26
Lara

Dass er bereit war, feindliches Territorium zu betreten, dass er bereit war, sie mitzunehmen – sie, die so viele Geheimnisse Ithicanas kannte –, hätte Lara davon überzeugen sollen, dass Arens Worte der Wahrheit entsprachen. Dass ihr Vater, Serin und all ihre Meister auf dem Übungsgelände Lügner waren.

Aber sie war nicht überzeugt.

Die Geschichten über Ithicanas Niederträchtigkeit hatten sich in Laras Seele eingebrannt. Man hatte sie ihr ihr Leben lang ins Ohr geflüstert. Hatte sie ihr vorgesungen wie ein Mantra, über Stunden und Tage und Jahre voll grausamen Trainings, das sie beinahe gebrochen hätte. Dass viele ihrer Halbschwestern gebrochen und sie auf die eine oder andere Weise in den Tod geschickt hatte.

Nimm die Brücke ein, und du wirst die Retterin Maridrinas sein.

Wenn sie Aren glaubte, würde das bedeuten, dass dieses Mantra ein ganz anderes werden musste. Nimm die Brücke ein, und du wirst die Zerstörerin einer Nation sein. Nimm die Brücke ein, und du wirst dich als Schachfigur deines Vaters erweisen. Aus diesem Grund protestierte sie wie ein Feigling sofort dagegen, nach Maridrina zu fahren.

»Wir befinden uns mitten in der Sturmsaison.« Lara deutete auf die Dunkelheit im Osten. »Welcher Wahnsinnige sticht in See, um eine Behauptung zu beweisen?«

»Dieser Wahnsinnige.« Aren zog die Leine straff, die Lia ihm reichte. »Außerdem ist der Himmel in unserer Fahrtrichtung klar. Und wenn uns der Sturm doch überrascht, sind wir angeblich sehr geschickte Seeleute.«

»Wir sitzen in einem Kanu!« Lara verabscheute den schrillen Klang ihrer Stimme. »Ich sehe nicht, wie dein Talent mitten in einem Taifun zum Zug kommen sollte!«

Aren lachte und setzte sich auf eine der Bänke. »Wir werden wohl kaum in einem ithicanischen Boot in die Hauptstadt von Maridrina reisen.«

»Wie dann?«, verlangte sie zu erfahren. »Über die Brücke?«

Jor stieß ein Schnauben aus und warf Aren einen vielsagenden Blick zu. »Es ist besser, Südwacht zu umgehen, nicht wahr, Euer Majestät?«

Aren ignorierte ihn, legte seine Beine über den Rand des Bootes und lehnte sich gegen ein Bündel. »Du wirst es bald genug erfahren.«

Bald genug klammerte sie sich irgendwo am Boot fest, während sie über die Wellen hüpften und ein ums andere Mal so schräg im Wasser lagen, dass es nur noch eine zusätzliche Bö bedürfen würde, um das Boot kentern und sie alle zu Opfern der Wellen und Haie werden zu lassen.

Lara rief sich ins Gedächtnis, dass sie darauf achten musste, wohin genau ihr Kurs sie führte. Auf diese Weise infiltrieren sie dein Heimatland, auf diese Weise spionieren sie. Doch als die Brücke und ihr Nebel in der Ferne verblassten und weitere Inseln vor ihnen auftauchten, interessierte sie nichts anderes mehr als die Frage, wie tief Serins Verrat und der Verrat ihres Vaters tatsächlich gingen.

Als die Ithicaner eins der Segel einholten und alle Fahrt aus dem Boot nahmen, sah Lara sich an, wohin Aren sie gebracht hatte. Grün verkrustete Steinsäulen erhoben sich so deutlich aus dem blauen Meer, dass der Grund nur eine Armeslänge entfernt zu sein schien. Vögel bedeckten den Himmel in riesigen Schwärmen, und einige schossen ins Wasser hinab, nur um mit einem Fisch im Schnabel wieder aufzutauchen. Dann verschlangen sie den Fisch, bevor einer ihrer Artgenossen ihn ihnen stehlen konnte. Einige der größeren Inseln hatten einladende weiße Strände, und nirgends war auch nur die Spur von Verteidigungsmaßnahmen oder -einrichtungen zu sehen, die das Wasser rund um Ithicanas Brücke rot von feindlichem Blut färbten.

Lara erhob sich auf die Knie, um nach oben zu schauen, als sie zwischen zwei Karttürmen hindurchfuhren. »Leben hier Menschen?«

Wie zur Antwort auf Laras Frage tauchten hinter einer weiteren Insel mehrere Fischerboote auf, und die Männer und Frauen an Bord hielten in ihren Tätigkeiten inne, um grüßend die Hände zu heben. Viele von ihnen riefen Arens Namen.

