Die Boote schienen das Wasser kaum zu berühren, als sie über das Meer hüpften, und ein starker Nordwind füllte die Segel. Lara schlug das Herz bis zum Hals, aber da ihre Übelkeit unter Kontrolle war, konnte sie die Brücke studieren, während sie dem großen grauen Bauwerk nach Süden folgten. Sie hielt Ausschau nach Spähern, die auf ihrem Dach saßen, und nach dem Glitzern von Ferngläsern auf den Inseln zu beiden Seiten.
»Wie lange noch, bis wir Aela erreichen?«, versuchte sie, den Wind zu übertönen.
»Nicht mehr lange«, antwortete Aren. »Die ersten Trupps aus Mittwacht werden bereits dort sein.«
Die Zeit schien gleichzeitig zu rasen und zu kriechen. Tausend Details fluteten Laras Geist, während ihr Herzschlag in das schnelle, aber stetige Dröhnen verfiel, wie es das vor einem Kampf immer tat. Du bist nicht hier, um zu kämpfen, rief sie sich ins Gedächtnis. Du bist hier, um unter dem Deckmäntelchen der Heilerin alles zu beobachten, mehr nicht. Die Worte beruhigten sie jedoch keineswegs.
Als sie einen gewaltigen Kartturm umrundeten, nahmen alle Ithicaner ihre Masken von den Gürteln und streiften sie über. Waffen wurden gelockert. Augen zusammengekniffen.
Dann sah sie es.
Das Schiff war größer als alle, die sie je zuvor gesehen hatte, eine große Monstrosität mit drei Masten, so hoch wie die Brücke selbst. Sie erspähte die amaridische Flagge, und ungezählte Soldaten huschten auf dem Deck des Schiffes umher. Dahinter näherten sich ein halbes Dutzend Langboote einem schmalen Strand, auf dem eine Schlacht tobte und wo der Sand bereits durchtränkt war von Blut.
Schnell erkannte sie den Grund, warum die Amarider die Insel Aela erwählt hatten, einen Grund abgesehen von der relativ leichten Landung, die der Strand ihnen ermöglichte. Am westlichen Rand der Insel befand sich ein Brückenpfeiler, und die Brücke wölbte sich landeinwärts, bevor sie zurück aufs Meer führte. Wenn die Ithicaner also so hart kämpften, um ihn zu verteidigen, hätte sie jede Wette darauf abgeschlossen, dass dieser Brückenkopf in seinem Sockel eine Öffnung hatte.
»Wie viele Männer sind auf diesem Schiff?«
»Vierhundert«, antwortete Jor. »Vielleicht ein paar mehr.«
»Und auf unseren?«
Niemand erwiderte etwas.
Aren griff nach ihrer Hand und zog sie an sich. »Seht Ihr die Linie aus Felsen und Bäumen?« Er zeigte in die Richtung, die er meinte. »Wir werden Euch und die anderen Heiler hinter dieser Linie absetzen. Ihr werdet dort bleiben, und man wird die Verletzten zu Euch bringen, verstanden?«
»Ja.«
Seine Hand schloss sich fester um ihre. »Behaltet Eure Kapuze auf, damit die Amarider Euch nicht erkennen. Und wenn die Dinge eine Wendung zum Schlechten nehmen, geht mit den anderen Heilern. Sie wissen, wie man den Rückzug antritt.«
Und sie hätte gewettet, dass dieser Rückzug auf die Brücke führte. Aber es war den Preis von Arens Leben nicht wert, an diese Information heranzukommen.
Ihr Herzschlag war nicht länger stetig, sondern wie eine wilde, chaotische Bestie. »Lasst nicht zu, dass die Dinge eine schlimme Wendung nehmen«, flüsterte sie. »Ihr müsst diesen Kampf gewinnen. Für mich.«
Aber Aren rief bereits Befehle. »Versenkt diese Langboote. Der Rest von Euch begibt sich an den Strand!«
Die Boote flankierten das riesige Schiff, und die Luft war erfüllt von Pfeilen, die von beiden Seiten abgeschossen wurden. Aren kniete in dem Boot neben ihr und feuerte einen ganzen Köcher voller Pfeile in den Rücken der Amarider, während diese in die Langboote stiegen. Ihre Leichen fielen ins Wasser. Es juckte Lara in allen Fingern, sich ebenfalls eine Waffe zu schnappen und zu kämpfen, aber sie zwang sich, sich in ihrem Boot tief zu ducken und jedes Mal zusammenzuzucken, wenn ein Pfeil sich in das dicke Holz bohrte.
Dann waren sie vorbei an dem Schiff.
