27
Aren

»Warum sind wir hier?« Jor bedeutete einem der Mädchen, eine weitere Runde Getränke zu bringen. »Weshalb gehen wir das Risiko der wilden See und des feindlichem Territoriums ein?«

Aren, der seine Mahlzeit auf dem Teller vor sich hin- und herschob, antwortete nicht. Lara war vor einer Stunde die Treppe hinauf zu ihrem gemeinsamen Zimmer gegangen, schweigend und mit bleichem Gesicht. Er hatte ihr eingeschärft, zu ihrer eigenen Sicherheit dort zu bleiben, bis er zurückkehrte. Er erwartete nicht, dass sie auf ihn hören würde.

Er hatte es gewusst. Als er neben ihr im Wasser auf der Schlangeninsel stand, hatte er es gewusst. All die kleinen Eigenheiten seiner maridrinischen Ehefrau, die kleinen Dinge, die ihm seltsam erschienen waren, hatten schließlich ein Gesamtbild ergeben, das sich nicht länger leugnen ließ.

Lara war eine Spionin.

Die Frau, in die er sich, gottverdammt noch mal, verliebt hatte, war eine Spionin.

In den frühen Tagen ihrer Ehe hatte er geglaubt, Laras offenkundige Abneigung gegen ihn rühre daher, dass man sie zu einer Heirat gezwungen hatte, die sie nicht wollte. Zu einem Leben, das kein Leben ihrer Wahl war. Aber der Schock auf ihrem Gesicht, als er ihr gesagt hatte, ihr Vater habe eine Chance bekommen, sein hungerndes Volk mit Nahrung zu versorgen, sich aber dann dafür entschieden, stattdessen Waffen zu erwerben, bedeutete, dass sie zusätzlich zu allem anderen auch noch belogen worden war.

Aren hatte genug eigene Spione, um zu wissen, dass die besten von ihnen glaubten, sie täten das alles für ein größeres Wohl. Der Rattenkönig würde in arge Bedrängnis geraten, einen Spion zu finden, der glaubte, Ithicana sei die Ursache für Maridrinas Not, daher hatte er selbst einen Spion erschaffen: eine Tochter, die in totaler Isolation großgezogen worden war, um ihr ein falsches Gefühl von Rechtschaffenheit einzuflößen.

Nur dass sie jetzt die Wahrheit kannte.

»Aren?« Jors Stimme war sorglos, aber Aren hatte noch nie erlebt, dass der Hauptmann seiner Wache vergaß, einen falschen Namen zu benutzen, vor allem wenn es um seinen König ging. Der ältere Mann war beunruhigt. Und das zu Recht. Ithicana steckte in der Zwickmühle.

Bevor Aren eine Gelegenheit hatte, zu antworten, trat ein Mitglied seiner Mannschaft in die Taverne und nickte einmal knapp. Aren wurde schwer ums Herz. »Das werdet Ihr gleich herausfinden.«

Draußen berichtete sein Wachposten: »Sie geht den Hauptboulevard hinauf. Gorrick hat sich auf ihre Fährte gesetzt.« Er reichte Aren seinen Bogen und den Köcher.

Aren nahm die Waffen kommentarlos entgegen und trat auf die Straße, dicht gefolgt von Jor. Vencia war überfüllt wie immer, und er brauchte ein Weilchen, um den hochgewachsenen Ithicaner zu finden, der seiner Frau folgte. »Geht zurück«, flüsterte er Gorrick zu, sobald er Lara im Blick hatte. »Wir übernehmen jetzt.«

Der Mann öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann sah er den Ausdruck auf Arens Gesicht und verschmolz mit der Menge.

Lara ging in der Mitte der Straße, immer noch in Maskerade, was bedeutete, dass die Trinker und Unruhestifter sie in Ruhe ließen. Während sie ihr folgten, fragte Aren sich, wie die Maskerade überhaupt irgendjemanden narrte. Wann immer sie den Kopf drehte, um etwas zu betrachten, das ihr Interesse erregt hatte, umrahmte Fackellicht die zarten Züge ihres Gesichtes, ihre vollen Lippen, den langen, schlanken Hals und die gerundete Wölbung ihres Pos. Ihren leicht wiegenden Schritt. Kein Schiffsjunge aus Harendell, dem er je begegnet war, hatte einen solchen Gang.

Sie war so schmerzhaft schön, und selbst das Wissen, dass sie ihre Schönheit gegen ihn eingesetzt hatte, verringerte nicht den machtvollen Sog, den sie auf ihn ausübte.

Er flehte lautlos: Bitte, mach, dass ich mich in dem irre, was du als Nächstes tun wirst.

Aber die Route, die Lara nahm, ließ sich nicht leugnen. Sie ging über die Serpentinenstraßen in die Richtung, in der der Palast ihres Vaters lag, dieses blau-goldene Zeugnis seiner grenzenlosen Selbstüberschätzung.

