geführt, die Einwohner des Inselreichs seien gering an Zahl, gewalttätig, unzivilisiert und fixiert auf grundlegende Bedürfnisse sowie die grimmige Verteidigung ihrer Brücke. Aber obwohl Lara selbst erst seit kurzer Zeit in Ithicana war, bezweifelte sie inzwischen diese Einschätzung.

Sie dachte daran, was Aren ihr auf dem Turm gesagt hatte. »Die Brücke … Für Ithicana bedeutet sie alles. Und Ithicana bedeutet mir alles.«

In seiner Stimme lag echte Aufrichtigkeit. Es gab hier Zivilisten. Zivilisten, von denen Aren glaubte, sie bräuchten Schutz, und Laras gesamte Ausbildung sagte ihr, dass diese Zivilisten Ithicanas größte Schwäche sein würden. Sie musste nur herausfinden, wo sie waren und wie sie dieses Wissen ausbeuten konnte. Um es dann an die Maridriner weiterzugeben.

Sie hatte ihrem Vater bereits einen ersten Brief geschrieben, ein Schreiben ohne jedweden Code, sorgfältig verfasst, um sicherzustellen, dass es den Ithicanern keinen Grund lieferte, es zurückzuhalten. Ein Test, um herauszufinden, ob Aren ihr erlauben würde, mit ihrem Vater zu korrespondieren, bevor sie sich an die riskantere Aufgabe wagte, wichtige Informationen an den Codebrechern in Südwacht vorbeizuschmuggeln.

Ein Beweis dafür, dass Aren zu seinem Wort gestanden hatte, erhielt sie in Form einer Antwort von ihrem Vater. Und überbracht wurde ihr der Brief von niemand Geringerem als König Aren persönlich.

Sie hatte ihn durchs Fenster nach Hause kommen sehen, tropfnass vom jüngsten Regenguss, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was er tagsüber tat. Meistens kehrte er nass, schmutzig und nach Schweiß riechend zurück, sein Gesicht überschattet von Erschöpfung. Ein Teil von ihr hatte sich ihm nähern wollen – hatte Angst gehabt, dass ihre Strategie, sein Vertrauen zu gewinnen, falsch war und dass sie ihn dadurch endgültig vergraulte. Aber ein anderer Teil von ihr hatte ihr gesagt, dass es die richtige Entscheidung war, ihn dazu zu zwingen, zu ihr zu kommen.

»Das hier ist heute für Euch in Südwacht abgegeben worden.« Er warf ihr die zusammengefalteten Blätter auf den Schoß. Er hatte gebadet und sich trockene Kleider angezogen, aber die Erschöpfung war geblieben.

»Ich nehme an, Ihr habt das Schreiben gelesen.« Sie faltete den Brief auseinander und bemerkte Serins krakelige Imitation der Schrift ihres Vaters. Ein ganz schwacher Stich der Enttäuschung durchzuckte sie. Natürlich war er es gewesen, der den Brief geschrieben hatte. Er kannte die Codes, ihr Vater nicht. Sie legte den Brief beiseite, denn sie wollte ihn noch nicht lesen.

»Ihr wisst, dass ich das getan habe. Und um Euch die Mühe zu ersparen, meine Codebrecher haben den gotterbärmlichen Code dankenswerterweise übersetzt. Der Klartext steht auf der Rückseite. Für dieses Mal werde ich den Betrug durchgehen lassen, weil er nicht Euer Werk war, aber das ist Eure letzte Warnung.«

So viel zu Marylyns undurchschaubarem Code. Sie blätterte die Seite um und las laut vor: »Erleichtert, dass du wohlauf bist, liebste Tochter. Schicke eine Nachricht, wenn du schlecht behandelt wirst, und wir werden Vergeltung üben.«

Aren schnaubte.