»Einige von ihnen leben hier«, antwortete er langsam, als koste ihn das Eingeständnis etwas. »Aber es ist gefährlich. Wenn sie angegriffen werden, können wir ihnen erst zu Hilfe kommen, wenn es bereits zu spät ist und wir kaum noch etwas ausrichten können.«

»Werden sie oft angegriffen?«

»Nicht mehr seit der Unterzeichnung des Vertrages, was auch der Grund ist, warum sich mehr Menschen mit ihren Familien hier angesiedelt haben.«

»Gehen sie während der Kriegstiden fort von hier?«

Sein Kiefer verspannte sich. »Nein.«

Lara wandte sich von den Fischerbooten ab, um zu Aren aufzuschauen, und Übelkeit stieg in ihr auf. Wie standen die Chancen, dass Serin und ihr Vater nicht wussten, dass diese Menschen hier waren? Und wie standen die Chancen, dass Aren nicht alles in seiner Macht Stehende tun würde, um ihnen zu helfen, falls sie angegriffen wurden?

Selbst wenn es bedeutete, die Verteidigung der Brücke zu schwächen.

Sie schlängelten sich schweigend zwischen den Inseln hindurch, bevor sie unter einem natürlichen, steinernen Bogen hindurch in eine versteckte Bucht segelten, neben der die von Mittwacht winzig wirkte. Zu Laras Überraschung lagen dort mehrere große Schiffe vor Anker.

»Es sind größtenteils von uns eroberte Kriegsschiffe. Wir haben mehrere davon umgerüstet, sodass sie als Kaufmannsschiffe durchgehen. Das hier ist meins.« Aren zeigte auf ein Schiff von mittlerer Größe, das blau und golden angestrichen war.

»Gehören sie nicht alle dir?«, entgegnete Lara säuerlich und nahm Jors dargebotenen Arm, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor, bevor sie nach der Strickleiter griff, die an der Seite des Schiffes herabbaumelte.

»Sie gehören alle König Aren von Ithicana. Aber dieses hier steht unter dem Kommando von Kapitän John, Kaufmann aus Harendell. Jetzt komm. Dieser Sturm wird uns nach Vencia treiben, wenn wir noch viel länger trödeln.«

Der Frachtraum war, wie sich herausstellte, angefüllt mit genau dem Produkt, das Ithicana aus Maridrina fernzuhalten versucht hatte: Stahl. »Ich kann für solche Situationen keinen Frachtraum voller Vieh vorrätig halten«, erklärte Aren. »Außerdem ist Stahl das einzige Handelsgut, für das es sich lohnt, eine Überfahrt während der Sturmsaison zu riskieren. Oder zumindest war das in der Vergangenheit so.«

Als sie sich an Deck zurückzogen und in das Kapitänsquartier begaben, brach Lara ein winziges Bröckchen von der Wurzel ab, die Nana ihr gegeben hatte, dann kaute sie inbrünstig darauf herum und hoffte, dass es die Übelkeit lindern würde, deren Grund nicht nur Seekrankheit war.

Aren öffnete eine Truhe, stöberte darin und förderte einige Kleidungsstücke und einen Schlapphut zutage, dann warf er ihr alles zu. »Tarnung. Wenn du dich als Junge ausgibst, wirst du größere Freiheit haben, sobald wir in der Stadt ankommen.«

Lara funkelte ihn an, nahm aber die Kleider und wartete darauf, dass er ihr den Rücken zukehrte, bevor sie ihre ithicanischen Gewänder abstreifte. Nach kurzem Überlegen schlang sie sich einen Schal fest um den Oberkörper und umwickelte so gut wie möglich ihre Brüste, dann schlüpfte sie in das übergroße Hemd und die voluminöse Hose, die die Seeleute aus Harendell anscheinend bevorzugten. Sie band sich ihren langen Zopf auf dem Kopf zusammen, sicherte ihn mit einigen Spangen und zog den Hut über das Ganze, bevor sie sich umdrehte.

Aren war bereits mit seiner für Harendell typischen Gewandung bekleidet, und auf seinem Kopf thronte ein ähnlicher Schlapphut. Er runzelte die Stirn. »Du siehst immer noch aus wie eine Frau.«

»Wie schockierend.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hm.« Er drehte sich im Kreis, ehe er in eine Ecke ging und mit einer Hand über den Boden rieb. »Dieses Schiff ist seit über einem Jahr nicht in See gestochen, und ich denke nicht, dass irgendjemand hier war, um es zu putzen.« Er durchschritt den Raum und streckte die Hand nach ihr aus.

Lara prallte zurück. »Was machst du da?«

»Letzte Hand an deine Tarnung legen.« Er umfasste ihren Hinterkopf und rieb ihr etwas, das wie Dreck und Mäusescheiße roch, ins Gesicht, ohne sich um ihre Proteste zu scheren. Dann trat Aren zurück und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Lass ein wenig die Schultern hängen. Und behalte dieses Stirnrunzeln bei. Es passt zu einem dreizehnjährigen Jungen, der in die Dienste seines schurkischen, aber charmanten älteren Cousins gezwungen worden ist.«

Lara hob die Hand zu einer Geste, die universell als Beleidigung zu verstehen war.

