Finger umklammerten ihre Handgelenke und drückten sie auf den Tisch. Stoff bedeckte ihre Augen. Ihre Nase. Ihren Mund.
Wasser ergoss sich über sie, ein endloser Sturzbach.
Nur um zu verebben.
»Warum hat man Euch nach Ithicana geschickt?«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Was ist Eure Aufgabe? Was wollt Ihr?«
»Eine Braut sein. Königin sein«, stieß sie erstickt hervor und kämpfte gegen ihre Fesseln an. »Ich will Frieden.«
»Lügnerin.« Die Stimme erfüllte sie mit Furcht. »Ihr seid eine Spionin.«
»Nein.«
»Gesteht es!«
»Es gibt nichts zu gestehen.«
»Lügnerin!«
Das Wasser strömte herab, und sie ertrank von Neuem. Außerstande, die Wahrheit zu sagen, um sich zu retten. Außerstande, zu atmen.
Da war Sand unter den Fingern, kalt und trocken. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Handgelenke und Knöchel waren gefesselt und an ihre Taille gebunden. Verschnürt wie ein Schwein.
Dunkelheit.
Sie rollte herum und prallte gegen eine Wand, und noch mehr Sand fiel ihr auf den Kopf und zerrte an ihrem Haar. Sie rollte zurück, das Gleiche. Kein Weg hinaus.
Außer nach oben.
Vor Angst erstarrt hob sie den Kopf und sah gesichtslose Gestalten auf sich herabstarren.
So weit entfernt. Mit Handgelenken, die so fest zusammengebunden waren, dass die Haut abgeschürft wurde, war es unmöglich, zu klettern.
»Warum seid Ihr nach Ithicana gekommen? Was ist Eure Aufgabe? Seid Ihr eine Spionin für Euren Vater?«
»Ich bin hergekommen, um Königin zu sein.« Ihre Kehle brannte, so trocken. So durstig. »Um eine Braut des Friedens zu sein. Ich bin keine Spionin.«
»Lügnerin.«
»Ich bin keine Lügnerin.«
Sand traf sie im Gesicht. Nicht nur winzige Körner, sondern Brocken von Steinen, die Prellungen und Schnittwunden hinterließen. Die sie zwangen, zurückzuweichen. Um Gnade zu betteln. Elf Schaufeln schleuderten von allen Seiten Sand auf sie herab. Trafen sie. Verletzten sie. Füllten das Loch.
Begruben sie bei lebendigem Leib.
»Sagt uns die Wahrheit!«
»Das tue ich!« Der Sand reichte ihr bis zum Kinn.
»Lügnerin!«
Sie konnte nicht atmen.
Sie saß auf einem Stuhl, ihre Handgelenke zusammengebunden. Mit den Fingernägeln kratzte und zerrte sie an den Seilen, und Blut tröpfelte an ihren Handflächen hinab. Stoff bedeckte ihre Augen, aber sie konnte die Hitze von Flammen spüren.
»In Ithicana wird man Schlimmeres mit Euch machen, Lara«, gurrte Serin ihr ins Ohr. »Weitaus Schlimmeres.« Er wisperte von den Gräueln, und sie schrie. Sie musste weg von ihm. Musste fliehen.
»Euren Schwestern wird man noch weitaus schlimmere Dinge antun«, sang er leise und zog ihr die Kapuze herunter.
Da war Feuer in ihren Augen. Brannte. Brannte. Brannte.
»Ihr werdet meine Schwestern nicht anrühren«, schrie sie. »Ihr könnt sie nicht haben. Ihr werdet ihnen nicht wehtun.«
Nur dass es Marylyn war, die die Kohlen unter ihre Füße hielt, nicht Serin. Sarhina, die mit tränenüberströmtem Gesicht die Schlinge enger zog.
Und Lara brannte. Ihr Haar. Ihre Kleider. Ihr Fleisch.
Sie konnte nicht atmen.
