28
Lara

»Whiskey«, murmelte Lara dem Wirt zu und ließ sich im Singvogel auf einen Hocker sinken. Wasser tropfte aus ihren Kleidern und sammelte sich in einer Pfütze auf dem Boden unter ihr.

Der Wirt beäugte sie erheitert. »Kannst du bezahlen, Junge?«

»Nein«, blaffte sie. »Ich habe vor, das Glas zu leeren und dann durch die Hintertür hinauszulaufen.«

Die Erheiterung in seinen Augen erlosch, und er beugte sich über die Theke. »Hör mal, du kleiner …«

»Schätzchen, kannst du mir noch etwas Wein aus dem Keller holen?« Marisol erschien aus dem Nichts. »Ich regele das hier.«

Achselzuckend ging der Wirt zu einer offenen Tür hinter der Theke. Sobald er fort war, holte Marisol eine Flasche unter der Theke hervor, schenkte eine großzügige Menge in ein Glas und stellte es vor Lara hin. »Ich weiß nicht, wie man so etwas in Harendell handhabt, aber ich habe nicht die Absicht, zuzulassen, dass sich Kinder in meiner Taverne betrinken.«

Lara musterte sie mit einem kalten Blick, leerte das Glas und schob es der anderen Frau wieder hin. Anschließend griff sie in ihre Tasche, holte eine Goldmünze aus Harendell hervor und knallte sie auf die Theke. »Mach eine Ausnahme.«

Marisol zog eine Braue hoch. »Ihr seid ein entzückendes Persönchen, nicht wahr, Euer Majestät.«

»Verleihst du all deinen Gästen Titel?«

»Nur Frauen mit Augen so blau wie das der Veliant, die in der Gesellschaft ithicanischer Spione reisen.«

Es schien wenig Sinn zu haben, sie davon abbringen zu wollen. »Entweder schenkst du mir nach und redest gleichzeitig, oder du hältst den Mund. Ich bin nicht in der Stimmung dafür.« Nicht in der Stimmung für irgendetwas anderes, als die Fragen zum Schweigen zu bringen, die wild durch ihre Gedanken schossen, während sie versuchte, eine Welt zu begreifen, die auf den Kopf gestellt worden zu sein schien. Und gewiss war sie nicht in der Stimmung, mit Arens ehemaliger Geliebten zu plaudern.

Marisol schenkte erneut Whiskey ein, dann stellte sie die Flasche neben das Glas. »Ich habe Euch gesehen, als Ihr auf dem Weg nach Ithicana durch Vencia gekommen seid.« Sie stützte die Ellbogen auf das polierte Holz. »Der Vorhang der Kutsche war zurückgezogen, und ich habe einen flüchtigen Blick auf Euch erhascht. Ihr habt ausgesehen, als würdet Ihr in den Krieg ziehen, statt zu heiraten.«

Lara war tatsächlich in einen Krieg gezogen. Oder zumindest hatte sie das zu der Zeit gedacht.

»Der König hat befohlen, die Straßen zu räumen. Niemand durfte sein Haus verlassen, bis Ihr an Bord des Schiffes wart. Zu Eurem Schutz, hieß es.«

Es hatte nichts mit ihrem Schutz zu tun gehabt. Es war ein letzter Schritt gewesen, um sicherzustellen, dass Lara, wenn sie an Bord des Schiffes ging, immer noch davon überzeugt war, Maridrina litte schreckliche Not und Ithicana trage die Schuld daran. Ein letzter Teil des Täuschungsmanövers.

»Dann haben Sie Euch auf das Schiff verfrachtet, und Ihr wart fort. Auf dem Weg nach Ithicana und – obwohl ich das damals noch nicht wusste – auf dem Weg, mir den Liebhaber zu stehlen, den ich von allen am meisten mochte.«

Lara schenkte ihr ein süßes Lächeln. »Wenn man bedenkt, dass du ihn seit über einem Jahr nicht gesehen hast, bin ich mir nicht sicher, wie viel Anspruch du damals auf ihn hattest. Falls du je einen Anspruch hattest.«

»Ihr seid ein richtiges kleines Miststück, nicht wahr?«

Lara pflückte Marisol das Glas, das sie polierte, aus den Händen, füllte es auf und wartete darauf, dass die andere Frau es hob und mit ihr anstieß. »Darauf trinke ich.«

Marisol leerte das Glas mit einem einzigen Schluck und stellte es beiseite. »Wir hatten erwartet, dass die Dinge sich ändern würden. Dass Euer Vater seine dreckigen Steuern senken oder das Geld zumindest für etwas Besseres benutzen würde als seinen endlosen Krieg mit Valcotta.«

»Aber es hat sich nichts geändert.«

Marisol schüttelte den Kopf. »Wenn überhaupt, ist es nur noch schlimmer geworden.«

»Da fragt man sich wirklich, warum ich mir die Mühe gemacht habe, nach Ithicana zu reisen.« Nur dass Lara genau wusste, warum sie nach Ithicana gegangen war. Um ihre Schwestern zu retten. Um ihr Königreich zu retten. Um sich selbst zu retten. Doch in diesem Moment fragte sie sich fast, ob sie sie dadurch nicht alle dem Untergang geweiht hatte.

