Vitex strich immer wieder zwischen Arens Füßen durch und rieb sich an seinen Waden. Er schnurrte und schien nicht aufhören zu wollen, um Aufmerksamkeit zu betteln, obwohl Aren ihn seit mindestens zehn Minuten ignorierte.
Das fast leere Blatt Papier auf dem Schreibtisch verhöhnte den König mit seinen goldenen Rändern, die im Lampenlicht glitzerten. Er hatte gerade einmal die förmlichen Grußworte an König Silas Veliant von Maridrina zu Papier gebracht, darüber hinaus aber keine weitere Silbe. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, Laras Bitte nachzugeben und dem Mann zu versichern, dass seine Tochter wohlauf sei. Aber jetzt, da er die Feder in der Hand hielt und die Tinte ihm bald auf das kostspielige Schreibpapier tropfen würde, war Aren ratlos und wusste nicht, was er schreiben sollte.
Denn – das war der Hauptgrund – Lara war ihm nach wie vor ein Rätsel. Er hatte versucht, bei diesem schrecklichen Kartenspiel mehr über ihre Wesensart herauszufinden, und nachdem er gehört hatte, auf welche Weise sie ihrer Mutter weggenommen worden war, begriff er jedenfalls eines: Falls sie wirklich eine Spionin war, dann bestimmt nicht aus Liebe zu ihrem Vater. Das bedeutete aber nicht, dass sie unschuldig war. Loyalität ließ sich bis zu einem gewissen Maß kaufen, und Silas hatte genügend Mittel zur Verfügung.
Verärgert über das Kreisen seiner Gedanken warf Aren seine Schreibfeder beiseite. Er griff nach dem Kästchen mit Briefpapier und zog sie an der Seite hoch, sodass die schmale Schublade offenbar wurde, die dazu diente, Dokumente vor neugierigen Augen zu verbergen. Dann schob er den Brief an Laras Vater hinein. Er würde ihn vollenden, sobald er mehr darüber wusste, ob Laras Wohlergehen etwas war, das er sicherstellen konnte.
Nachdem er dem Kater einmal kurz den Kopf getätschelt hatte, scheuchte er das Tier zur Tür hinaus und trat dann selbst in den Flur.
Eli polierte Silber, aber als Aren näher kam, schaute er auf. »Auf dem Weg in die Kaserne, Euer Gnaden?«
Es war geradezu schmerzhaft verführerisch, zur Kaserne zu fliehen, wo er mit seinen Soldaten am Feuer sitzen, trinken und richtige Spiele spielen konnte, aber das würde die Frage aufwerfen, warum er seine Nächte nicht bei seiner frischgebackenen Ehefrau verbrachte. »Nur ein Spaziergang zu den Klippen hinunter.«
»Ich werde eine Lampe für Euch brennen lassen, Euer Gnaden.« Der Junge wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Aren verzichtete auf eine Laterne und ging den schmalen Pfad hinab zu einer Stelle, an der ein kahler Felsvorsprung über das Meer hinausragte. Unter ihm krachten Wellen gegen den schwarzen Stein der Klippen. Sie rauschten heran und zogen sich wieder zurück, nur um erneut anzubranden, und das Meer schlug auf Mittwacht ein wie ein unerbittlicher, gnadenloser Hammer. Grimmig und doch irgendwie seltsam friedlich, ein Geräusch, das Arens Sinne einlullte, während er in die Schwärze über dem Meer starrte.
Stöhnend legte er sich hin, und das Wasser, das sich auf den Steinen gesammelt hatte, durchnässte seine Kleider, während er in die Nacht schaute. Der Himmel war ein Flickwerk aus Wolken und Sternen, und es gab nirgendwo ein Licht in, das von dem Funkeln der Sterne ablenkte. Die Leute in Ithicana wussten, wie sie sich zu verhalten hatten, vor allem in der Übergangszeit. In den Wochen im Jahr, in denen die sonst unablässigen Stürme Ithicana nicht länger schützten und sein Königreich deshalb gezwungen war, sich auf Stahl, Geistesgegenwärtigkeit und Geheimhaltung zu verlassen.
Würde sich das jemals ändern? Konnte es sich ändern?
Papier raschelte an seiner Brust. Die Blätter, die in seinem Hemd steckten, hatten ihn heute Abend überhaupt erst dazu getrieben, Lara aufzusuchen. Es waren Todesurteile.
Zwei fünfzehnjährige Mädchen hatten ein Boot gestohlen, anscheinend bei dem Versuch, aus Ithicana zu fliehen. Sie planten, nach Norden zu fahren, nach Harendell, zumindest besagten das die Informationen, die man aus ihren Freunden herausbekommen konnte.
Ihnen galt das Todesurteil. Die Anklage: Hochverrat.