Eine Hand packte sie, schüttelte sie. »Lara? Lara!«
Lara umfasste den Griff ihres Messers und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass sie Aren nicht das Gesicht aufschlitzen durfte.
»Ihr hattet einen Albtraum. Eli hat mich geholt, als er Euch schreien hörte.«
Ein Albtraum. Lara holte tief Luft und atmete in ihren Ruhepol im Bauch, um einen Hauch von Gelassenheit zu finden. Erst dann sah sie die schief in ihrem Rahmen hängende Tür, der Riegel zerschmettert auf dem Boden. Aren trug dieselben Kleider wie zuvor, und sein Haar war feucht und klebte ihm auf der Stirn.
Lara riss den Blick von ihm los und griff nach einem Wasserglas. Sie hatte einen sauren Geschmack im Mund wie von zu viel Branntwein. »Ich kann mich an nichts erinnern.« Eine Lüge, denn sie hatte noch immer den Geruch von brennendem Haar in der Nase. Albträume, die keine Träume waren, sondern Erinnerungen an ihre Ausbildung. Hatte sie etwas Verdächtiges gesagt? Hatte er bemerkt, dass sie nach dem Messer unter ihrem Kissen gegriffen hatte?
Aren nickte, aber seine Stirn lag in Falten, was darauf schließen ließ, dass er ihr nicht ganz glaubte. Die schweißdurchnässten Laken schälten sich von ihrer Haut, als sie sich vorbeugte, um ihr Glas mit Wasser aus dem Krug zu füllen. Sie wusste, dass ihr Nachthemd nur gerade eben ihre Brüste bedeckte, und hoffte, dass das Aufblitzen von Haut ihn ablenken würde.
»Wer hat Euch das angetan?«
Lara erstarrte und war sich binnen eines Herzschlags bewusst, dass sie in ihrem Dämmerzustand etwas gerufen haben musste. Ihr Blick huschte zu der offenen Tür, und sie rechnete sich ihre Fluchtchancen aus, aber dann streiften seine Finger die Haut auf ihrem Rücken und folgten einem vertrauten Muster. Narben, die ihre Schwester Sarhina jahrelang jeden Abend mit Öl massiert hatte, bis sie zu dünnen weißen Linien verblasst waren.
»Wer hat das getan?« Die Intensität in seiner Stimme ließ ihre Haut kribbeln. Serin hatte es angeordnet, nachdem sie sich von dem Gelände weg und in die Wüste geschlichen hatte, um einer der Karawanen nachzuschauen, die mit unzähligen beladenen Kamelen und Männern, die ihre Waren in Vencia verkaufen wollten, vorbeizogen. Für diesen Ärger hatte sie ein Dutzend Hiebe empfangen, und Serin hatte die ganze Zeit über geschrien, dass sie alles in Gefahr gebracht hätte. Lara hatte nie ganz verstanden, warum er so zornig gewesen war. Es hatte keinerlei Risiko bestanden, dass die Karawane sie bemerkt hätte, und sie wollte doch nur sehen, welche Waren sie transportierten.
»Meine Lehrer waren sehr streng«, murmelte sie. »Aber das ist lange her. Ich vergesse fast, dass sie da sind.«
Statt ihn zu besänftigen, schien Aren nur noch zorniger zu werden. »Wer behandelt ein Kind so?«
Lara öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, denn ihr fiel keine gute Antwort ein. Alle ihre Schwestern hatten Prügel für Fehltritte erhalten, wenn auch keine so häufig wie sie. »Ich war ein ungehorsames Kind.«
»Und sie wollten Euch Euren Ungehorsam herausprügeln?« Seine Stimme war eisig.
Lara zog das Laken hoch, um sich zu bedecken. Sie antwortete nicht. Sie traute sich nicht zu, das zu tun.
»In Ithicana wird niemand Hand an Euch legen. Ihr habt mein Wort.« Er stand auf und griff nach der Lampe. »Es sind nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang. Versucht, ein wenig zu schlafen.« Er verließ den Raum und zog die zerbrochene Tür hinter sich zu.