Aren lachte, ehe er durch die offene Tür rief: »Alle Mann an Deck. Wir segeln nach Maridrina.«

Mit geübter Effizienz bereiteten die als Seeleute aus Harendell verkleideten Soldaten das Schiff vor, und Jor unterhielt sich mit einem Dutzend Ithicaner, die Lara nicht kannte, die aber auf der Insel gewesen sein mussten.

»Wie lautet die Geschichte, Kapitän?«, rief Jor, als Aren und Lara an Deck kamen.

»Wir haben eine kurze Pause zwischen den Stürmen genutzt und die Überfahrt für einen schnellen Beutel Gold riskiert. Unsere letzte Chance, ein hübsches Sümmchen zu kassieren, solange die Stahlpreise noch hoch sind.«

Alle nickten zustimmend, und Lara dämmerte, dass sie das schon früher getan hatten. Der meistgesuchte Mann Ithicanas war vor der Nase ihres Vaters umherspaziert, und niemand, nicht einmal Serin, hatte eine Ahnung davon gehabt. Aren übernahm das Steuerrad und erteilte einige Befehle. Der Anker wurde hochgezogen, die ersten Segel gesetzt, und das Schiff lief langsam aus der Bucht.

»Fährst du oft nach Maridrina?«

Aren schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Vor meiner Krönung habe ich viel Zeit in anderen Königreichen verbracht und meine Kenntnisse in Handelsökonomie erweitert.«

»Das ist es, was Ihr getan habt?«, bemerkte Jor im Vorbeigehen. »Und da dachte ich, all diese Ausflüge in andere Länder hätten dazu gedient, Euch eine Gelegenheit zu verschaffen, Euch mit Glücksspielen zu amüsieren, Röcken nachzujagen und gutes Geld für billigen Wein rauszuwerfen.«

»Das auch.« Aren hatte den Anstand, verlegen zu wirken. »Wie dem auch sei, all das hat mit meiner Krönung aufgehört, aber für Lara werde ich eine Ausnahme machen.«

Sie stützte die Ellbogen auf die Reling. »Wann werden wir in Maridrina ankommen?«

»Entweder vor diesem Sturm« – er grinste – »oder überhaupt nicht.«

»Das Ganze ist unnötig.« Sie hatte mehr Angst vor dem, was sie vorfinden würden, wenn sie Maridrina erreichten, als vor der Fahrt selbst. Und das, obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie das Land überhaupt lebend erreichten.

»Das ist meine Entscheidung. Also, warum suchst du dir nicht eine nützliche Beschäftigung?«

Weil Lara wusste, dass Aren nicht erwarten würde, dass sie auf ihn hörte, tat sie genau das. Bewaffnet mit einem Eimer, einem Mopp und einer dreckigen Bürste schrubbte sie das Deck, bevor sie in das Kapitänsquartier ging, wo sie einige Goldstücke stahl, die sie in der Schublade eines Schreibtisches fand, und weitermachte. Sie hielt nur im Putzen inne, um das geschwärzte Wasser wegzukippen und frisches herbeizuschleppen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Aren jedes Mal den Mund öffnete, wenn sie an ihm vorbeikam, bevor er ihn wieder zuklappte und finster auf das Meer vor ihnen starre.

Was für sich genommen schon befriedigend war, aber darüber hinaus gab ihr das Putzen Zeit, ungestört nachzudenken. So wie Lara es sah, hatte sie drei Möglichkeiten, sobald sie den Hafen von Vencia erreichten.

Die erste hieß Flucht. Sie hegte nicht den leisesten Zweifel daran, dass sie Aren und seiner Garde davonlaufen konnte, und mit den Juwelen in ihrer Tasche und dem Gold, das sie aus dem Kapitänsquartier gestohlen hatte, würde sie leben können, wo immer es ihr gefiel. Sie wäre frei, und wenn sie davon ausging, dass Aren irgendwann auf dem markierten Papier an ihren Vater schrieb, würde sie ihre Pflicht ihrem Volk gegenüber erfüllt haben.

Die zweite Option war, dass sie sich auf den Weg zum Palast ihres Vaters machte und die Codes benutzte, die Serin ihr gegeben hatte, um sich Zutritt zu verschaffen. Sie könnte ihnen alles erzählen, was sie wusste, als Gegenleistung für ihre Freiheit, wie man es ihr versprochen hatte. Obwohl sie damit das Risiko einging, dass ihr Vater ihr die Kehle aufschlitzte – einen Herzschlag nachdem sie ihm gegeben hatte, was er brauchte. Und die dritte Alternative …

Die dritte war die, dass alles, was Aren ihr erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Dass man ihrem Vater die Möglichkeit geboten hatte, das Leben des maridrinischen Volkes zu verbessern, dass er sich aber dagegen entschieden hatte. Dass ihr Vater der Unterdrücker ihres Heimatlandes war, nicht Ithicana. Doch Laras Verstand weigerte sich, diese Erklärung zu akzeptieren. Er war gewiss nicht bereit, sie ohne Beweise zu akzeptieren.