Vier der ithicanischen Boote lösten sich aus dem Rudel und schossen über die anbrandenden Wellen, um die Langboote voller Soldaten auf dem Weg zum Ufer zu rammen. Holz splitterte und barst, und Männer gingen über Bord. Die Ithicaner enterten die feindlichen Langboote mit tödlicher Anmut und blitzenden Klingen, und die Fontänen von Blut glitzerten in der Sonne.
Der Rest der Boote näherte sich dem Gemetzel am Strand. Überall waren Leichen, der Sand eher rot als weiß. Vielleicht zwei Dutzend Ithicaner hielten den Feind an der Wasserlinie fest – aber obwohl sie nur einen schmalen Zugang verteidigten und die höheren Positionen zu ihrem Vorteil nutzten, fielen sie langsam zurück. Starben unter dem amaridischen Ansturm.
Sie mussten sich beeilen, oder die Insel würde verloren sein.
Die Boote aus Mittwacht ließen ihre Segel fallen und ritten die Wellen, die sie an Land schoben. In der letzten Sekunde riss Aren Laras Hand hoch. »Springt!«, rief er.
Lara sprang, und ihre Stiefel versanken im Sand. Durch den Schwung, den sie hatte, wäre sie um ein Haar der Länge nach hingefallen. Dann rannten sie auf die Amarider zu, die jetzt von zwei Seiten eingekeilt waren.
Schreie erschütterten die Luft, Leiber und Gliedmaßen fielen in den Sand, und der Gestank von Blut und aufgeschlitzten Eingeweiden war erdrückend. Lara umklammerte ihre Kiste mit Vorräten und hielt sich hinter Aren, während er den Hügel hinaufstürmte. Immer wieder musste sie über seine Opfer steigen. Die Waffen der Gefallenen lagen überall im Sand, und jeder Instinkt schrie ihr zu, dass sie eine dieser Waffen aufheben sollte. Dass sie kämpfen sollte.
Das darfst du nicht tun, befahl sie sich selbst. Nicht, bis dir keine andere Wahl mehr bleibt.
Aber die Kriegerin in ihr lehnte sich gegen die Einschränkung auf, und als ein Soldat an der ithicanischen Linie vorbeikam, schmetterte sie ihm ihre Vorratskiste ins Gesicht und beobachtete befriedigt, wie er nach hinten kippte und die Spitze von Arens Klinge die Brust des Angreifers durchstieß.
Der König von Ithicana schob den toten Mann mit einem Stiefel von seiner Waffe, das Leder seiner Maske war mit einer blutigen Schicht bedeckt. Dann griff er nach Laras Hand und rannte mit ihr im Schlepptau los, wobei er um die wenigen verbliebenen Amarider herumlief, die auf die Knie sanken und um ihr Leben bettelten.
»Zeigt ihnen keine Gnade!«, rief er, dann zog er Lara hinter einige Felsbrocken. Eine ältere ithicanische Frau mit hagerem Gesicht und blutdurchweichten Kleidern schloss die Lider eines jungen Mannes, dessen Körper mehrere tödliche Verletzungen zeigte. Drei andere Soldaten lagen mit verbundenen Wunden und schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden.
Die Augen der Heilerin weiteten sich beim Anblick ihres Königs.
»Erklärt Lara bitte, was sie tun muss«, trug Aren der Frau auf. Dann lief er auch schon wieder um den Stein herum und rief: »Taryn, mach den Schiffsbrecher klar und versenk dieses Drecksschiff!«
Die Heiler aus Mittwacht tauchten nun ebenfalls auf, ihre Eskorten hatten sie bereits verlassen.
»Was soll ich tun?«, fragte Lara.
»Wartet darauf, dass sie die Verletzten zu uns bringen. Was habt Ihr für Vorräte? Mir fehlt so manches.«
Lara reichte ihr die Kiste, dann huschte sie einen der Felsbrocken hinauf, um zu beobachten, wie sich die Schlacht unter ihr entfaltete. Bei dem Anblick gefror ihr das Blut in den Adern.
Aren stand zusammen mit vielleicht hundert Ithicanern am Strand, aber dahinter war das Wasser voller Langboote. Dutzende von ihnen, und sie alle waren bis zum Bersten angefüllt mit schwer bewaffneten Soldaten, und weitere warteten noch immer auf dem Schiffsdeck darauf, ihnen zu folgen. Es waren Hunderte. Und es gab keine Möglichkeit, sie aufzuhalten.
Die Ithicaner schossen Pfeile auf die Soldaten an der Front, aber es dauerte nicht lange, bis alle verschossen waren und ihnen nichts anderes mehr übrig blieb, als zu warten.
Die alte Heilerin hatte neben ihr den Felsen erklommen, und ihre Miene war grimmig, als sie die Szene auf sich wirken ließ.
