Erster Teil

Ein Gentleman erhält Post

» Vielleicht gibt es auf dem Jahrmarkt des Lebens

keine besseren Satiren als Briefe. «

William Makepeace Thackeray (1811–1863)

KAPITEL 1

6 Camden Villas, Kennington, London

Die zwanglose Einladung zum Tee hatte sich für Donald Swanson als die offizielle Verlobungsfeier der Nachbars­tochter entpuppt. Außer Swanson wusste offenbar halb London darüber Bescheid. Die Millers hatten sogar eine Anzeige in einigen Zeitungen veröffentlicht. Sie gehörten ganz augenscheinlich zur besseren Gesellschaft.

Mary Ann Miller, die Mutter der Braut, war eine schlanke, auf den ersten Blick etwas abweisend wirkende Frau Anfang Vierzig. Allerdings hatte sie ihn und Annie wie alte Freunde willkommen geheißen und sich alle Mühe gegeben, Swanson mit den meisten Gästen bekannt zu machen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, auf dieser Gesellschaft fehl am Platze zu sein. Während Annie offenbar auf Du und Du mit der gesamten Nachbarschaft stand, kannte Swanson die meisten nur vom Sehen. Allein mit Ernest Miller, dem Hausherrn, hatte er zuvor einmal einige Worte gewechselt, doch über ein ‚Guten Tag‘ oder ‚Das Wetter scheint sich diese Woche zu halten‘ waren ihre Gespräche nie hinausgekommen. Dennoch schienen alle hocherfreut, ihn zu Gast zu haben. Swanson stellte den Umschlag mit der Glückwunschkarte – in die Annie heimlich zwei Pfund gelegt hatte, was sie ihm erst gestand, als sie bereits geläutet hatten – zu den übrigen Geschenken des Verlobungspaares auf den extra dafür angerichteten Tisch und nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken.

Nach dem Tee war man zu Champagner übergegangen.

»Miss Heather hat sich einen ausgesprochen adretten jungen Mann auserkoren, findest du nicht auch«, sagte Annie Swanson eben halblaut zu ihrem Mann. Sie hielten sich im Wohnzimmer der Millers auf, das Mary Ann Miller hartnäckig ihren Salon nannte. Außer Swanson und seiner Frau waren noch zehn oder zwölf andere Personen anwesend. »Mr Henry Armitage ist sehr adrett«, fuhr Annie fort. »Steif und ein bisschen langweilig.«

Swanson stellte das halbvolle Glas Champagner, das er seit einer Viertelstunde in den Händen hielt, auf einem klobigen, kleinen Tischchen bei der Tür zum Hausflur ab. »Ich wusste gar nicht, dass du zum Tratschen neigst, meine Liebste.«

»Aber gar nicht, Don.« Mit einer Spur Entrüstung im Blick, sah sie ihn an.

»Adrett, aber langweilig«, wiederholte Swanson.

»Das ist kein Tratsch. Das ist eine rein sachliche Feststellung. Schau ihn dir an. Schlank, großgewachsen, ein beeindruckender Schnurbart. Er ist adrett. Das willst du doch wohl nicht bestreiten?«

»Keineswegs.«

»Und er arbeitet in einer kleinen Kanzlei als Schreiber. Kommt abends heim, zieht seine Pantoffeln an und hat den lieben langen Tag nichts anderes als Paragraphen und Aktennummern gesehen. Wie aufregend kann das sein?« Sie blickte ihn herausfordernd an. »Mit einem Wort: Er ist langweilig.«

Das sind drei Wörter, Liebes, dachte Swanson bei sich. Er sagte: »Langweiler haben es nicht unbedingt am schlechtesten getroffen.«

»Nun, natürlich nicht, Don – aber ihre Frauen haben es auf lange Sicht. Daran besteht kein Zweifel.«

Donald Swanson war der Einladung der Millers zur offiziellen Verlobungsfeier ihrer Tochter bloß gefolgt, weil Annie gemeint hatte, sie müssten gehen. Immerhin seien sie vis-à-vis ihre direkten Nachbarn, und gesellschaftlich gehöre es sich so. Schließlich stelle er als Chief Inspector etwas dar, beim Yard. Und überhaupt sei es für die Millers eine Ehre, einen solch berühmten Mann unter ihren Gästen willkommen heißen zu können.