Lara blieb im Bett liegen und lauschte auf das besänftigende Plätschern des Regens auf dem Fenster, und noch immer fühlte sie die Spur, die Arens Fingern auf ihrer nackten Haut hinterlassen hatten. Hörte noch immer den Nachdruck in seiner Stimme, dass man ihr in Ithicana niemals wehtun würde, ein Versprechen, dass so gar nicht zu alledem passte, was sie über ihn und sein Königreich wusste. Sein Wort bedeutet gar nichts, rief sie sich ins Gedächtnis. Er hatte sein Wort gegeben, Maridrina freien Handel zu gestatten, und das Einzige, das ihr Heimatland dabei erhalten hatte, war vergammeltes Fleisch.
Ihr Ziel war die Brücke. Einen Weg vorbei an Ithicanas Verteidigungsanlagen zu finden und hinein in das Bauwerk, das alle begehrten. Und heute würde Aren mit ihr eine Führung durch sein Königreich machen. Mit ein wenig Glück würde sie sehen, wie sie reisten, wo und wie sie ihre Boote zu Wasser brachten, wo ihre Zivilisten sich aufhielten. Es war der erste Schritt zu einer erfolgreichen Invasion. Der erste Schritt für Maridrina, wieder zu Wohlstand zu gelangen.
Konzentriere dich darauf, ermahnte sie sich. Konzentriere dich darauf, was das für dein Volk bedeutet.
Aber wie oft sie auch tief durchatmete, nichts beruhigte den schnellen Puls in ihrer Kehle. Schließlich stand sie auf und ging zur Tür des Vorzimmers. Mit einem Sprung in die Höhe bekam sie den oberen Türrahmen zu fassen. Ihre Nägel gruben sich in das Holz, als sie sich hochzog und wieder nach unten sinken ließ. Die Muskeln in ihrem Rücken und ihren Armen dehnten sich und brannten, während sie dreißig Klimmzüge hinter sich brachte. Vierzig. Fünfzig. Sie stellte sich vor, dass ihre Schwestern neben ihr ebenfalls Klimmzüge machten und einander antrieben, während sie gleichzeitig um den Sieg kämpften.
Lara ließ sich fallen, legte sich auf den Boden und ging zu Bauchpressen über. Die Muskeln in ihrem Unterleib brannten wie feurige Bestien nach den ersten hundert davon. Sie machte weiter. Zweihundert. Dreihundert. Die Rote Wüste war heißer als Ithicana, aber die Feuchtigkeit hier war mörderisch. Schweiß tropfte an ihr herab, als sie von einer Übung zur nächsten wechselte, und der Schmerz vermochte besser als jede Meditation, alle unerwünschten Gedanken zu verscheuchen.
Als Clara mit einem Tablett voller Speisen und einer dampfenden Tasse Kaffee an die Tür klopfte, war Lara vollkommen ausgehungert, und es scherte sie nicht, ob die Dienerin ihr rotes Gesicht und ihre verschwitzten Kleider bemerkte. Sie trank den Kaffee und schlang danach ihr gesamtes Frühstück hinunter. Dann badete sie, bevor sie die gleichen Kleider anzog, die sie während ihres letzten Marsches durch den Dschungel getragen hatte, einschließlich der schweren Lederstiefel. Sie band ihre Messer an den Gürtel an ihrer Taille und flocht ihr Haar zu einem festen Zopf, der ihr über den Rücken fiel. Als sie den Raum verließ, drang an den Rändern der schweren Vorhänge vor dem Fenster das erste Licht des Tages herein.