Lara grub die Nägel in das Gestein. »Wir können diese Schlacht nicht gewinnen. Nicht gegen diese Überzahl.«
»Wir haben schon schlimmere gewonnen. Obwohl diese hier uns einen hohen Preis abverlangen wird.«
War es immer noch ein Sieg, wenn alle tot waren?, fragte Lara sich.
Die Zweifel mussten ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn die ältere Frau seufzte. »Habt Ihr schon jemals eine Schlacht miterlebt, Euer Majestät?«
Lara schluckte hörbar. »Nichts, das sich mit dem hier vergleichen ließe.«
»Ich würde Euch raten, Euch zu wappnen, aber man kann sich gegen so etwas nicht wappnen.« Die alte Frau legte ihre Hand auf Laras. »Dieser Augenblick wird Euch verändern.« Dann kletterte sie die Felsen hinunter, um sich wieder zu den anderen Heilern aus Mittwacht zu gesellen.
Die Szene war unheimlich still, das einzige Geräusch das Brüllen der Brandung und der gelegentliche Schmerzensschrei. Die Verletzten blieben auf dem Strand zurück, bis die Schlacht gewonnen war. So leise. Zu leise.
Dann erreichten die ersten Langboote das Ufer, und alles verwandelte sich in Chaos.
Die beiden Streitmächte krachten gegeneinander, die Luft füllte sich mit Rufen und Schreien, dem Klirren von Metall auf Metall, dem Klatschen von Waffen auf Fleisch.
Eine Welle von Booten nach der anderen wurde mit voller Wucht ans Ufer gespült, und die schweren Boote zerschmetterten und töteten Amarider und Ithicaner gleichermaßen, die Wasserlinie eine brodelnde Masse von Menschen. Die Seeleute rangen darum, sich zurückzuziehen, wieder auf das Schiff zu gelangen, um weitere Soldaten herzubringen, aber Arens Männer stürzten sich auf die Seeleute und metzelten sie nieder. Zogen die Boote auf den Sand.
Doch es kamen immer neue nach.
Die Ithicaner kämpften mit grimmiger Erfahrung, besser ausgebildet und besser bewaffnet, aber schrecklich in der Minderzahl. Sie kämpften, bis sie nicht mehr stehen konnten, kassierten Verletzung um Verletzung, bis sie auf dem Strand zusammenbrachen oder unter die Wellen gezogen wurden, die inzwischen mehr aus Blut und Leibern zu bestehen schienen als aus Wasser.
Und es kamen immer noch weitere Feinde.
Es war die perfekte Gelegenheit, sich davonzuschleichen. Einen Blick auf den Brückenpfeiler zu werfen und herauszufinden, ob sie ihn für ihre Strategie benutzen konnte, aber ihr Körper verharrte wie angewurzelt an Ort und Stelle. Du musst etwas tun. Die Stimme erhob sich aus den Tiefen von Laras Geist, unablässig und beharrlich. Tu etwas. Tu etwas.
Aber was konnte sie tun? Hinter diesen Felsen lagen keine Verletzten, um die sie sich hätte kümmern müssen, und es würde dort auch niemand auftauchen, bis die Schlacht vorüber war. Sie konnte eine Waffe ergreifen und kämpfen, aber das hier waren nicht die gleichen Umstände wie in Serrith. In diesem Wahnsinn konnte sie das Blatt nicht wenden.
Tu etwas.
Ihr Blick flackerte zurück zu den Verletzten, die am Strand verbluteten. In den Wellen ertranken. Und dann sprang sie vom Felsen und rannte.
Lara war die schnellste von ihren Schwestern gewesen – wie gemacht für ein hohes Tempo, hatte Meister Erik immer gesagt. Heute rannte sie, wie sie noch nie zuvor gerannt war.
Ihre Schenkel brannten, als sie den Strand entlanglief, ihre Arme pumpten, ihr Blick war fest auf ihr Ziel gerichtet. Schlitternd kam sie neben einer jungen Frau zum Stehen, zwei Pfeile steckten in ihrem Rücken und einer im Oberschenkel. Lara beugte sich vor, nahm die Frau auf eine Schulter und rannte zurück zu den Felsbrocken. Nachdem sie sie umrundet hatte, legte Lara die verletzte Soldatin behutsam vor den verblüfften Heilern auf den Boden.
»Helft ihr.«
Dann war sie wieder am Strand und rannte.
Notwendigkeit zwang sie dazu, Soldaten mit Verletzungen auszuwählen, die sie vielleicht überleben würden. Wie es aussah, waren diejenigen Soldaten, die weiter oben am Strand lagen, allerdings bereits weit jenseits einer Rettung, und ihre Augen starrten leer in den grauen Himmel.