Lara griff mit einer Hand nach dem Eimer mit schmutzigem Wasser und mit der anderen nach der Reling, bevor sie sich umdrehte und beobachtete, wie Aren das Schiff segelte. Trotz des lächerlichen Huts, den er trug, tat ihr Herz einen Satz.

Was war, wenn ihr Leben einer Lüge gewidmet war?

Es blieb Lara erspart, weiter darüber nachzudenken, weil eine Welle über Deck schwappte und ihre Bemühungen überflüssig machte. Das Meer war rau geworden, und als sie das Gesicht dem Himmel zuwandte, zuckten Blitze in dunklen Wolken, während unberechenbare Böen an ihrem närrischen Hut rissen. Aren steuerte das Schiff am Rand des Sturms entlang, der sie inzwischen fast eingeholt hatte. Blinzelnd betrachtete Lara die fernen Ausläufer des Kontinents vor ihnen. Wie standen wohl die Chancen, dass sie es schafften?

Sie ließ Mopp und Eimer fallen und stolperte über das Deck des inzwischen deutlich schwankenden Schiffes und die Stufen zu Arens Platz am Steuer hinauf. »Du musst nach Westen drehen und vor diesem Taifun herfahren, du verrückter Narr«, schrie sie über den Wind hinweg und deutete auf die schwarzen Wolken.

»Es ist nur ein kleines Unwetter«, sagte er. »Ich werde es besiegen. Aber du solltest dich gut festhalten.«

Lara umklammerte mit einer Hand die Reling und mit der anderen den Hut, während sie beobachtete, wie Vencia und sein gut geschützter Hafen am Horizont größer wurden, wenngleich sie im Regen, der jetzt fiel, kaum sichtbar waren. Anders als an dem Tag, an dem sie fortgegangen war, war der Himmel über der Stadt ihrer Geburt schwarz und Unheil verkündend, und die weiß getünchten Gebäude, die sich über dem Hafen erhoben, waren von einem dumpfen Grau. Über alledem thronte der Königliche Palast mit seinen aus Bronze gefertigten Kuppeln, dessen Mauern in ein strahlendes Blau getaucht waren. Dort hielt ihr Vater seinen Harem von Ehefrauen, von denen eine ihre Mutter war, falls sie überhaupt noch lebte.

Am Rande hörte sie Aren seiner Mannschaft befehlen, einige Segel einzuholen, doch das Schiff wurde kaum langsamer, als es auf die Mole zuraste, die den Hafen schützte. Blitze zuckten auf, und einen Herzschlag später erschütterte ein Donnerschlag das Schiff. Welle um Welle überschwemmte das Deck, und die Ithicaner sicherten sich mit Leinen am Schiff, um nicht über Bord gerissen zu werden.

Nur Aren wirkte ungerührt.

Lara kämpfte gegen ihre wachsende Übelkeit an und grub die Finger in die Reling. Die Brandung krachte gegen den hohen Hafendamm wie ein nimmermüder Rammbock, und Gischt und Spritzwasser stiegen mit jeder anbrandenden Welle mehr als haushoch in die Luft. Jedes Mal klang es wie eine Explosion, und Schweiß rann Lara den Rücken hinab, als sie sich vorstellte, was mit dem Schiff passierte, wenn es gegen die Mole prallte.

Aren ächzte vor Anstrengung, als er das Steuerrad drehte. Sein Blick war starr auf die scheinbar winzige Lücke gerichtet, durch die sie fahren würden.

Eine Welle erhob sich fast so hoch wie die Mole. »Das ist der reinste Wahnsinn.« Lara konnte kaum das Gleichgewicht bewahren, als das Schiff herumschwang und sich aufrichtete, bevor es mit unfehlbarer Präzision durch die Lücke glitt. Lara stieß vor Erleichterung lautstark die Luft aus. Das Holz der Reling drückte sich in ihre Stirn, als sie sich dagegenlehnte, während der Regen unablässig auf sie herabfiel.

»Ich habe dir gesagt, dass wir es schaffen würden«, verkündete Aren, aber sie antwortete nicht, sondern betrachtete nur den überfüllten Hafen. Das Wasser hier war vergleichsweise ruhig, im Gegensatz zu der offenen See, die sie hinter sich gelassen hatten.

Während der Sturmsaison, das wusste sie, hielten sich die meisten Handelsschiffe dicht an der Küste, sodass sie in einen Hafen schlüpfen konnten, sobald ein Sturm drohte. Daher erregte jetzt der Anblick eines hereinkommenden Schiffes aus Harendell aller Aufmerksamkeit. Der vermutete Inhalt ihres Frachtraums verlockte den Hafenmeister genug, um sie vor den vielen anderen wartenden Schiffen in ein Hafenbecken zu winken – zum offensichtlichen Missfallen der Kapitäne und Mannschaften dieser Schiffe.

»Es ist lange her, Ihr mutiger Bastard«, rief der Mann, als das Schiff sachte gegen den Kai stieß und Jor und mehrere andere Seeleute an Land gingen, um es festzumachen.