Im Flur fand sie Eli vor, der den Boden fegte. »Er erwartet Euch vor dem Haus, Herrin.«
Aren wartete tatsächlich, und Lara nahm sich einen Moment Zeit, um ihn durch das Glasfenster zu mustern, bevor sie sich bemerkbar machte. Er saß auf den Stufen, die Ellbogen auf den Stein hinter ihm gestützt, die Muskeln in seinen Armen dank der kurzen Ärmel seines Hemdes gut sichtbar, und seine Unterarme steckten in Armschienen. Die aufgehende Sonne, die ausnahmsweise einmal nicht von Wolken verdeckt wurde, spiegelte sich auf dem Arsenal von Waffen, die er am Leib trug. Lara betrachtete finster ihr einsames Paar Messer und wünschte, sie wäre gleichermaßen bewaffnet gewesen. Als sie die Tür öffnete, atmete sie die feuchte Luft tief ein, schmeckte das Salz des Meeres in der sanften Brise und roch die nasse Erde. Ein silberner Nebel driftete durch den Dschungel-Baldachin, und die Luft war erfüllt vom Summen und Brummen der Insekten, den Rufen der Vögel und dem Kreischen anderer Kreaturen, für die sie keinen Namen hatte.
Aren erhob sich, wobei er weder ihre Anwesenheit noch ihren Albtraum kommentierte. Sie folgte einige Schritte hinter ihm, damit sie ihn beobachten konnte, ohne ihrerseits gemustert zu werden, während sie den schmalen, schlammigen Pfad hinunterwanderten. Seine Bewegungen waren von raubtierhafter Anmut: ein Jäger, dessen Blicke den Boden absuchten, den Baldachin aus Blättern, den Himmel, und die ganze Zeit über hielt er seinen Bogen locker in der linken Hand, statt ihn über einer Schulter zu tragen, wie die Soldaten ihres Vaters es taten. Er würde nicht überrumpelt werden, und sie fragte sich müßig, ob er ein guter Kämpfer war. Ob sie, wenn es dazu kommen sollte, in der Lage sein würde, ihn zu bezwingen.
»Ihr seht immer aus, als wolltet Ihr jemanden töten«, bemerkte er. »Möglicherweise mich.«
Lara trat gegen einen losen Stein und betrachtete finster den glitschigen Weg. »Mir war nicht bewusst, dass die Königinmutter noch lebt.« In der Tat hatte sie angenommen, dass alle, die von der königlichen Linie noch übrig waren, der König selbst und seine Schwester waren.
»Das tut sie auch nicht. Nana ist die Mutter meines Vaters.« Aren drehte den Kopf, als etwas im Gebüsch raschelte. »Meine Mutter, Delia Kertell, kam aus der königlichen Linie. Die Familie meines Vaters stammt aus dem gemeinen Volk, aber er selbst ist als Soldat in immer höhere Ränge aufgestiegen und wurde schließlich für ihre Ehrenwache auserwählt. Meine Mutter fand Gefallen an ihm und beschloss, ihn zu heiraten. Meine Großmutter … Sie ist eine weithin bekannte Heilerin. Obwohl andere vielleicht nicht genau diese Worte benutzen würden, um sie zu beschreiben, meine Schwester eingeschlossen.«
»Und warum genau wünscht sie, mich zu sehen?«
»Sie hat Euch bereits gesehen«, entgegnete er.
Lara kniff die Augen zusammen.
»Als Ihr hier angekommen seid und noch geschlafen habt. Sie hat Euch untersucht, um sicherzustellen, dass Ihr bei guter Gesundheit seid. Jetzt möchte sie Euch kennenlernen. Was den Grund betrifft … Sie neigt dazu, sich einzumischen, und alle, auch ich, haben zu große Angst, ihr etwas abzuschlagen.«
Die Vorstellung, dass eine Fremde sie untersucht hatte, während sie bewusstlos gewesen war, fühlte sich wie ein tiefer Eingriff in ihre Privatsphäre an. Lara bekam eine Gänsehaut, aber sie tarnte ihre Reaktion mit einem Achselzucken. »Hat sie sich davon überzeugen wollen, dass mein Vater kein von den Pocken befallenes Mädchen geschickt hat, um Euch ins Grab zu bringen?«
Aren stolperte, ließ seinen Bogen fallen und bückte sich fluchend, um ihn aus dem Schlamm aufzuheben.