»Ich nehme an, das war nicht Eure Entscheidung.« Marisols Blick wanderte zu einem Punkt hinter Lara, und sie beobachtete das Kommen und Gehen im Schankraum. »Ich weiß nur, dass Ihr den besten Mann geheiratet habt, den ich je kennenlernen durfte. Statt Eure Kümmernisse zu ertränken, solltet ihr daher vielleicht eine bessere Verwendung Eurer Zeit in Betracht ziehen.« Sie neigte den Kopf. »So oder so, ich hoffe, Ihr genießt Euren Abend, Euer Majestät.«

»Gute Nacht«, murmelte Lara und füllte ihr Glas noch einmal auf. Sie wusste, dass Aren ein guter Mann war. Ihre Instinkte, denen sie hätte trauen sollen, schrien ihr das schon länger zu, als sie zugeben mochte, aber sie hatte es zugunsten dessen, was man ihr erzählt hatte, ignoriert. Sie war übertölpelt und manipuliert worden. Ihr Vater und alle um ihn herum hatten mit ihr gespielt.

Sie war zum Palast gegangen, um ihren Vater zu töten.

Ihr Plan war es gewesen, die Codes zu benutzen, die sie bekommen hatte, um sich Zutritt zu verschaffen, dann hatte sie warten wollen, bis man sie zu ihrem Vater brachte – um ihn zu töten. Mit bloßen Händen, wenn nötig. Es war schließlich nicht so, als sei sie nicht dazu ausgebildet worden. Danach hätten sie sie getötet, aber sein Tod wäre es wert gewesen. Wäre diesen Moment wert gewesen, in dem ihr Vater begriffen hätte, dass sie, seine preisgekrönte Waffe, sich gegen ihn gewandt hatte.

Aber als Lara im strömenden Regen vor den Toren gestanden hatte, während die Soldaten ihres Vaters sie mit gelangweiltem Interesse beobachtet hatten, war Meister Eriks Stimme in ihre Gedanken gedrungen: »Lasst nicht zu, dass Euer Temperament die Oberhand gewinnt, kleine Kakerlake. Denn wenn Ihr das tut, geht Ihr das Risiko ein, dass Eure Feinde die Oberhand über Euch gewinnen.«

Es wäre eine Sache gewesen, wenn nur sie allein für diesen Kontrollverlust bezahlt hätte. Aber als sie dort gestanden hatte und ein sechster Sinn ihre Haut hatte kribbeln lassen, um sie vor einer Gefahr zu warnen, war Lara der Gedanke gekommen, dass es Ithicana – und Aren – sein würden, die den Preis zahlen würden. Die Papiere in Arens Räumen in Mittwacht trugen noch immer sämtliche Geheimnisse der Brücke. Wenn auch nur eins davon Serin in die Hände fiel … Das wäre ein Schaden, der sich niemals würde beheben lassen. Sie musste sicherstellen, dass diese Papiere vernichtet wurden. Sobald sie das bewerkstelligt hatte, konnte sie sich mit gutem Gewissen der Rache an ihrem Vater verschreiben.

Sie war zurückgekehrt, in der Absicht, Aren einen Brief zu hinterlassen, in dem sie alles erklärte und ihn anwies, die Papiere zu vernichten, aber die Vorstellung von Arens Gesicht, wenn er den Brief las, wirbelte immer wieder durch ihre Gedanken. Er, der bis ins Mark loyal war, würde ihren Akt der Treulosigkeit persönlich nehmen. Er würde sie hassen. Lara kippte den Inhalt ihres Glases mit großen Schlucken hinunter und wünschte, der Alkohol würde schneller wirken. Wünschte, er würde ihr verräterisches Herz betäuben.

Während sie ihr Glas ein ums andere Mal wieder auffüllte, grübelte sie vor sich hin, bis die Flasche leer war, doch der Whiskey trug nichts dazu bei, den dumpfen Schmerz in ihrer Brust zu lindern. Sie hätte eine weitere Flasche bestellt und auch diese geleert, aber es war niemand mehr da, der sie bedient hätte. Alle Flaschen und Gläser waren für die Nacht weggeräumt worden, und im Raum herrschte vollkommene Stille.

Lara erhob sich, drehte sich um und stellte fest, dass die Schenke menschenleer war. Die Stühle waren an die Tische gerückt worden, der Boden gefegt und die Tür verriegelt. Ohne jedwedes Leben. Bis auf Aren, der an dem Tisch hinter ihr saß.

Sie musterte ihn mit trüben Augen, und ihr Herz fühlte sich an, als sei es in Tausende Stücke zerrissen und dann in Brand gesteckt worden.

»Wartest du darauf, dass ich ins Bett gehe, damit du dich auf die Suche nach Marisol machen kannst?« Die Worte klangen genuschelt. Boshaft. Aber sie wünschte beinahe, er würde es tatsächlich tun, und sei es nur, um ihr einen triftigen Grund zu geben, ihn zu hassen. Einen triftigen Grund, fortzugehen und niemals zurückzublicken.