»Was habt Ihr erwartet? Dass er mich mit Euch vermählen und sich nicht darum scheren würde, was aus mir wird?«

»Mehr oder weniger. Er hat bekommen, was er wollte.«

»Nun, jetzt wisst Ihr es besser.« Und jetzt wusste sie, dass es eine genauso große Herausforderung sein würde, Informationen aus Ithicana hinauszuschmuggeln, wie es vorauszusehen war. »Vielleicht schickt Ihr ihm ja selbst einen Brief und versichert ihm Eure guten Absichten.«

»Ich habe keine Zeit, eine oberflächliche Korrespondenz mit Eurem Vater zu führen, oder« – er griff nach dem Brief – »mit der Elster, der Handschrift nach zu urteilen.«

Verdammte Hölle, die Ithicaner waren gut. Lara wandte sich ab. »Eure Zeit ist offensichtlich kostbar. Bitte, fahrt fort mit dem, was immer Ihr tun müsst.«

Er machte Anstalten, sich umzudrehen, doch dann zögerte er, und aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sein Blick an einem Kartenspiel hängen blieb, das sie auf dem Tisch liegen gelassen hatte. »Ihr spielt?«

Eine Mischung aus Nervosität und Aufregung erfüllte sie, das gleiche Gefühl, das sie erfasst hatte, bevor sie zu einem Kampf in den Trainingshof getreten war. Das hier war zwar eine andere Art von Schlacht, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht gewinnen konnte.

»Natürlich spiele ich.«

Er zögerte erneut, dann fragte er: »Steht Euch der Sinn nach einem Spiel?«

Achselzuckend griff sie nach dem Deck und mischte gekonnt die Karten, die in ihren Händen ein scharfes Klatschen produzierten. »Habt Ihr wirklich den Wunsch, mit mir zu spielen, Euer Majestät? Ich muss Euch warnen, ich bin ziemlich gut.«

»Eins Eurer zahlreichen Talente?«

Laras Herz setzte einen Schlag aus, und sie fragte sich, ob ihm von ihrer intimen Begegnung mehr im Gedächtnis geblieben war, als sie angenommen hatte. Doch er beäugte sie nur für einen Moment, dann nahm er ihr gegenüber Platz und legte einen Fuß auf sein Knie. »Habt Ihr eigene Münzen, die Ihr setzen könnt, oder geht der Einsatz hier auf beiden Seiten aus meiner Kasse?«

Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln. »Wählt einen anderen Einsatz aus.«

»Wie wäre es mit Wahrheiten?«

Lara zog eine Braue hoch. »Das hier ist ein Kinderspiel. Was werden wir als Nächstes tun? Einander dazu herausfordern, nackt durchs Haus zu rennen?«

Denn Nacktheit passte eher zu dem, was sie von ihm als Einsatz erwartet hätte. Die Karten waren ein Verführungstrick, den Mezat, die Meisterin des Schlafzimmers, den Schwestern beigebracht hatte. Alle Männer, hatte sie ihnen erklärt, seien glücklich, ihre eigene Kleidung zu setzen um einer Chance willen, nackte Brüste zu sehen. Mit Ausnahme, wie sich herausstellte, des Königs von Ithicana.

»Die nackten Sprints können wir uns für die Sturmzeit aufsparen. Es ist viel aufregender, wenn einem Blitze einheizen und Beine machen.«

Kopfschüttelnd mischte Lara erneut die Karten. »Poker?« Am besten, sie wählte ein Spiel, in dem sie nicht verlieren würde.

»Wie wäre es mit Trumpf?«

»Dieses Spiel verlangt mehr Glück als Geschick.«

»Ich weiß.« Die Art, wie er das sagte, glich einer Herausforderung. Und was auch immer daraus werden mochte, sie würde einer Kampfansage niemals aus dem Weg gehen, daher hob sie lediglich die Schultern. »Wie Ihr wollt. Bis zur Neun?«

»Langweilig. Wie wäre es mit einer Wahrheit für jeden Trumpf?«

Ihre Gedanken überschlugen sich auf der Suche nach Fragen, die sie stellen könnte. Nach Fragen, die er vielleicht stellen könnte, und den Antworten, die sie ihm geben würde.