Aren wartete, bis sie die Laufplanke heruntergelassen hatten, bevor er Lara ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Der Regen wurde von Minute zu Minute stärker. »Ihr sagt mutig, aber meine Großmutter benutzt ein ganz anderes Wort, um mich zu beschreiben.«

Der Hafenmeister lachte. »Habgierig?«

Aren schlug sich mit einer Hand auf die Brust und taumelte zur Seite. »Ihr verletzt mich!«

Sie lachten, als seien sie alte Freunde. Aren streckte eine Hand voller Münzen aus und überreichte sie dem Hafenmeister, dann fügte er eine goldene hinzu, die der Mann in seine eigene Tasche gleiten ließ, während sein Assistent die Einzelheiten auf einem Stück Papier festhielt.

»Ihr habt wohl daran getan, genau jetzt hier zu erscheinen«, sagte der Hafenmeister. »Die Stahlpreise werden nicht mehr lange hoch bleiben, wenn Ithicana das verfluchte Metall ohne Steuern oder Zölle verschifft. Der Stahl stapelt sich bereits auf Südwacht. Nicht dass die Valcottaner König Silas die Möglichkeit geben, seine Beute abzuholen.« Er spuckte ins Wasser.

Aren stieß einen mitfühlenden Laut aus. »Das habe ich gehört.«

»Ithicanas neue Königin hat uns keinen Gefallen erwiesen. All das Gold, das Silas mit seinen Steuern aus unseren Taschen gezogen hat, ist für Stahl ausgegeben worden, und doch haben wir keine Gegenleistung dafür gesehen.«

»Schöne Frauen haben die Angewohnheit, Männern Geld zu kosten«, antwortete Aren.

Lara richtete sich entrüstet auf, und der Hafenmeister wandte den Blick von Aren ab, um sie zu betrachten. »Mir gefällt die Art nicht, wie du mich ansiehst, Junge.«

Aren schlug Lara hart genug auf die Schulter, dass sie taumelte. »Achtet nicht auf meinen Cousin. Er ist nur sauer, weil er die ganze Überfahrt damit verbracht hat, das Deck zu schrubben, statt zu faulenzen, wie er es normalerweise tut.«

»Familienmitglieder geben die miesesten Seeleute ab.«

»Wahre Worte. Ein halbes Dutzend Mal war ich ehrlich kurz davor, ihn über Bord zu werfen, aber das hätte bedeutet, dass ich niemals mehr nach Hause gekonnt hätte.«

»Es gibt eine ganze Reihe Damen in Vencia, die Euch liebend gern aufnehmen würden, denke ich.«

»Führt mich nicht in Versuchung.«

Ein vierter Plan, bei dem Lara ein Messer tief in Arens Eingeweiden versenkte, formte sich in ihrem Kopf, als sie den beiden Männern vom Dock folgte.

Die nächsten Worte des Hafenmeisters lenkten ihre Aufmerksamkeit jedoch zurück auf das Gespräch. »Ich habe gehört, Amarid habe die Zeit der ruhigen See damit verbracht, dem Bridge Kingdom zu zeigen, was genau sie davon halten, dass Ithicana ihnen das Geschäft vermasselt, indem es Maridrina mit Waffen aus Harendell versorgt.«

»Ithicana liefert keine Waffen.«

Lara nahm die Hitze in Arens Stimme wahr, aber der Hafenmeister schien es nicht zu bemerken.

»Läuft auf dasselbe hinaus. Es verschifft sie unentgeltlich. Transportiert sie zu uns. Oder würde es tun, wenn Valcotta nicht seine Flotte riskieren würde, um uns daran zu hindern, in den Hafen einzulaufen.« Seine Verbitterung war förmlich mit Händen zu greifen. »König Silas hätte Vieh verlangen sollen.«

»Mit Kühen gewinnt man keine Kriege«, antwortete Aren.

»Mit halb verhungerten Soldaten auch nicht. Oder mit jenen, die an der Pest gestorben sind.« Der Hafenmeister spuckte auf den Boden. »Das einzig Gute, das die Heirat unserer Prinzessin für Maridrina bewirkt hat, war das Füllen der Taschen der Bettler, die der König dafür bezahlt hat, auf der Straße zu sitzen und ihr zuzujubeln, als sie vorbeigezogen ist.«

Aren und der Mann widmeten sich als Nächstes den Details zum Entladen des Schiffes. Es war nichts als ein Dröhnen in Laras Ohren, während das, was sie soeben gehört hatte, tief in ihre Seele eindrang. Was Serin ihr in seinem Brief über die Hungersnot und die Pest erzählt hatte, entsprach der Wahrheit, doch … Doch wenn das, was dieser Mann sagte, auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, war sie absolut getäuscht worden, wer die Schuld daran trug. Schweiß rollte ihr in kleinen Perlen über den Rücken und ließ ihre Haut jucken.

Es konnte nicht wahr sein. Aren hatte diesen Mann dafür bezahlt, das zu sagen. Es waren alles Lügen, mit denen er sie überlisten wollte. Anspannung schnürte Lara die Brust zusammen, und jeder Atemzug war eine Qual, während sie versuchte, die Lehren eines ganzen Lebens mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was sie vor sich sah. Was sie hörte.