Es hätte keinen Sinn gehabt, Annie zu erklären, dass er alles andere war als berühmt und dass es gewisse Kreise im Yard gab, die sogar bezweifelten, dass er überhaupt etwas darstellte – doch er hatte sich gefügt. Denn es gab wenig, was Annie im Laufe ihrer langen, glücklichen Ehe je von ihm gefordert hatte. Eigentlich fielen ihm nur zwei Dinge ein: nämlich, dass er die stinkenden Zigarren, die er so liebte, nicht in ihrer oder der Kinder Gegenwart rauchte, und, dass er immer ehrlich zu ihr war. Seine unorthodoxen Arbeitszeiten, sein Schweigen über die Arbeit, die Angst einer Polizistengattin, jeden Tag die Nachricht erhalten zu können, ihr Mann sei in Ausübung seiner Pflicht einen ehrenvollen Tod gestorben … All das ertrug Annie seit Jahr und Tag mit einer stoischen Gelassenheit, für die er selbst nur Hochachtung übrig hatte. Sie im Gegenzug zu dieser Feierlichkeit zu begleiten, ein wenig Konversation zu machen und über die liebste Freizeitbeschäftigung aller Polizisten zu plaudern – die Gartenarbeit – war dagegen ein weitaus kleineres Übel.

Zu Swansons Überraschung war die Verlobungsfeier wesentlich anregender, als er es sich vorgestellt hatte. Mochte Henry Armitage, der angehende Bräutigam, selbst auch noch so langweilig sein – der Mann hatte abseits der floskelreichen Gespräche über die anstehende Hochzeit kaum einen Satz gesprochen – von einigen seiner Gäste konnte man das gewiss nicht sagen.

Swanson hatte Gelegenheit gehabt, sich mit Hermann Ringelblum zu unterhalten, einem deutschen Schriftgelehrten, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach und in Berlin indische Geschichte lehrte. Da Ringelblum ein freundschaftliches Verhältnis zu Hans Gross unterhielt, dem bekannten österreichischen Kriminologen, nahm es kaum Wunder, dass man auch auf Swansons Arbeit zu sprechen gekommen war.

»Wie es der Zufall will, las ich heute Morgen in der Daily Mail einen interessanten Bericht über den Fund einer skelettierten Kinderleiche vorgestern irgendwo in der Nähe von Baron’s Court«, sagte Ringelblum, paffte an seiner Zigarre und fuhr sich mit der Hand über sein dünnes Haar, während er mit hängenden Lidern den Rauchschwaden dabei zusah, wie sie zur Zimmerdecke aufstiegen. »Haben Sie mit dem Fall zu tun?«

»Soviel ich weiß, liegt die Sache noch bei der örtlichen Polizei«, entgegnete Swanson, der das Wenige, was er überhaupt darüber wusste, heute Morgen im Vorbeigehen auf dem Flur von Walter Dew gehört hatte. »Zwei Spaziergänger stießen wohl darauf. Wenn Sie es in der Zeitung gelesen haben, Professor, sind Sie sicher besser informiert, als ich.«

»In der Zeitung schrieben sie, es habe sich um die Leiche eines Säuglings gehandelt. Er war wohl unter einem Haufen Steine und Erde versteckt, die jemand an einer Mauer aufgeschichtet hatte – angeblich vor vielen Jahren schon, hieß es in der Mail.«

»Wie gesagt – Sie sind besser informiert als ich.«

»Ich frage mich«, murmelte Ringelblum in gelangweiltem Ton zwischen zwei Zügen an seiner Zigarre, »was das für Leute sind, die des nachts auf einem verlassenen Friedhof spazieren gehen. Was denken Sie?«

»Menschen, die ihre Ruhe haben wollen?«

»Hm.« Sekundenlanges Schweigen. »Oder zwielichtige Subjekte, die eine Leiche loswerden wollen. Welcher Ort wäre dafür besser geeignet als ein Friedhof?«

»Nur, dass in dem Fall eine Leiche gefunden wurde«, sagte Swanson.