Einer seiner Mundwinkel zuckte in die Höhe. »Was denkst du, wer mich hergeholt hat, damit ich mich um meinen kleinen Cousin mit dem frechen Mundwerk kümmere?«

Lara verzog das Gesicht. »Sie weiß, dass ich nicht dein Cousin bin. Sie weiß genau, wer ich bin, und das bedeutet, dass sie auch weiß, wer du bist.«

»Schlaue Marisol.«

»Macht dir das keine Sorgen?«

Aren schüttelte den Kopf, dann erhob er sich. Seine Kleider waren nass, aber was immer sich an Regenwasser in ihnen gesammelt hatte, war lange getrocknet. Seit wann saß er schon dort?

»Sie spioniert seit fast einem Jahrzehnt für Ithicana – seit dein Vater ihren erhängen und dann seinen Kopf auf Vencias Tore aufspießen ließ. Sie ist loyal.«

Eifersüchtige Worte tanzten auf Laras Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. »Sie ist wunderschön. Und freundlich.«

»Ja.« Sein Blick war intensiv. »Aber sie ist nicht du.«

Lara schwankte, und der Raum drehte sich um sie herum. Aren überwand den Abstand zwischen ihnen mit zwei Schritten und hielt sie aufrecht. Gab ihr Halt. Sie schloss die Augen, damit der Raum sich nicht mehr länger um sie drehte, aber stattdessen stieg die Erinnerung an Arens harten, muskulösen Leib in ihr auf, an seine gebräunte Haut unter ihren Fingern. Hitze erblühte tief in ihrem Bauch.

Das darfst du nicht, sagte sie sich. Du bist eine Lügnerin und Verräterin. Du bist nicht die Frau, für die er dich hält, und du kannst sie auch niemals sein. Du kannst niemals du selbst sein. Nicht ohne zu riskieren, dass er die Wahrheit erfährt. Wenn Lara den Mut nicht aufbringen konnte, ihm die Wahrheit selbst zu sagen, dann musste sie nach Ithicana zurückkehren, um alle Beweise ihres Verrats zu vernichten, und danach verschwinden. Ihren Tod vortäuschen. Nach Maridrina gehen und Rache nehmen.

Und Aren nie wiedersehen.

Ihre Augen brannten, und ihr Atem drohte, zu einem Schluchzen zu werden und sie zu verraten.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie biss die Zähne zusammen. »Ich fühle mich nicht gut.«

»Was keine Überraschung ist, nach der Menge Whiskey, die du getrunken hast. Du hast übrigens den Geschmack eines Mitglieds der königlichen Familie. Das war keine billige Flasche.«

»Hab sie selbst bezahlt.« Sie sprach ganz langsam, damit die Worte nicht so genuschelt herauskamen.

»Du meinst, mit den Münzen, die du auf meinem Schiff gestohlen hast.«

»Wenn du so dumm bist, sie herumliegen zu lassen, verdienst du es nicht anders.«

»Tut mir leid. Den letzten Satz habe ich bei dem ganzen Nuscheln nicht verstanden.«

»Arschloch.«

Er lachte. »Kannst du gehen?«

»Ja.« Sie löste sich aus seinem Griff und taumelte auf die Treppe zu, als ihr die unterste Stufe ganz plötzlich entgegenkam. Aber bevor Lara mit dem Gesicht voraus auf das Holz fallen konnte, fing Aren sie auf und schwang sie auf seine Arme. »Lass uns das Schicksal nicht herausfordern.«

»Brauche nur Wasser.«

»Du brauchst ein Kissen. Vielleicht hast du Glück, und der Sturm hält lange genug an, dass du deinen Rausch ausschlafen kannst, aber ich bezweifle es.«

Lara gab dicht an seiner Brust einen verärgerten Laut von sich, aber sie tat es mehr um ihrer selbst willen. Wegen der Gelassenheit, mit der sie sich an ihn schmiegte. Wegen der Erkenntnis, wie reizvoll einige weitere Nächte mit ihm sein würden, obwohl sie das Unausweichliche auf diese Weise nur hinausschob.

»Hat der Whiskey geholfen?«

»Nein.«

»Mir hat er auch nie wirklich geholfen.«

Eine Träne rann über ihre Wange, und sie drehte das Gesicht an seine Brust, um sie zu verbergen. »Es tut mir leid, dass ich so schrecklich gewesen bin. Du verdienst jemand Besseren als mich.«

Aren stieß den Atem aus, sagte jedoch nichts. Seine gemäßigten Bewegungen, als er die Treppe hinaufging, lullten sie ein, und sie driftete langsam weg. Sie wehrte sich nicht dagegen, denn trotz allem vertraute sie ihm uneingeschränkt. Dennoch war sie noch klar genug, um seine heiseren Worte zu hören: »Seit ich dich in Südwacht zum ersten Mal gesehen habe, hat es keine andere als dich gegeben. Selbst wenn es bedeutet, dass ich ein gottverdammter Narr bin, es wird niemals eine andere als dich geben.«

Du bist ein Narr, dachte sie, als die Dunkelheit sie umfing.

Und damit waren sie dann schon zu zweit.