Was sie getan hatte.

»Lasst Eure Mannschaft das Schiff gleich morgen in aller Frühe entladen. Dieser Sturm macht es fast unmöglich, es jetzt zu tun.«

Lara blinzelte und konzentrierte sich auf Aren, als er dem Hafenmeister die Hand schüttelte und wartete, bis der Mann außer Hörweite war, bevor er sagte: »Beweis genug für dich?«

Lara antwortete nicht, sondern drückte sich eine Hand auf ihre schmerzende Schläfe. Sie hasste es, wie sehr sie zitterte.

»Gehen wir jetzt zurück an Bord des Schiffes?« Ihre Zunge fühlte sich dick an in ihrem Mund, und ihre eigene Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Nein.«

Da war etwas in seinem Ton, das sie aus ihrer Trübsal herausriss. Wasser rann über Arens scharf geschnittene Gesichtszüge, und kleine Perlen sammelten sich auf seinen dunklen Wimpern. Seine haselnussbraunen Augen funkelten, als sein Blick einen Moment forschend auf ihr lag, ehe er sich dem Kai zuwandte. »Wir werden den Sturm in Vencia abwarten. Und das tun wir am besten mit ein klein wenig Luxus.«

Ihr Puls hämmerte wie eine Trommel in ihrem Schädel, als sie dicht hinter Aren über den Markt ging, wo die Ithicaner gelassen an ihnen vorbeieilten. Lauf weg. Das Wort wiederholte sich in ihrem Kopf ein ums andere Mal, und ihre Füße spannten sich in ihren Stiefeln an, als wünschten sie sich verzweifelt, sie aus dieser Situation wegzubringen. Sie wollte nicht mehr hören. Sie wollte sich nicht der Tatsache stellen, dass sie vielleicht keine Befreierin war. Dass sie vielleicht keine Retterin war. Nicht einmal eine Märtyrerin.

Sie wollte vor diesen Splittern der Wahrheit flüchten, die ihr sagten, dass sie etwas ganz anderes war.

Aren erklomm die schmalen Straßen, die zu beiden Seiten von dicht gedrängten, zweistöckigen Gebäuden gesäumt und deren Fensterläden vor dem Sturm verschlossen waren. Er blieb vor einer Tür mit einem Schild stehen, auf dem stand: Der Singvogel. Musik, das Klirren von Gläsern und das kollektive Raunen von Menschen drangen auf die Straße. Er zögerte mit einer Hand auf der Klinke, dann zog er die Tür mit einem Seufzer auf.

Der Duft von Holzrauch, garenden Speisen und verschüttetem Bier flutete über Lara hinweg, und sie betrachtete den Schankraum mit seinen niedrigen Tischen, von denen die meisten von Händlern belegt waren. Jor und Aren nahmen an einem Tisch in der Ecke Platz, und die anderen Wachen setzten sich an die Theke. Lara rang mit den aufgewühlten Gefühlen in ihrem Herzen, als sie sich rechts von Aren niederließ, sich auf dem Stuhl ausstreckte und hoffte, dass der Regen nicht den Schmutz weggewaschen hatte, der ihre Tarnung vervollständigte. Eine Frauenstimme erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Na, wen haben wir denn da?«

Eine junge Frau von vielleicht Anfang zwanzig hatte sich dem Tisch genähert. Sie hatte langes Haar, ein wenig heller und ein wenig goldener als das Blond von Laras eigenem Haar, und ein ordentlicher Teil ihres großzügigen Dekolletés wurde von dem tief geschnittenen Korsett ihres Kleides entblößt.

Aren griff nach einem der kleinen Gläser mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, die ein Schankmädchen an den Tisch gebracht hatte. »Wie geht es dir, Marisol?«

»Wie es mir geht?« Die Frau – Marisol – stemmte die Hände in die Hüften. »Es ist über ein Jahr her, seit du dein elendes Gesicht in Vencia gezeigt hast, John, und du fragst mich, wie es mir geht?«

»Liegt mein letzter Besuch hier tatsächlich schon so lange zurück?«

»Du weißt verdammt genau, dass es so ist.«

Aren hob entschuldigend die Hände und schenkte der Frau ein charmantes Lächeln, das Lara noch nie auf seinem Gesicht gesehen hatte. Er flirtete mit Marisol. Offensichtlich waren die beiden sehr vertraut miteinander. Lara dämmerte die Art ihrer Beziehung, und ihr wurde heiß.

»Umstände, die sich meiner Kontrolle entzogen haben. Aber es ist schön, dich zu sehen.«

Die Frau schob die Unterlippe vor und bedachte ihn mit einem langen Blick. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß und schlang ihm einen Arm um den Nacken. Laras Finger zuckten zu den Messern, die in ihren Stiefeln versteckt waren, und Zorn brodelte in ihren Adern. Was dachte er sich dabei, seine Mätresse vor ihr herumstolzieren zu lassen? War das hier eine Art Strafe? Wollte er etwas klarstellen?