Ein Rauchkringel stieg langsam zur Decke und löste sich auf. »Ablenkung«.

»Ablenkung?« Swanson fragte sich, ob Ringelblum ernsthaft an das glaubte, was er sagte. »Sie meinen, jemand könnte die Leiche dorthin gebracht haben, um dann so zu tun, als habe er sie entdeckt?«

Der Professor für indische Geschichte strich in aller Seelenruhe die Asche von seiner Zigarre an der Untertasse ab, die auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel stand, lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Dann faltete er, die Zigarre noch zwischen den Fingern, die Hände auf der Brust und fragte: »Ist das so abwegig?«

»Es wäre einfacher gewesen, ein Loch in einem frischen Grab auszuheben und den Säugling hineinzulegen.«

»Schon möglich.«

»Sagten Sie nicht außerdem, die Steine seien schon vor Jahren aufgeschichtet worden.«

Wieder folgte ein langes Schweigen. Als Swanson schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, legte Ringelblum die Zigarre auf die Untertasse und meinte mit altersmüder Stimme: »Der Steinhaufen war aufgebrochen. Vor Ewigkeiten aufgeschichtet, aber aufgebrochen. Vor Ewigkeiten …«

»Aufgebrochen? Was genau meinen Sie damit?«

»Das … ja das ist das Rätsel.«

Erst Minuten später hatte Swanson gemerkt, dass der Professor längst eingeschlafen war.

Und er war einem jungen Zeichner und Maler namens Howard Carter vorgestellt worden, dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, in Ägypten Ausgrabungen zu begleiten und Reliefs und Grabinschriften zu kopieren.

»Haben Sie selbst auch schon was ausgegraben, junger Mann?«, fragte Swanson.

»Dummerweise nein. Flinders Petrie lässt mich nicht.« Carter schüttelte den Kopf. Und als Swanson ihn nur fragend anschaute: »Sie haben natürlich von ihm gehört.«

Swanson sagte der Name nichts. »Nein. Nein, tut mir leid. Ich fürchte, Ägypten fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich bin nur für die Leichendiebe in England verantwortlich, Mr Carter.«

Carter lachte schadenfreudig. »Oh, das würde dem alten Ziegenbock aber gar nicht gefallen. Hält sich für sonst wen. Führt ein ziemlich strenges Regiment, kann ich Ihnen sagen. Und mich hält er nicht für begabt genug. Sagt, die Grabungen seien zu selten und zu teuer, um von mir verpfuscht zu werden«. Er biss frustriert die Zähne zusammen, sodass die Muskeln seines Kiefers wie Walnüsse hervorstanden und schüttelte wieder den Kopf.

Swanson schaute ihn eine Weile schweigend an. »Wollen Sie meinen Rat?«

Carter schien belustigt. »Den Rat eines Polizisten, meinen Sie?«

»Nein. Lediglich den Rat eines Mannes, der ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat als Sie. Den Rat eines Mannes, dem jede Woche irgendwer, der es vermeintlich besser weiß, sagt, er könne etwas nicht tun.«

Carter nickte.