»Nicht die schnellste Mordmethode, aber trotzdem wirkungsvoll.« Sie sah ihn an und fügte hinzu: »Und manch einer würde sagen, dass die Widerwärtigkeit des Opfers in seinen letzten Jahren, Tagen und Stunden die Wartezeit wert sei.«
Die Augen des Königs von Ithicana weiteten sich, aber er erholte sich schnell. »Wenn das die Art und Weise ist, wie Ihr mich umzubringen plant, müsst Ihr Euch beeilen. Die Pusteln und der Hautausschlag werden Eure Reize vermindern, fürchte ich.«
»Hm«, machte Lara, dann schnalzte sie mit gespielter Enttäuschung die Zunge. »Ich hatte gehofft, warten zu können, bis die Demenz eingesetzt hat, um mir die Erinnerungen zu ersparen. Aber man muss tun, was man tun muss.«
Er lachte, ein kräftiges und volltönendes Lachen, und Lara konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Pfad änderte seine Richtung, und sie gelangten auf eine Lichtung, die von einem großen Gebäude beherrscht wurde. Einige ithicanische Soldaten lungerten in der Sonne herum.
»Die Kaserne von Mittwacht«, sagte Aren zur Erklärung. »Diese zwölf Männer sind meine – unsere – Ehrengarde.«
Das steinerne Bauwerk war groß genug, um Hunderte von Männern zu beherbergen. »Wie viele Soldaten sind hier?«
»Genug.« Er stolzierte über die Lichtung auf die Männer zu, die auf sie warteten.
»Eure Majestäten«, begrüßte einer von ihnen sie mit einer tiefen Verbeugung, obwohl in seinem Ton Erheiterung mitschwang, als würden solche Ehrentitel nur selten benutzt. Er war groß, schlank und sehnig-muskulös. Vom Alter her hätte er Arens Vater sein können, und sein kurz geschnittenes braunes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen. Lara sah ihm in die ebenfalls dunkelbraunen Augen. Etwas an seiner Stimme kam ihr bekannt vor, und einen Herzschlag später erinnerte sie sich daran, dass er der Mann war, der den ithicanischen Teil ihrer Hochzeit vollzogen hatte.
»Das ist Jor«, stellte Aren ihn vor. »Er ist der Hauptmann der Garde.«
»Freut mich, Euch wiederzusehen«, antwortete sie. »Haben alle ithicanischen Soldaten Nebentätigkeiten, oder seid Ihr eine Ausnahme?«
Der Soldat blinzelte, dann trat ein Lächeln in seine Züge, und er nickte ihr anerkennend zu. »Ihr habt ein gutes Ohr, Prinzessin.«
»Und Ihr habt ein schlechtes Gedächtnis, Soldat. Ich bin keine Prinzessin mehr – dafür habt Ihr selbst Sorge getragen.« Sie ging an den Soldaten vorbei zu dem schmalen Pfad, der zum Meer führte.
Der ältere Mann lachte. »Ich hoffe, Ihr haltet ein Auge offen, wenn Ihr schläft, Aren.«
»Und dass Ihr ein Messer unter Eurem Kissen aufbewahrt«, ergänzte Lia, und die ganze Gruppe lachte.
Aren lachte mit ihnen, und Lara fragte sich, ob sie wussten, dass er ihre Ehe noch nicht vollzogen hatte. Dass sie nach den Gesetzen beider Königreiche nach wie vor getrennte Wege wählen konnten. Als sie noch einmal über ihre Schulter zurückschaute, begegnete sie Arens Blick. Er beobachtete sie ohne einen Wimpernschlag und wandte sich dann schnell ab, während er einer Wurzel, die sich quer über den Pfad spannte, einen heftigen Tritt versetzte.