Die Frau begrüßte als Nächstes Jor und winkte eins der Schankmädchen herbei, damit es eine weitere Runde brachte.

Jor leerte sein Glas und pflückte dem Schankmädchen das nächste aus der Hand, bevor sie auch nur eine Chance gehabt hatte, es auf den Tisch zu stellen. »Schön, dich zu sehen, Marisol.«

Der Blick der Frau landete auf Lara. »Wer ist der mürrische Junge hier?«

»Mein Cousin. Er will das Gewerbe erlernen.«

Marisol neigte ihren hübschen Kopf und musterte Lara, als versuche sie, ihr Gesicht zuzuordnen. »Mit solchen Augen muss deine Mutter mit König Silas selbst herumgetändelt haben.«

Aren verschluckte sich an seinem Getränk. »Also, wäre das nicht mal ein starkes Stück?«

»Du würdest vielleicht etwas mehr Spaß haben, wenn du etwas mehr lächelst, Junge. Von deinem Cousin kannst du mehr lernen als das Segeln eines Schiffes.«

Lara schenkte ihr ein Lächeln, das ganz aus Zähnen bestand, aber die Frau lachte nur und konzentrierte sich wieder auf Aren. »Wie lange bleibst du hier?«

»Nur bis morgen, vorausgesetzt, der Sturm schwächt ab.«

Sie biss offensichtlich enttäuscht die Zähne zusammen. »So bald schon.«

»Meine Anwesenheit ist zu Hause erforderlich.«

»Das sagst du immer.« Marisol stieß leise den Atem aus, dann schüttelte sie den Kopf. »Also wirst du für deine Mannschaft Zimmer für die Nacht brauchen? Und für deinen Cousin?«

Laras Magen überschlug sich. Aber nicht für ihn. Gewiss hatte er nicht die Absicht …

»Für meine Mannschaft, ja. Und auch eins für mich.«

Marisol zog eine Braue hoch, und Lara kämpfte gegen den Drang, ihr einen Hieb auf ihre hübsche kleine Nase zu verpassen.

Jor räusperte sich. »Er hat inzwischen geheiratet, Marisol.«

Die Frau stand so abrupt auf, dass sie gegen den Tisch stieß und die Flüssigkeit aus den Gläsern schwappte.

Aren stellte sein eigenes Getränk beiseite und warf Jor einen finsteren Blick zu, aber der alte Mann hob nur die Schultern. »Es hat keinen Sinn, das Gespräch aufzuschieben. Jetzt weiß sie Bescheid, daher können wir endlich zur Sache kommen.«

Marisols Augen glitzerten, und sie blinzelte hektisch. »Herzlichen Glückwunsch. Ich bin mir sicher, dass sie ganz entzückend ist.«

»Sie hat ein Temperament wie ein Wildfeuer und dazu noch eine scharfe Zunge.«

Marisols Blick wanderte zu Lara, und so viele Erkenntnisse huschten über ihre Gesichtszüge. Statt sie niederzustarren, wie Lara es gern getan hätte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Riss im Tisch. »Ich bin mir sicher, dass sie sehr schön ist«, fügte die andere Frau hinzu.

Aren schwieg für einen Moment. »So schön wie klarer Himmel über der Stürmischen See. Und genauso schwer fassbar.«

Laras Magen krampfte sich zusammen, als seine Worte zu ihr durchdrangen, ein Kompliment, eingehüllt in eine dunkle Wahrheit, die sie nicht leugnen konnte.

»Nun, das erklärt, warum du in sie verliebt bist«, sagte Marisol leise. »Herausforderungen haben dich schon immer fasziniert.«

Lara schnappte sich eins der kleinen Gläser und leerte seinen Inhalt. Es summte in ihren Ohren, während sie überall hinschaute, nur nicht in Arens Richtung.

Jor hüstelte laut, dann winkte er. »Wir brauchen eine frische Runde Getränke hier drüben.«

»Vielleicht mehr als nur eine.« Marisol setzte sich zu ihnen an den Tisch und nickte den Musikanten kaum merklich zu.

Sie stellten die Saiteninstrumente fort, holten Trommeln und Tambourins hervor und erfüllten den Raum mit ihrem Rhythmus. Junge Frauen in leuchtend bunten Kleidern tanzten zwischen den Tischen, und die Armbänder mit kleinen Glöckchen um ihre Handgelenke und Knöchel klimperten, während sie mit ihren Stimmen die Musik begleiteten. Sekunden später applaudierten die Gäste, und der Lärm machte es Lara schwer, ihre eigenen Gedanken zu hören.

Marisol klatschte zusammen mit den anderen im Raum. »Es gibt keinen Beweis dafür, dass der König seine Flotte vergrößert, um gegen die valcottanische Blockade zu kämpfen. Nicht einmal das winzigste Anzeichen dafür, dass das seine Absicht ist. Ich habe Informanten überall an der Küste, und keine einzige Schiffswerft rühmt sich eines Auftrags von der Krone.«

Lara blinzelte. Diese Frau war eine Spionin?