»Gut. Wenn Sie im Leben vorankommen wollen, merken Sie sich eins: Die Meinung anderer Menschen hat mit Ihnen rein nichts zu tun. Nur, weil Ihnen jemand sagt, Sie seien zu etwas nicht in der Lage, bedeutet das nicht, dass das zutrifft. Denken Sie an Darwin. Und denken Sie an Galileo Galilei. Wichtig ist allein Ihre Wahrheit. Begehen Sie nicht den Fehler, die Wahrheit der anderen zu Ihrer zu machen.«

»Das ist einfacher gesagt als getan, Mr Swanson.«

»Und doch der ganze Trick. Wenn Sie etwas tun wollen, tun Sie’s. Sie brauchen niemandes Zuspruch. Wenn Sie ehrlich mit sich sind, fürchten Sie nämlich nicht die Ablehnung. Sie fürchten das Gefühl, dass sie in Ihnen auslöst. Halten Sie es aus.« Er lächelte hinter seinem Schnurrbart. »Verfolgen Sie Ihr Ziel, junger Mann. Wenn Sie es versuchen und scheitern, können Sie immerhin sich selbst die Schuld dafür geben. Wenn Sie auf den Ziegenbock hören, geben Sie zwar die Verantwortung ab, aber dann sind Sie bereits gescheitert.«

»Meine Güte, Sie haben recht, Mr Swanson! Ich sage Ihnen was: Eines Tages werde ich auf eigene Faust nach Theben reisen und Ausgrabungen leiten. Es gibt da dieses Tal nordwestlich von Luxor. Das Tal der Könige nennen sie es …« Er sprach noch eine Weile weiter, bis ihm die Geschichten ausgingen.

Auf seine vermeintliche Lieblingsbeschäftigung, die Gartenarbeit, angesprochen, hatte Swanson es nicht gewagt, zu gestehen, dass er von nichts weniger eine Ahnung hatte und gerade mal Rosen von Tulpen zu unterscheiden vermochte. Seine Grabungen im Garten waren noch seltener als die Carters – nur weniger teuer, wenn er Fehler machte.

So war der Abend vergangen.

KAPITEL 2

»Gladys, meine Liebe, ich muss dir erzählen, was Ada gestern geschehen ist …«, hörte er Annie neben sich sagen. Und schon huschte sie zu einer alterslosen Dame mit einem breiten, teigigen Gesicht hinüber, legte Gladys einen Arm um die Schultern und führte sie zu einer Sitzgruppe bei den Erkerfenstern.

Swanson nahm sein Champagnerglas auf und sah sich um.

Howard Carter, der Zeichner und angehende Archäologe war mittlerweile umringt von drei Damen und zwei Herren und erzählte vermutlich von den Reisen nach Ägypten, die er in einer fernen Zukunft zu unternehmen gedachte. Professor Ringelblum döste trotz des Stimmgewirrs in einem Sessel – seine glimmende Zigarre noch zwischen den Fingern – und die Verlobten strahlten und lächelten im Gespräch mit einem älteren Ehepaar, das später gekommen war, und mit dem Swanson im Laufe des Abends noch nicht ein Wort gewechselt hatte, als plötzlich die Türglocke ertönte.

Es war ein unangenehmes Geräusch, denn der Klingeldraht wurde mehrmals in rascher Folge gezogen. Sämtliche Gespräche verstummten für den Moment und kamen erst wieder schleppend in Gang, als Ernest Miller den Salon verließ, um zur Haustür zu gehen. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. Blass im Gesicht. Wiederholt strich er sich über die wenigen Haare auf seinem Kopf. Auf Swanson wirkte er, als habe er eben eine erschütternde Nachricht erhalten. Mit steifen Schritten trat er auf Henry Armitage zu, reichte ihm einen kleinen, blauen Briefumschlag und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr.

Swanson bemerkte, wie Armitage seinen grauen Binder lockerte, lächelte und – ja, betroffen, richtiggehend beunruhigt wirkte. Er nickte, dann lächelte er wieder, blickte kurz zu Heather Miller und verließ mit dem Brautvater den Raum, den kleinen Umschlag in der Hand.

Nun, da Annie sich mit Gladys unterhielt, stand Swanson allein da, ein leeres Champagnerglas in der Hand und kam sich ein bisschen verloren vor. Er sah die Mutter der Braut ebenso allein an der offenen Tür zum Nebenzimmer stehen, in dem ihr Gatte und Henry Armitage verschwunden waren, den Gästen den Rücken zugewandt. Als Swanson zu ihr trat und sie ansprach, fuhr sie erschrocken zusammen.