Sie brauchten nicht lange, um die winzige Bucht zu erreichen, in der die Ithicaner die Boote versteckt hielten, Boote in verschiedenen Größen. Sie ähnelten Kanus, nur dass sie ein Außengestell hatten, das sie mit ein oder zwei zusätzlichen Bootsrümpfen verband. Lara nahm an, dass diese Konstruktion die Boote in den Wellen ausbalancierte. Einige von ihnen waren mit Masten und Segeln versehen, darunter zwei, in die gerade Waffen und Ausrüstung geladen wurde. Eine unbestimmte Angst wuchs in Laras Brust. Die Boote waren winzig im Vergleich zu dem Schiff, das sie für die Überfahrt nach Südwacht benutzt hatten, und das Meer jenseits der Klippen, die die Bucht schützten, erschien ihr plötzlich rauer als noch vor wenigen Sekunden. Die weiße Gischt auf den Wellenkämmen erhob sich hoch und grimmig und würde die dürftigen Boote gewiss überschwemmen.
Dutzende Ausreden gingen ihr durch den Kopf, warum sie das Ufer nicht verlassen sollte, nicht verlassen konnte. Aber das war der Grund, warum sie in Ithicana war – um einen Weg vorbei an deren Verteidigungseinrichtungen zu finden –, und Aren war drauf und dran, ihr die Information zu offenbaren, ohne dass sie selbst irgendwelche Zugeständnisse machen musste. Sie wäre eine Närrin gewesen, wenn sie sich die Gelegenheit hätte durch die Finger schlüpfen lassen.
Aren stieg in das Boot, dann streckte er ihr eine Hand hin und hielt mühelos das Gleichgewicht, während das Boot sich unter ihm hob und senkte. Lara ließ sich nichts anmerken und biss sich in die Innenseite ihrer Wange, als sie seinen Blick auf sich spürte. Er öffnete den Mund, doch sie kam ihm zuvor.
»Ich kann nicht schwimmen, falls es das ist, was Euch bewegt.« Sie hasste es, die Schwäche zuzugeben, und nach dem kleinen Lächeln auf seinem Gesicht zu urteilen, wusste er es.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon jemals jemandem begegnet bin, der nicht schwimmen konnte.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist wohl kaum eine notwendige Fähigkeit mitten in der Roten Wüste.«
Alle Soldaten beschäftigten sich emsig mit verschiedenen Aufgaben, wobei jeder und jede einzelne von ihnen ganz offensichtlich lauschte.
»Nun.« Aren drehte sich um und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Meer. »Ihr habt gesehen, was in diesen Gewässern umherstreift. Ertrinken wäre vielleicht die einfachere Methode, um abzutreten.«
»Wie tröstlich.« Sie ignorierte seine Hand und stieg in das Boot, bevor sie den Mut verlor. Es schwankte unter ihrem zusätzlichen Gewicht, und Lara fiel auf die Knie und umklammerte den Rand des Bootes.
Mit einem leisen Lachen kniete Aren sich neben sie und hielt ein schwarzes Stück Stoff hoch. »Ich entschuldige mich dafür, aber einige Geheimnisse müssen gewahrt bleiben.« Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, verband er ihr die Augen.
Verdammt. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach werden würde. Aber Sehen war nicht die einzige Möglichkeit, an Informationen zu kommen, daher schwieg sie.
»Los geht’s«, befahl er, und das Boot schoss vom Strand weg.
Einen Moment lang dachte Lara, dass es gar nicht so schlimm werden würde, doch dann mussten sie die Bucht verlassen haben, denn das Boot begann wie ein Wildpferd zu buckeln und zu schaukeln. Lara schlug das Herz bis zum Hals, und sie klammerte sich an den Boden des Bootes, ohne sich darum zu scheren, was Aren oder der Rest der Ithicaner von ihr dachten, während Wasser ihre Kleider bespritzte und sie durchnässte. Wenn sie kenterten oder wenn einer von ihnen sie ins Wasser warf, würde ihr nichts von ihrem ganzen Training helfen. Sie würde tot sein.
Und dann gefressen werden.