Aren griff nach einer Flasche mit bernsteinfarbenem Schnaps, die auf dem Ecktisch stand, dann nahm er einen Schluck und stellte die Flasche zwischen sie beide. »Damit es mehr Spaß macht.«

Sie zog eine Braue hoch. »Auf der Truhe stehen Gläser, wisst Ihr?«

»Auf diese Weise hat Eli weniger Arbeit.«

Sie verdrehte die Augen und nahm ebenfalls einen Schluck. Der Branntwein, wie sie erkannte, war wie Feuer in ihrer Kehle. Sie teilte die Karten aus und fluchte leise, als er den Trumpf bekam. »Nun?«

Aren griff nach der Flasche und betrachtete Lara nachdenklich, sodass ihr Herz zu hämmern begann. Es gab Tausende Dinge, die er fragen konnte, Dinge, auf die sie keine Antwort hatte. Für die sie hätte lügen müssen, und diese Lüge musste sie dann für die Dauer ihres Aufenthalts hier aufrechterhalten. Und je mehr Lügen sie in der Balance halten musste, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden.

»Was ist« – er trank einen Schluck – »Eure Lieblingsfarbe?«

Lara blinzelte. Ihr Herz stotterte und beruhigte sich erst, als sie den Blick von seinen haselnussbraunen Augen abwandte. Hitze stieg ihr in die Wangen. »Grün.«

»Hervorragend. Davon gibt es hier jede Menge, daher brauche ich mir Eure Gunst nicht mit Smaragden zu erkaufen.«

Mit einem amüsierten Schnauben überreichte Lara ihm die Karten, die er schnell mischte und dann ausgab.

Sie gewann die nächste Runde.

»Ich werde Euch keine unsinnigen Fragen stellen«, warnte sie ihn und nahm ihm die Flasche ab. Ihre Fragen mussten strategisch sein – nicht dazu bestimmt, die Geheimnisse der Brücke zu offenbaren, sondern den Mann zu verstehen, der diese Geheimnisse so sorgsam hütete. »Hat es Euch Vergnügen bereitet, diese Plünderer zu töten? Zuzusehen, wie sie starben?«

Aren zuckte zusammen. »Dann seid Ihr deshalb also immer noch zornig?«

»Zwei Wochen sind nicht genug Zeit für mich, um das kaltblütige Abschlachten einer Schiffsladung Männer zu vergessen.«

»Nein, wohl kaum.« Aren lehnte sich auf dem Stuhl zurück, den Blick ins Leere gerichtet. »Vergnügen.« Er wiederholte das Wort, als koste er es, als probiere er es aus, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, kein Vergnügen. Aber es hat mich mit einer gewissen Befriedigung erfüllt, sie sterben zu sehen.«

Lara sagte nichts, und ihr Schweigen wurde einen Moment später belohnt.

»Ich diene Mittwacht seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Befehlige es seit meinem neunzehnten. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre habe ich den Überblick über die Anzahl der Kämpfe verloren, die ich gegen Plünderer ausgefochten habe. Aber ich erinnere mich an alle dreizehn Male, als wir zu spät kamen. Als wir unsere Leute erreicht haben, nachdem die Plünderer über sie hergefallen waren. Ganze Familien waren abgeschlachtet worden. Und wofür? Fische? Diese Menschen haben nichts, das es wert wäre, es zu stehlen. Also stehlen sie stattdessen ihr Leben.«

Lara drückte die Hände auf ihren Rock, und Schweiß durchnässte die Seide. »Warum tun sie es dann?«

»Sie denken, sie können durch diese Männer und Frauen Zugänge zur Brücke finden. Aber die Zivilisten benutzen die Brücke nicht. Sie kennen ihre Geheimnisse nicht. Man sollte meinen, dass unsere Feinde das nach all diesen Jahren begriffen hätten. Vielleicht haben sie es sogar begriffen.« Seine Züge verzerrten sich. »Vielleicht töten sie einfach zum Vergnügen.«

Seine Finger streiften ihre, als er ihr das Kartendeck reichte, und sie fühlten sich warm an auf ihrer eisigen Haut. Aren gewann die nächste Runde.