»Es war nicht meine Absicht, Ihnen einen Schrecken einzujagen«, sagte er freundlich und bemühte sich um ein Lächeln.

»O, bitte entschuldigen Sie, Mr Swanson.« Auch sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. »Die Aufregung. Es ist schrecklich aufregend mit den vielen Gästen. Ich bin derlei nicht gewohnt, wissen Sie? Man hat kaum eine ruhige Minute.« Wieder lächelte sie. Sie war auf eine kühle Art attraktiv, das dunkle Haar kunstvoll hochgesteckt. Ihre Lippen waren schmal, was ihnen einen etwas strengen Zug verlieh.

Swanson nickte. »Das kann ich gut verstehen. Gott sei‘s gedankt, bleibt mir noch etwas Zeit, bis sich in unserem Haus jemand verlobt.« Er sah an ihr vorbei in das kleine Zimmer und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, Mary Ann Miller habe versucht, ihren Mann und Heathers Verlobten zu belauschen. Beide standen an einem geöffneten Wandtresor und waren so tief in ein leises Gespräch vertieft gewesen, dass sie weder Mrs Miller, noch ihn bemerkt hatten. Erst als sie jetzt ins Zimmer trat und den Türknauf ergriff, blickten beide her.

»Lasst euch nicht stören«, sagte Mrs Miller fröhlich und schloss die Tür. »Ich bitte um Verzeihung, Mr Swanson – was sagten Sie?«

»Es war nicht wichtig. Kommen Sie, setzen wir uns, wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben, und erzählen Sie mir von dem glücklichen Liebespaar. Ich fürchte, ich habe alles vergessen, was meine Frau mir über Ihre reizende Tochter und ihren Verlobten erzählt hat.«

Sie gingen zum Sofa hinüber. Ehe sie sich setzten, hob Mary Ann Miller ein sorgfältig gefaltetes, beiges Taschentuch auf, das auf der Sitzfläche lag. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die roten, kunstvoll eingestickten Initialen, die eine der Ecken verzierten und meinte: »Das gehört Henry. Der liebe Junge lässt ständig und überall etwas herumliegen.« Sie schnalzte ein paar Mal tadelnd mit der Zunge und steckte es sich in den Ärmel ihres Kleides. »Männer. Noch nicht verheiratet, und schon erwarten sie, dass man ihnen alles hinterherträgt.«

»Ich habe Annie damals bei einer Tanzveranstaltung kennen gelernt«, sagte Swanson, der nicht wusste, wie er den Brief, der bei Armitage und ihrem Gatten für solche Beunruhigung gesorgt hatte, zur Sprache bringen sollte. Da war es günstiger, erst mal beim Thema zu bleiben. »Und mich Hals über Kopf in sie verliebt. Das ist heutzutage sicher alles ganz anders, nehme ich an.«

Sie machte ein ernstes Gesicht, und für einen Augenblick glaubte er, mit seiner Offenheit eine Indiskretion begangen zu haben. Das Leben eines Polizisten war in der Regel wenig taktvoll. Da kam man leicht aus der Übung. Doch seine Sorge schien unbegründet zu sein. Mrs Miller lachte perlend und meinte dann: »Ernest sprach mich in dem Blumenladen meines Onkels in West Kensington an, in dem ich als junges Mädchen aushalf. Ich wohnte bei der Familie, da meine Eltern beide bereits früh verstarben.«

»Das tut mir leid.«

»Oh, es ist so lange her. Es ist kaum noch wahr. An meinen Vater erinnere ich mich noch. Ein strenger Mann mit einem rauschenden Bart. Er kam bei einem Kutschunfall ums Leben.«