Dicht auf ihr Entsetzen folgte eine Welle der Übelkeit, und ihr Mund füllte sich mit saurem Speichel, ganz gleich, wie viele Male sie schluckte. Du schaffst das. Reiß dich zusammen. Sie biss die Zähne aufeinander und kämpfte gegen den aufsteigenden Inhalt ihres Magens an. Du darfst dich nicht übergeben, befahl sie sich. Du wirst dich nicht übergeben.
»Sie kotzt gleich«, bemerkte Jor.
Wie aufs Stichwort erhob sich Laras Frühstück schnell und gewaltsam in ihr, und sie beugte sich blind zum Rand vor, gerade als das Boot einen scharfen Satz in die gleiche Richtung tat. Ihre Hände rutschten ab, während sie sich gleichzeitig erbrach, und sie stürzte mit dem Gesicht voraus ins Wasser. Das kalte Meer schloss sich über ihrem Kopf, und sie ruderte wild mit den Armen, während sie sich vorstellte, wie das Wasser ihre Lunge füllte und Flossen sie umkreisten. Wie Mäuler mit gewaltigen Zahnreihen sich öffneten, um sie unter Wasser zu ziehen.
Sie hatte das schon einmal erlebt. Ertrunken. Erstickt. Erwürgt.
Ein altes Grauen mit einem neuen Gesicht.
Sie bekam keine Luft.
Hände packten ihre Bluse und zerrten sie zurück ins Boot. Sie stieß gegen etwas Solides und Warmes, dann zog jemand den Rand des Stoffes hoch, der ihr Gesicht bedeckte, und sie schaute in die Tiefen von Arens haselnussbraunen Augen.
»Ich habe Euch.« Sein Griff, mit dem er sie umfangen hielt, war so fest, dass es hätte wehtun sollen, aber stattdessen waren seine Arme fast so tröstlich, wie wenn sie auf trockenem Land gewesen wären. Hinter ihm lag der Brückenpfeiler mit der Öffnung an seinem Fuß, so verlockend nah, dass ihre Furcht nachließ. Aber Aren zog ihr die Augenbinde wieder herunter und stürzte sie erneut in Dunkelheit.
Der Verlust ihrer Sehkraft bescherte ihr eine weitere Welle von Übelkeit. Schweiß vermischte sich mit dem Wasser, das ihr übers Gesicht rann, und ihr Atem ging in hektischen kleinen Stößen.
Sie füllte ihre Lunge, so gut es ging, und kämpfte um die ruhige Leere, die zu finden sie ausgebildet worden war, falls man sie folterte, als genau in dem Moment einer der Gardisten sagte: »Wir könnten die Brücke nehmen. Das hier erscheint mir grausam.«
»Nein«, blaffte Jor. »Das wird nicht passieren.«
Aber Lara spürte, wie Aren ganz reglos wurde. Er dachte über den Vorschlag nach. Was er nur dann tun würde, wenn auch er glaubte, dass es grausam war, ihr unnötigerweise solche Angst zu machen. Also erlaubte sie ihrer Furcht, sich festzusetzen. Sobald sie das getan hatte, gab es kein Zurück mehr. Ihr Entsetzen war wie eine wilde Bestie, die sie zu verschlingen drohte. Ihre Brust krampfte sich zusammen, ihre Lunge war plötzlich wie gelähmt, und Sterne tanzten vor ihren Augen.
Die Wellen warfen das Boot auf und ab, und die Dornen, die im Meer aufgestellt waren, kratzten über den mit Metall überzogenen Rumpf. Lara klammerte sich an Aren, der sie mit starkem Arm an seine Brust drückte, und grub die Fingernägel in seine Schultern, das Einzige, das sie daran hinderte, dem Wahnsinn anheimzufallen.
Vage hörte sie die Gruppe streiten, aber ihre Worte waren ein dumpfes Dröhnen, so unklar wie eine fremde Sprache. Doch Arens Befehl »Tut es einfach!« durchschnitt den Nebel.