Jor fluchte, als auch ihm bewusst wurde, welches Ziel Lara anstrebte. »Wir müssen sie aufhalten.«

Aren wich einem betrunkenen Pärchen aus und trat in den Schatten der Gebäude. »Noch nicht.«

Je höher sie kamen, umso weniger Menschen füllten die Straße, aber Lara hatte sich kein einziges Mal umgedreht. Als sei es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass er sie beobachten lassen könnte.

»Was tut Ihr da?«, zischte Jor.

»Ich muss sehen, ob sie mich verraten wird, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommt.«

Aber in Wirklichkeit hoffte er, dass die Wahrheit sie bekehrt hatte. Dass sie jetzt, da sie vom Verrat ihres Vaters wusste, ihren Auftrag – was immer er auch sein mochte – aufgeben würde. Dass sie die Art Frau war, für die er sie hielt. Oder besser gesagt, er betete, dass sie sie war.

Sie ging weiter auf das Tor zu, und die Wachen, die es flankierten, musterten sie mit gelangweiltem Interesse: einen einzelnen Jungen, der ihnen nichts bedeutete. Aren blieb in der Dunkelheit stehen, wo die Wachen ihn nicht sehen konnten, und zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Der Bogen war sein eigener, aber das Holz fühlte sich unter seinen schwitzenden Fingern seltsam und fremd an.

Jor griff nach seiner Waffe. »Lasst mich das für Euch tun.«

Aren trat zur Seite, spannte den Pfeil ein und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe sie nach Ithicana geholt. Ich bin für sie verantwortlich.« Lara verlangsamte ihre Schritte nicht, und die Wachen am Tor merkten auf, als sie näher kam.

Einer der Männer rief ihr zu: »Was willst du, Junge?«

Lara antwortete nicht.

Wieder versuchte Jor, Aren die Waffe abzunehmen. »Ihr seid halb verliebt in das Mädchen. Ihr braucht Euer Gewissen damit nicht zu belasten.«

»Doch, das tue ich.«

Sie blieb ein Dutzend Schritte von den schweren Eisentoren entfernt stehen.

»Sag, was dein Anliegen ist, oder mach dich wieder auf den Weg«, rief der Wachposten.

Aren spannte langsam den Bogen und zielte mit dem Pfeil auf die Mitte ihres schlanken Rückens. Aus dieser Entfernung würde der Pfeil ihr Herz direkt durchstoßen. Sie würde tot sein, bevor sie ihn und Ithicana noch mehr vernichten konnte, als sie das bereits getan hatte.

Arens Herz hämmerte wild und hektisch, und heißer Schweiß vermischte sich mit dem Regen, der an seinem Rücken hinunterrann. Als er blinzelte, sah er sie fallen. Sah ihr Blut, das sich in einer Lache um sie herum sammelte. Sah diese verfluchten, wunderschönen Augen ihren Funken verlieren. Dann blinzelte er abermals, und sie stand reglos in der Dunkelheit da. Sie trat zögernd einen Schritt vor. Sein Arm zitterte.

Noch einen Schritt.

Die Sehne des Bogens grub sich in seine Finger, während er sie langsam durchdrückte, wohlwissend, dass er, obwohl er keine Wahl hatte, sich niemals verzeihen würde, sie getötet zu haben.

Sie schwankte, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Dann zuckte ein Blitz auf, und Lara wirbelte herum und rannte weg von den Toren. Jor riss Aren tiefer in die Schatten, als sie vorbeilief, zurück in die Stadt. Aren tat einen Schritt, um ihr zu folgen, als alles, was er zum Abendessen verzehrt hatte, in seiner Kehle aufstieg. Er stützte sich mit einer Hand an der Mauer des Gebäudes ab und erbrach sich auf die Straße.

»Folgt ihr«, brachte er mühsam heraus. »Sorgt dafür, dass sie sicher zurückgelangt.«

Erst als Jor die Straße hinunter verschwunden war, lehnte Aren den Kopf gegen den schleimigen, nassen Stein. Eine halbe Sekunde. Sie hatte den Unterschied ausgemacht, ob Lara in die Nacht hineinrennen oder tot auf der Straße liegen würde. Eine halbe Sekunde.

Der Gestank von Erbrochenem erfüllte seine Nase, aber das war es nicht, was seine Augen brennen ließ. Zornig rieb er darüber. Er hasste den König von Maridrina von ganzem Herzen. Das Bündnis zwischen Maridrina und Ithicana war ein Hohn auf dieses Wort, denn wie es schien, hatte er keinen größeren Feind als Silas Veliant.

»Du da«, rief jemand. »Hier wird nicht herumgelungert. Geh weiter!«

Aren warf einen letzten Blick hinter sich auf den Palast, in dem Laras Vater schlief, ehe er mit der Nacht verschmolz.