»Die Preise für Importwaren sind explodiert. Nahrungsmittel beschränken sich auf das, was Maridrina selbst produzieren kann, was sehr wenig ist, wenn man bedenkt, dass all unsere Bauern Soldaten geworden sind, und in den Städten herrscht zunehmende Hungersnot. Es wird erwartet, dass es noch schlimmer wird.«

Aren klatschte im Takt der Musik mit. »Amarid füllt die Lücke nicht? Ich hätte gedacht, dass sie sich auf diese Chance stürzen würden.«

Marisol schüttelte den Kopf. »Amaridische Soldaten weinen in jedem Hafen darüber, dass das Bündnis zwischen Ithicana und Maridrina ihr Geschäft zerstört und ihnen ihre Einnahmen nimmt.« Ihr Blick flackerte zu Aren. »Und jetzt, da das Bündnis nicht so funktioniert wie beabsichtigt, scheinen sie durchaus zufrieden damit zu sein, dass Maridrina den Preis dafür bezahlt.«

»Wie rachsüchtig von ihnen.«

Marisol nahm einen Schluck von ihrem Getränk, dann nickte sie. »Die Unterstützung des maridrinischen Volkes für den Konflikt mit Valcotta ist schon seit Jahren im Schwinden begriffen, denn niemand hat je geglaubt, dass etwas Gutes dabei entstehen könne. Aber seit der Vermählung der Prinzessin mit dem ithicanischen König und Valcottas darauf folgendem Vergeltungsschlag hat sich die Zustimmung für einen waschechten Krieg mit Valcotta verzehnfacht. Männer und Knaben stürzen sich auf die Anwerber der Armee und sehen sich als Retter ihres Volkes, und …« Marisol brach ab und warf einen schnellen Blick zu Lara.

»Und?«, hakte Aren nach.

»Und immer mehr Stimmen deuten an, dass das Bündnis des Fünfzehn-Jahres-Vertrages gebrochen werden sollte. Dass Ithicana, während Maridrina verhungert, weiter von dem Handel mit Valcotta profitiert. Dass das Bridge Kingdom, wenn es ein echter Verbündeter wäre, unseren Feinden die Zufahrt zum Hafen von Südwacht verwehren würde.« Marisol zog eine Schulter hoch und ließ sie wieder sinken. »Die Zugeständnisse, die Ithicana Maridrina eingeräumt hat, hatten nicht den geringsten Vorteil für unser Volk. Aber statt die Schuld bei König Silas zu suchen, machen sie Ithicana für alle Entbehrungen verantwortlich. Die Menschen brennen auf einen Krieg.«

»Maridrina wird verhungern, bevor das Volk jemals Nutzen aus diesem Bündnis zieht.« Arens Worte hallten in Laras Ohren wider. Wie recht er damit hatte.

Das Lied endete, die Tänzerinnen zogen sich auf ihre früheren Posten zurück, und die Musikanten wählten als Nächstes ein ruhigeres Lied. Marisol erhob sich. »Ich muss zurück an die Arbeit. Ich werde etwas zu essen schicken und Zimmer für dich und deine Mannschaft herrichten lassen.«

Ihr Vater, Serin … all ihre Meister. Sie hatten Lara und ihre Schwestern belogen. Das allein war keine große Offenbarung – ihr war bewusst gewesen, dass Ithicanas Niederträchtigkeit übertrieben gewesen war, dass ihr Vater und seinesgleichen sie ausgenutzt hatten, um die Mädchen zu Fanatikerinnen mit einem einzigen klaren Ziel zu formen: der Vernichtung von Maridrinas Unterdrückern. Aber bis zu genau diesem Augenblick hatte sie geglaubt, dass die Methoden ihres Vaters zwar abscheulich gewesen waren, dass seine Motive jedoch von Reinheit und Ehrlichkeit kündeten. Dass er das maridrinische Volk retten wollte. Dass er seine Untertanen ernähren und sie beschützen wollte.

Nur war nicht Ithicana der Unterdrücker. Ihr Vater war es.

Lara und ihre Schwestern waren nicht um ihrer Sicherheit willen auf dem Wüstengelände isoliert worden. Man hatte sie nicht dort festgehalten, um die Pläne ihres Vaters vor Ithicana zu verbergen, nicht wirklich. Das Manöver hatte dazu gedient, Lara und ihren Schwestern die Wahrheit vorzuenthalten. Denn wenn sie gewusst hätten, dass ihre Mission nicht von dem Verlangen getrieben wurde, ein Unrecht zu korrigieren, sondern von der endlosen Habgier ihres Vaters, wie bereitwillig hätte dann irgendeine von ihnen einen Ehemann verraten? Eine Nation zerstört? Ein Volk abschlachten lassen? Versprechungen, Drohungen und Bestechungen waren schäbige Motivatoren im Vergleich zu dem Fanatismus, der in ihre und in die Seelen ihrer Schwestern eingebrannt worden war.

Aber für Lara waren die Flammen dieses Fanatismus erloschen.