Also bewegte Lara sich näher an die Schlacht heran.
Die Soldaten, die noch kämpfen konnten, taten das auf den Leibern der Gefallenen. Amarid und Ithicana, beide verheddert im Gewirr von Gliedmaßen, tote Hände schienen nach etwas zu greifen und ließen die Soldaten stolpern, während die dunkelroten Wellen an dem Gemetzel zerrten.
Die meisten Männer und Frauen auf dem Boden waren tot. Gestorben entweder an ihren ursprünglichen Verletzungen oder weil sie niedergetrampelt worden und ertrunken waren, aber Lara ging immer noch hinter der ithicanischen Linie auf die Suche, und Wasser füllte ihre Stiefel, während sie Ausschau hielt.
»Geht zurück«, rief ihr jemand zu, aber sie ignorierte den Sprecher, als sie einen Mann erblickte, der jünger war als sie selbst und der halb erstickt versuchte, aus der Schlacht herauszuklettern. Die Wellen rollten über seinen Kopf, und Stiefel stampften über seinen Rücken.
Lara hechtete los und bekam seine Hand zu fassen. Sie hielt sie fest, damit das Wasser den jungen Mann nicht weiter hinauszog.
Jemand trat ihr in die Seite.
Ein anderer trat sie hinten an der Wade, und sie schrie auf.
Sie bedrängten sie, trieben sie zu Boden, aber der Junge sah sie an, und sie sah ihn an, und Lara weigerte sich, loszulassen.
Zentimeter für Zentimeter zerrte sie ihn zurück, als sich plötzlich eine Hand um ihren Gürtel schloss und sie mitsamt dem verletzten Soldaten ganz aus dem Wasser zog.
»Was macht Ihr da?«
Arens Stimme. Sein Gesicht versteckt hinter seiner Maske.
Über seine Schulter hinweg sah sie einen Amarider einen Knüppel heben. Sie schnappte sich einen Stein und warf ihn nach dem Soldaten. Der Stein zerschmetterte ihm das Gesicht. »Kämpft«, schrie sie Aren an, dann rappelte sie sich hoch.
Sie fasste den verletzten Jungen unter den Achseln und zerrte ihn den Strand hinauf, wo er in Sicherheit war. Dann stürzte sie sich wieder zurück in das Gemetzel.
Die Ithicaner bemerkten, was sie tat, und sie kämpften darum, ihr einen Weg zu den Verletzten zu verschaffen. Riefen ihren Namen, wenn jemand fiel. Gaben ihr Rückendeckung, während sie ihre Kameraden aus dem Wasser zog, weil sie selbst das nicht konnten.
Und es kamen immer neue Feinde.
Die sie weiter den Sand hinauftrieben.
Schritt für Schritt traten die Ithicaner den Rückzug an, und Lara brüllte ihren Zorn hinaus, denn all jene, die sie an den Strand gezogen hatte, liefen jetzt Gefahr, einmal mehr niedergetrampelt zu werden. Ihr Körper schrie vor Schmerz und Erschöpfung, sie hatte Seitenstechen, und ihre Lunge rang darum, genug Luft zu bekommen, um ihr donnerndes Herz zu versorgen.
Plötzlich hallte ein vertrautes Krachen über die Insel, zusammen mit dem Pfiff von etwas Großem, das durch die Luft flog.
Splitterndes Holz und Schreie drangen aus dem tieferen Wasser, und als Lara den Kopf hob, klaffte ein großes Loch in der Seite des Schiffes. Taryn hatte den Schiffsbrecher repariert.
Ein weiteres Krachen zerriss die Luft, und diesmal traf das Wurfgeschoss einen der Masten. Er knickte zur Seite und riss einen größeren Teil der Takelage mit sich.
Ein weiteres Krachen, und diesmal wurde ein Loch im Rumpf geöffnet, sodass mit jeder Welle Wasser hineinschwappte.
Die Waffe hielt nicht inne. Steinbrocken für Steinbrocken wurde auf das Schiff geschleudert, dann richtete Taryn ihre Aufmerksamkeit auf die Langboote, die sie mit tödlicher Akkuratesse eins nach dem anderen traf. Die Amarider gerieten in Panik, ihre Front löste sich auf, als jeder von ihnen darum kämpfte, die eigene Haut zu retten. Aber es gab keinen Rückzug, und die Ithicaner würden ihnen keine Gnade erweisen.
»Für Ithicana!«, brüllte jemand, und der Ruf raste über den Strand, bis er alle anderen Geräusche übertönte, während die Soldaten sich um ihren König scharten und vorwärtsdrängten.
Daher war niemand in der Nähe, um Laras Flüstern zu hören: »Für Maridrina«, bevor sie sich wieder in das Chaos stürzte.