»Da wir schwierige Fragen stellen …« Er tippte sich mit einem Finger ans Kinn. »Was ist Eure schlimmste Erinnerung?«

Sie hatte Hunderte schlimmste Erinnerungen. Tausende. Wie sie ihre Schwestern dem Feuer und dem Sand überlassen hatte. Erinnerungen an Erik, den Mann, der wie ein Vater für sie gewesen war und der sich vor ihren Augen das Leben genommen hatte, weil er glaubte, sie sei dazu getrieben worden, ihre eigenen Schwestern zu ermorden. Erinnerungen daran, wie sie wochenlang in einer Grube sich selbst überlassen worden war. Wie sie gehungert hatte. Wie sie verprügelt worden war. Wie sie um ihr Leben kämpfen musste, während ihre Meister ihr sagten, sie täten all das nur, damit sie stark würde. Um sie zu lehren, Unbilden zu ertragen. »Wir tun das, um Euch zu beschützen«, hatten sie ihr und ihren Schwestern erklärt. »Wenn Ihr jemanden hassen wollt, jemandem die Schuld geben wollt, schaut nach Ithicana. Auf seinen König. Wenn sie nicht wären, wenn er nicht wäre, wäre nichts von alledem notwendig. Zwingt sie in die Knie, und kein maridrinisches Mädchen wird je wieder so leiden müssen.«

Die Erinnerungen lösten etwas tief in ihr aus, eine irrationale Flut von Wut und Zorn und Furcht. Einen Hass auf diesen Ort. Einen noch tieferen Hass auf den Mann, der ihr gegenübersaß.

Langsam drängte Lara die Gefühle zurück und vergrub sie tief in ihrem Inneren, aber als sie den Kopf hob, erkannte sie, dass Aren alles auf ihrem Gesicht gesehen hatte.

Sag ihm etwas Wahres.

»Ich bin im Harem in Vencia auf die Welt gekommen, wo ich inmitten all der anderen Ehefrauen und jüngeren Kinder mit meiner Mutter gelebt habe. Nach der Unterzeichnung des Bündnisvertrages hat mein Vater alle seine Töchter in passendem Alter auf dieses Wüstengelände bringen lassen, zu ihrem – also unserem – Schutz vor Valcotta und Amarid und allen anderen, die danach trachteten, das Bündnis zu zerstören. Ich war fünf Jahre alt.« Sie schluckte, die Bilder in ihrer Erinnerung waren verschwommen, aber die Geräusche und Gerüche waren so klar, als stammten sie von gestern. »Es gab keine Vorwarnung. Ich habe gespielt, als die Soldaten mich gepackt haben, und ich erinnere mich daran, dass ich geschrien und um mich getreten habe, als sie mich weggezerrt haben. Sie haben schrecklich gerochen – nach Schweiß und Wein. Ich erinnere mich, dass weitere Männer meine Mutter auf den Boden gepresst haben. Sie hat sich gewehrt und versucht, zu mir zu gelangen. Hat versucht, sie daran zu hindern, mich ihr wegzunehmen.« Laras Augen brannten, und sie vertrieb die Tränen mit einem Schluck Branntwein. Und dann noch einem. »Ich habe sie nie wiedergesehen.«

»Ich habe Euren Vater schon vorher nicht gemocht«, erwiderte Aren leise. »Jetzt mag ich ihn noch weniger.«

»Das Schlimmste ist …« Ihre Stimme verlor sich, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Das Schlimmste ist, dass ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern kann. Wenn ich ihr auf einer Straße begegnen würde, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt wüsste, dass sie es ist.«

»Ihr würdet es wissen.«

Lara biss sich in die Innenseiten ihrer Wange. Sie hasste es, dass ausgerechnet er etwas sagte, das sie tröstete. Er ist der Grund, warum man dich deiner Mutter weggenommen hat. Es ist seine Schuld. Er ist der Feind. Der Feind. Der Feind.

Jemand klopfte laut an die Tür, und Lara zuckte zusammen, als sie durch die Störung aus ihren Gedanken gerissen wurde.

»Herein«, rief Aren, und die Tür öffnete sich und zeigte eine wunderschöne, junge Frau, die über und über behangen war mit Waffen. Sie hatte sich das Haar an den Seiten des Schädels abrasiert und den Rest zu einem langen schwarzen Pferdeschwanz auf dem Scheitel zusammengebunden – eine Frisur, die die Kriegerinnen hier zu bevorzugen schienen –, und ihre Augen waren von einem blassen Grau. Sie war einen halben Kopf größer als Lara, und die Haut an ihren muskulösen Armen war überzogen von zahlreichen alten Narben.