»Und Ihre Frau Mutter?«

»Sie starb ein oder zwei Jahre nach meiner Geburt. Ich war zu klein, um mich noch an sie zu erinnern. Jedenfalls lebte ich damals bei meinem Onkel. Er war der Bruder meines Vaters, wissen Sie? Er war alleinstehend und brauchte Hilfe im Geschäft. Das war wohl der Grund, weshalb er mich bei sich aufnahm und großzog.« Sie blickte für einige Sekunden ins Leere, so als zögen die Erinnerungen wie blasse Schleierwolken vorüber. Dann besann sie sich wieder und sagte: »Aber was rede ich denn da? Sie fragten mich nach Heather und Henry.«

Er lächelte verschwörerisch und senkte die Stimme. »Lernten sie sich ebenfalls in einem Blumenladen kennen, Mrs Miller?«

»Nein, nein.« Sie winkte schmunzelnd ab. »Heather traf Henry in der Kanzlei, in der er arbeitet. Mein Mann hat gelegentlich den ein oder anderen Vertrag zu schließen, und Heather brachte die Entwürfe dorthin. Mit der Zeit …« Sie hielt wieder inne. »Mit der Zeit wurden sie sich wohl sympathisch.« Sie nickte, wie um ihre Worte zu unterstreichen.

Eine ungewöhnliche Formulierung, fand Swanson. »Es wird sicherlich ein wenig mehr als bloße Sympathie im Spiel gewesen sein.«

»Nichtsdestotrotz ist sie immer der Anfang«, entgegnete Mrs Miller bestimmt. »Ist man sich nicht sympathisch, wird kaum mehr aus einer Begegnung erwachsen. War Ihnen Annie nicht auch zuerst sympathisch, Mr Swanson?«

Sie hatte Recht. So merkwürdig es zunächst für ihn geklungen hatte. »Das war sie. Ja. Und wie.« Jetzt musste er lachen, während er an den Tag dachte, als sie für ihn die Zigarre aufgehoben hatte. Sie war ihm aus der Tasche gefallen, als er sich vor Annie verbeugt hatte, um sie zum Tanz aufzufordern. ‚Wagen Sie es ja nicht, das scheußliche Ding anzuzünden, ehe Sie sich verabschiedet haben´, hatte sie zu ihm gesagt. Eine mutige, unkonventionelle Frau. Das hatte ihm gefallen. Es gefiel ihm noch. »Ihr zukünftiger Schwiegersohn ist ein junger, stattlicher Mann. Hat er vor, seine eigene Kanzlei zu gründen?«

»Darüber weiß ich nichts, Mr Swanson«, sagte sie. »Das sind die Fragen, die ich Ernest überlasse. Ich bin zufrieden, wenn meine Heather glücklich ist.« Sie schaute kurz zum Arbeitszimmer hin, dessen Tür noch geschlossen war.

»Für mich sieht es ganz danach aus.«

»Mein Mann und ich sorgen gut für sie. Sie ist unser ein und alles. Wir haben ein wenig gespart. Selbst ohne Henry zu heiraten, würde sie zurechtkommen.« Wieder nickte sie mit Nachdruck. »Sie wird zweiundzwanzig nächsten Sommer. Und sie möchte natürlich vorher verheiratet sein.«

»Wo die Liebe ist, da ist auch Eile«, sagte Swanson. »Das war schon immer so, fürchte ich.«

»Ja. Ja, durchaus. Und doch, es ist eine recht kurze Verlobungszeit. Ich finde, man lernt einen Menschen erst richtig kennen, wenn die Verliebtheit bereits ein wenig verblasst ist.«

Um ihr Gelegenheit zu geben, es von sich aus anzusprechen, falls es da etwas gab, das sie beunruhigte, sagte er: »Aber, aber, Mrs Miller, das klingt ja beinahe so, als hegten Sie Zweifel an der Verbindung.«

»O, nein, nein, gewiss nicht.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es ist nur so, dass verliebte junge Leute keine Ahnung davon haben, was die Ehe bedeutet. Ist es nicht so? Heather und Henry kennen sich kaum ein Jahr. Wie gut weiß man da schon über den anderen Bescheid? Im Grunde ist man sich beinahe fremd. Man weiß eigentlich nichts, außer, dass man verliebt ist. Um wirkliche Liebe wachsen zu lassen, müssen erst einmal die Schmetterlinge verflogen sein, finden Sie nicht auch?«