Der Bevölkerung war es verboten, Ithicana zu verlassen. Einzig hoch qualifizierten Spionen wurde dieses Recht zugestanden, und immer mit dem Befehl, dass sie, sollten sie jemals geschnappt werden, durch ihr eigenes Schwert sterben mussten, bevor sie Ithicanas Geheimnisse preisgeben konnten. Nur die Berufssoldaten in seiner Armee kannten alle Zugänge zur Brücke sowie deren Ausgänge, aber es war unmöglich, die Verteidigungsmaßnahmen der Insel vor der Bevölkerung geheim zu halten, und alle wussten von Eranahl. Deshalb wurde jeder Zivilist ausgepeitscht, der bei dem Versuch erwischt wurde, Ithicana zu verlassen. Und alle, denen die Flucht gelang, wurden gejagt.
Und Ithicanas Jäger fingen ihre Beute immer.
Fünfzehn. Aren biss die Zähne zusammen, und Übelkeit stieg in ihm auf. Der Bericht gab keinen Grund dafür an, warum die Mädchen geflohen waren. Das war auch nicht nötig. Mit fünfzehn hatte man sie ihrer ersten Garnison zugeteilt. Es würde ihre erste Kriegstide sein, und sie würden keine andere Wahl haben, als zu kämpfen. Doch statt das tun zu müssen, hatten sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um zu fliehen. Um einen anderen Weg zu finden. Ein anderes Leben.
Und von ihm wurde nun erwartet, dass er wegen ihres Vergehens ihre Hinrichtung anordnete.
Seine Eltern hatten sich selten gestritten, aber dieses Gesetz hatte Geschrei und zugeschlagene Türen nach sich gezogen, und seine Mutter war in solchem Zorn in den Räumen auf und ab gegangen, dass er und Ahnna beide voller Angst gelauscht hatten, ob einer ihrer Anfälle ihr Herz zum Stillstand bringen würde, sodass es nie wieder schlug. Er schloss die Augen und hörte das Echo ihrer Stimme, wie sie seinen Vater anschrie: »Wir leben in einem Käfig, einem selbst gebauten Gefängnis. Warum kannst du das nicht einsehen?«
»Weil es das ist, was unser Volk schützt«, hatte sein Vater dann zurückgeschrien. »Wenn wir in unserer Wachsamkeit nachlassen, ist es um Ithicana geschehen. In ihrem Kampf um den Besitz der Brücke werden sie uns in Fetzen reißen.«
»Das weißt du nicht. Es könnte anders sein, wenn wir versuchen würden, es anders zu machen.«
»Die Plünderer, die jedes Jahr herkommen, sprechen eine eindeutige Sprache, Delia. Das hier ist die Art und Weise, wie wir Ithicana am Leben erhalten.«
Und immer flüsterte seine Mutter: »Am Leben erhalten ist nicht leben. Sie verdienen mehr.«
Aren schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Aber sie zog sich nur ein kleines Stück zurück; sie würde ihn mit Vergnügen weiterhin verfolgen.
Wenn sie den Zivilisten erlaubten, Ithicana nach Belieben zu verlassen und wieder zurückzukehren, war das praktisch eine Garantie, dass jedes einzelne der Geheimnisse des Königreichs durchsickern würde. Das wusste Aren. Aber wenn Ithicana starke Bündnisse mit Harendell und Maridrina hätte, würden die Konsequenzen dieser Lecks viel erträglicher sein. Mit der Marine dieser beiden Königreiche, die die Verteidigung der Brücke unterstützten, hätten einige seiner Leute die Möglichkeit, andere Wege zu verfolgen als den des Schwertes. Sie würden fortgehen und sich weiterbilden können. Würden dieses Wissen mit nach Hause zurückbringen und es mit anderen teilen. Es würde bedeuten, dass er keine Todesurteile für Kinder mehr zu unterzeichnen brauchte.
Aber die älteren Generationen sprachen sich vehement gegen einen solchen Schritt aus. Ein Leben im Krieg hatte sie gegen Ausländer eingenommen und sie mit Hass erfüllt. Und mit Furcht. Er brauchte Lara, damit sie ihm half, das zu ändern, damit sie seine Landsleute dazu brachte, Maridrina als Freunde zu betrachten, nicht als Feinde. Um sie davon zu überzeugen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, ganz gleich, wie groß die Risiken waren.
Denn so, wie es war … So konnte es nicht ewig weitergehen.
Aren nahm die Papiere aus seiner Tasche, zerfetzte sie und ließ sie von der Brise hinaus aufs Meer tragen.
Plötzlich herrschte ein Aufruhr im Gebüsch, und Aren war sofort auf den Füßen und hielt eine Klinge in der Hand, noch bevor Eli zwischen den Sträuchern hervorstürzte. Der junge Diener kam schlitternd und atemlos zum Stehen und sagte: »Es ist die Königin, Euer Gnaden. Sie braucht Eure Hilfe.«