»Das ist Lia. Sie gehört zu meiner Garde. Lia, das ist Lara. Sie ist …«

»Die Königin.« Die junge Frau neigte den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Euer Gnaden.«

Lara legte ihrerseits den Kopf schief und musterte die Kriegerin neugierig. Ihr Vater hatte Lara und ihren Schwestern erzählt, Ithicanas Kriegerinnen würden unterschätzt werden, weil sie Frauen waren, aber die Frauen hier schienen genauso angesehen zu sein wie jeder Mann.

Lia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den König und reichte ihm ein gefaltetes Stück Papier. »Die Sturmsaison ist für beendet erklärt worden.«

»Ich habe die Hornsignale gehört. Zwei Wochen früher als im vergangenen Jahr.«

Lara griff nach ihrem eigenen Brief und hoffte, sie würden freier sprechen, wenn sie glaubten, sie sei abgelenkt. Serin hatte ihr etwas über ihren ältesten Bruder geschrieben, Rask, der als Thronfolger galt. Er hatte anscheinend erfolgreich in irgendeinem Turnier gekämpft, und die Elster beschrieb die Ereignisse mit lebhaften Details. Nicht dass es sie scherte, da sie nie etwas mit ihrem Bruder zu tun gehabt hatte. Der ithicanische Codebrecher hatte die Buchstaben eingekreist, die den Code formten, aber es war nicht Marylyns Code, wie Lara nun bemerkte. Als sie das Dokument mit einem Blick für den Code, den ihre älteste Schwester erschaffen hatte, noch einmal durchlas, musste sie sich ein Lächeln verkneifen. Anscheinend waren die Ithicaner also doch nicht unfehlbar.

Das unterdrückte Lächeln verging ihr allerdings, als sie die wahre Nachricht begriff. Maridrina erhielt nur verfaulte Ware. Schimmliges Getreide. Krankes Vieh. Valcottanische Schiffe dagegen liefen mit Frachträumen voller erstklassiger Waren aus.

Serin hatte ihr die neuen Handelsbedingungen erklärt, die als Teil des Bündnisvertrages vereinbart worden waren. Die Aufhebung von Steuern auf Waren, die Maridrina in Nordwacht erwarb und die dann ohne Zölle nach Südwacht weitertransportiert wurden. Oberflächlich betrachtet, schien das sehr vorteilhaft für Maridrina und ein großes Zugeständnis für Ithicana zu sein. Es sei denn, man bedachte, dass alle Risiken für eine Beschädigung der Ware auf dem Transportweg auf Maridrinas Schultern lasteten. Wenn das Getreide, das in Nordwacht gekauft wurde, verrottete, bevor es Südwacht erreichte, war es Maridrinas Verlust und nicht Ithicanas Problem. Und wen wunderte es, dass Maridrina die schlechtesten Waren empfing, wenn Ithicana den Transport organisierte. Die Seiten raschelten leise in Laras Händen, und sie riss den Blick von den Worten los, als Aren sagte: »Ich nehme an, um ihre Bitte kommen wir nicht herum.«

Lia stimmte zu, dann neigte sie den Kopf. »Ich überlasse es Euch.«

Lara beobachtete, wie die andere Frau davonging, und mühte sich, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen. Serins Nachricht überraschte sie nicht, aber es machte sie trotzdem zornig, zu wissen, dass der Mann, der ihr gelassen gegenübersaß, bewusst Entscheidungen traf, die ihrem Volk schadeten.

Karten klatschten auf den Tisch. Ein weiteres Blatt. Eine weitere Wahrheit.

Lara nahm sie in die Hand und beäugte ihr Blatt, ihre Karten waren hoch, und sie sollte sich wohl eine Frage ausdenken, die ihr etwas einbrachte. Aber als sie gewann, war die Frage, die herauskam, eine ganz andere. »Wie sind Eure Eltern gestorben?«

Aren versteifte sich, dann fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. Er beugte sich vor, entriss Lara die Flasche und leerte sie bis auf den letzten Tropfen.