»Da ist sicher etwas Wahres dran, Mrs Miller«, sagte er. Was immer Henry Armitage zu verbergen hatte, es war nichts, in das er sich ungefragt einzumischen hatte. »Vertrauen Sie darauf, dass Ihre Tochter die richtige Wahl getroffen hat.«

»Das tue ich. Das tue ich ja. Ich rede wie eine richtige Glucke, nicht wahr? Ich muss wohl einfach lernen, mein kleines Küken in die weite Welt zu entlassen.«

In diesem Moment trat Annie neben ihn. »Ich sehe, du unterhältst dich angeregt.« Sie neigte den Kopf zur Seite, was ihr etwas Mädchenhaftes verlieh. »Allerdings ist es recht spät geworden, und ich möchte Helen nicht zu lange warten lassen. Sie hat bereits den ganzen Nachmittag auf die Kinder aufgepasst.«

»Sehen Sie, Mrs Miller«, sagte Swanson und erhob sich. »Hier haben wir noch eine Gluckenmutter, die zu ihren Küken zurück möchte. Sie sind in bester Gesellschaft.«

Swanson dankte den Millers für die Einladung, wünsch­-te dem Verlobungspaar alles Gute für die Zukunft und verabschiedete sich dann mit dem Versprechen, wieder einmal auf einen Tee vorbeizuschauen, wenn es seine Zeit zuließe.

Draußen in der kühlen Abendluft hakte Annie sich bei ihm unter. Der Sternenhimmel wölbte sich funkelnd und klar über Kennington, und sobald sie das Haus der Millers verlassen hatten, begann sie zu frösteln. Es ließ sich nicht leugnen – der Sommer war allmählich in den Herbst übergegangen.

Sie hatten die Straße vielleicht zur Hälfte überquert, als Annie ihn fragte: »Und, Don, hast du den Abend genossen? Oder war es so schlimm, wie du angenommen hast?«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte er sehr langsam und sehr nachdenklich. Es ging ihn rein gar nichts an, doch die seltsame Szene mit dem kleinen, blauen Briefumschlag ging ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn. Warum waren Ernest Miller und Henry Armitage vom Eintreffen dieser Nachricht dermaßen mitgenommen gewesen? Einer Nachricht, die selbst ungeöffnet bereits Besorgnis erregt hatte.

War sie erwartet worden? War es der Absender des Briefes, der die beiden Männer beunruhigt hatte? Und aus welchem Grund hatte ihr Überbringer so oft den Klingelzug betätigt? War es ihm wichtig gewesen, sie persönlich zu übergeben, anstatt sie, wie um diese Zeit sonst üblich, in den Briefschlitz zu werfen?

Waren die Bedenken, die er aus Mrs Millers Äußerungen herausgehört hatte, am Ende begründet? Es stand zu hoffen, dass Henry Armitage nicht in größeren Schwierigkeiten steckte.

Swanson zog seinen Mantel aus und legte ihn um Annies Schultern. Dann nahm er ihre Hand. Aus irgendeinem Grund bekam er weder den blauen Umschlag noch die Kinderleiche aus dem Kopf.

»Komm«, sagte er. »Die Kinder schlafen bereits. Helen wird es verschmerzen, wenn wir uns eine halbe Stunde verspäten. Lass uns noch etwas spazieren gehen.«

Die von hohen Bäumen gesäumte Straße lag wie ein Tunnel vor ihnen – nur hier und da erhellt durch den schwachen, gelben Schein der trüben Gaslampen.

Annie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Jenseits der Baumwipfel spannte sich, wie aus glänzendem schwarzem Seidentuch gewebt, der wolkenlose, sternenklare Nachthimmel über ihnen.

In dieser Nacht wirkte seine unendliche Klarheit auf eine unbestimmte Weise bedrohlich auf Swanson.