Die Soldaten um sie herum knurrten und fluchten. Die Stahlplatten des Rumpfs knirschten auf Felsen, und eine Sekunde später hörte das unerbittliche Buckeln des Meeres auf. Sie befanden sich innerhalb des Brückenpfeilers, aber Laras Panik verebbte nicht, denn es war immer noch überall Wasser. Sie konnte immer noch ertrinken.
Das Knistern einer Fackel. Der Geruch von Rauch. Das Boot, das sich zur Seite neigte, als die Soldaten ausstiegen. Lara versuchte verzweifelt, sich diese Details einzuprägen, aber ihre Konzentration galt dem Wasser um sie herum und dem, was darin lauerte.
»Dort ist eine Leiter.« Arens von Bartstoppeln raues Kinn streifte ihre Stirn, als er sich bewegte. »Könnt Ihr danach greifen? Könnt Ihr klettern?«
Lara konnte sich nicht bewegen. Ihre Brust fühlte sich an, als seien Stahlbänder darum herumgewickelt, und jedes Ausatmen schmerzte. Ein schwaches, stetiges Klopfen hallte durch den Boden des Bootes, und sie brauchte viel zu lange, um zu begreifen, woran es lag: Sie zitterte so heftig, dass ihr Stiefel immer wieder auf dem Rumpf aufschlug. Aber sie schien nicht damit aufhören zu können. Schien nichts anderes tun zu können, als sich an Arens Nacken festzuklammern, ihre Knie wie einen Schraubstock um seine Oberschenkel gepresst.
»Ich verspreche, ich werde Euch nicht hineinfallen lassen.« Sein Atem war warm an ihrem Ohr, und ganz langsam bekam sie ihre Panik hinreichend in den Griff, um seinen Nacken mit einer Hand loszulassen und nach dem kalten Metall der Leiter auszustrecken. Aber es kostete sie allen Mut, den sie besaß, ihn ganz loszulassen, sich aufzurichten und blind nach den nächsten Sprossen zu tasten.
Aren stand zusammen mit ihr auf und umfasste mit einem Arm ihre Taille, während er mit dem anderen Arm das stählerne Geländer umklammerte. Er hob sie hoch und hielt sie fest, bis ihre Füße die Leiter fanden.
»Wie weit noch?«, flüsterte sie.
»Noch sechzig weitere Sprossen, von dort, wo Eure Hände jetzt sind. Ich werde direkt unter Euch sein. Ihr werdet nicht fallen.«
Lara kam ihr eigener Atem ohrenbetäubend laut vor, während sie hinaufstieg, Sprosse für Sprosse. Sie bebte am ganzen Leib. So etwas hatte sie noch nie empfunden. Noch nie hatte sie solche Angst gehabt – nicht einmal, als sie dem Tod ins Auge gesehen hatte, als ihr Vater gekommen war, um Marylyn zu holen. Weiter und weiter hinauf ging es, bis jemand sie unter den Achseln fasste, zur Seite zog und sie auf festen Stein stellte.
»Wir werden diese Augenbinde noch ein Weilchen länger dort lassen, wo sie ist, Majestät«, erklärte Jor, aber Lara kümmerte das kaum. Unter ihren Händen war eine solide Oberfläche, und der Boden bewegte sich nicht mehr. Sie konnte wieder atmen.
Fels kratzte über Fels, Stiefel dröhnten leise, und dann umfassten starke Hände ihre Schultern. Ihre Augenbinde wurde zurückgeschoben, und Lara schaute in das besorgte Gesicht des Königs von Ithicana. Um sie herum scharten sich die Soldaten, und drei von ihnen hielten Fackeln, die gelb, orange und rot flackerten. Aber hinter ihnen klaffte einen Dunkelheit, tiefer als eine mondlose Nacht. Eine so komplette Schwärze, dass es war, als hätte die Sonne selbst aufgehört, zu existieren.
Sie befanden sich in der Brücke. Besser gesagt: auf dem Verkehrsweg, der in dem steinernen, geschlossenen Brückenbau verlief.