Lara wartete. Bei ihrer gescheiterten Suche nach Landkarten hatte sie andere Dinge gefunden. Persönliche Dinge. Zeichnungen des früheren Königspaares. Die Ähnlichkeit zwischen Aren und Ahnna und ihrer wunderschönen Mutter war auffällig. Sie hatte außerdem eine Schachtel voller Schätze gefunden, wie nur eine Mutter sie aufbewahren würde. Babyzähne in einem Glas. Porträts. Notizen in Kinderschrift. Es waren auch grobe, kleine Schnitzereien dabei gewesen, in deren Boden Arens Name eingeritzt stand. Eine ganz andere Familie als ihre eigene.

»Sie sind in einem Sturm ertrunken«, antwortete er tonlos. »Oder zumindest ist mein Vater ertrunken. Meine Mutter war wahrscheinlich bereits tot.«

Es steckte mehr hinter dieser Geschichte, aber es war klar, dass er es nicht preisgeben wollte. Und dass ihm die Geduld für dieses grässliche Glücksspiel ausging. Weitere Karten auf dem Tisch. Wieder gewann Lara.

Du hast ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, sagte sie sich. Er hat getrunken. Jetzt ist der Moment gekommen, noch mehr Druck auszuüben.

»Wie ist es auf der Brücke?« Ihr Blick huschte von den Karten zu der leeren Flasche und weiter zu seinen Händen, die auf den Armlehnen seines Stuhls ruhten. Stark. Geschickt. Das Gefühl dieser Hände auf ihrem Körper tanzte erneut über ihre Haut, der Geschmack seiner Lippen kribbelte auf ihren … Hastig schob sie die Erinnerung von sich, während sich ihre Wangen – und andere Teile ihres Körpers – erhitzten.

Sein Blick wurde wieder schärfer, und der Nebel des Branntweins hob sich. »Ihr braucht Euch nicht darum zu kümmern, was die Brücke ist oder nicht ist, da es für Euch niemals einen Grund geben wird, Euch dort aufzuhalten.«

Aren erhob sich. »Meine Großmutter wünscht, Euch kennenzulernen, und sie ist keine Frau, der man eine Bitte abschlägt. Wir werden morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen. Mit einem Boot.« Er beugte sich herunter und stützte die Hände auf die Lehnen ihres Stuhls, sodass die Muskeln in seinen Armen deutlich zu sehen waren. Er drang in ihren persönlichen Raum ein. Versuchte, sie auf dieselbe Weise einzuschüchtern, wie sein verdammtes Königreich alle anderen einschüchterte.

»Lasst mich eines überdeutlich klarstellen, Lara. Ithicana hat die Brücke nicht gehalten, indem es ihre Geheimnisse bei einer Flasche Branntwein preisgegeben hätte, wenn das also Eure Absicht ist, werdet Ihr kreativer werden müssen. Besser noch, erspart uns allen die Mühe und vergesst, dass die Brücke überhaupt existiert.«

Lara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ohne den Blickkontakt auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen. Mit beiden Händen zog sie den Rock ihres Kleides hoch, höher und höher, bis ihre Oberschenkel entblößt waren und seine Aufmerksamkeit sich auf ein anderes Ziel richtete. Sie hob ein Bein und drückte ihm einen nackten Fuß gegen die Brust, während sie beobachtete, wie sein Blick von ihrem Knie zu ihrem Oberschenkel und zu der seidenen Unterwäsche zuckte, die sie unter ihrem Gewand trug.

»Wie wär’s, wenn Ihr Eure Brücke nehmt«, sagte sie honigsüß, »und sie Euch in den Hintern schiebt?« Seine Augen weiteten sich genau in dem Moment, in dem sie das Bein streckte und ihn aus ihrem persönlichen Raum hinausstieß. Dann griff sie nach ihrem Brief und zupfte ihren Rock wieder zurecht. »Wir sehen uns dann bei Sonnenaufgang. Gute Nacht, Euer Gnaden.«

Ein leises Lachen drang an ihre Ohren, aber sie weigerte sich, aufzuschauen, selbst als er sagte: »Gute Nacht, mein Königin«, und den Raum verließ.