Dritter Teil

Ein Gentleman ­verschwindet

» Tue nichts im Leben,

was dir Angst machen muss,

wenn es dein Nächster bemerkt. «

Epikur von Samos

KAPITEL 7

49 Gordon Square, Bloomsbury

Frederick Greenland ging im Salon seines Hauses auf und ab. Seit er Chief Inspector Swanson in Kennington an jenem Abend verlassen hatte, war ihm, als verginge die Zeit langsamer als gewöhnlich.

Im Haus war es totenstill, wie nach einem schlimmen Trauerfall. Alle Geräusche – bis auf das nervtötende Ticken der Kaminuhr – schienen gedämpft zu sein. So, als habe mit Badger alles laute und Lebendige das Haus verlassen. Selbst das Klappern des Geschirrs in der Küche war leiser als sonst.

Die alte Kaminuhr vertickte die Sekunden, als seien es Minuten.

Tick – tack.

Tick – tack.

Tick – tack.

Hier herumzulaufen oder faul im Sessel zu liegen, bis sich irgendetwas tat, war für Frederick die größte Quälerei. Wie lange war es jetzt schon her, dass dieser Lump von einem Diamantenhändler Badger mit sich genommen hatte? Drei Tage? Drei Wochen? Drei Jahre …?

Frederick ging zum Tisch hinüber, öffnete das silberbeschlagene Kästchen mit den Zigaretten und steckte sich eine zwischen die Lippen. Als er das Streichholz anriss, schien selbst das leise knisternde Flämmchen Mühe zu haben, zur Flamme zu werden. Er warf das Streichholz in den Aschenbecher und inhalierte tief. Nach einer Weile machte sich die beruhigende Wirkung des Tabakrauchs bemerkbar, und er begann sich allmählich zu entspannen.

In den letzten Tagen hatte er mehr geraucht, als in all den Jahren davor zusammen. Louisa betrachtete das mit einer gewissen Sorge. Es verriet ihr, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte, wie sie ihm erst heute Morgen gesagt hatte. Und ja, sie hatte recht. Nichts stimmte.

Was hatte dieser Junge ihn Nerven gekostet! Wie anstrengend hatte er es oftmals gefunden, ihn in irgendeiner wie auch immer gearteten Weise zu erziehen, ihm ein wenig Bildung zu vermitteln, Badger eine Art Vaterersatz zu sein! Und jetzt, da er fort war, wünschte Frederick sich nichts sehnlicher, als den Jungen endlich wieder bei sich zu haben. Wie glücklich wäre er, ihn auf dem Sofa mit dem verhassten Shakespeare in der Hand protestieren und Badgers mürrische, freche Stimme ‚Aber Meg hat gesagt, Männer sollen lange Hosen tragen‘ sagen zu hören. Meg war Badgers verstorbener bester Freund. Manchmal sprach er noch mit ihm.

Ehe Frederick ihn bei sich aufgenommen hatte, war Badger ein rechteloser Waisenjunge gewesen, der bei einem skrupellosen Taschendieb namens Specs gelebt hatte und gemeinsam mit anderen Jungen für ein verwanztes Bett und ein bisschen Brot auf Beutezug gegangen war.

Badger.

Es war verrückt. Frederick vermisste ihn schrecklich.

Donald Swanson hatte sich geweigert, ihm die Karte mit Stetsons Adresse zurückzugeben, der Adresse des Mannes, der Badger entführt hatte.

Ja, entführt. Denn genau so sah Frederick es. Ganz gleich, ob dieser Stetson ein von einem wahrscheinlich korrupten Richter unterschriebenes Dokument vorzuweisen hatte. Richter, die einem Wildfremden die Handhabe über ein Kind gaben, das ein festes, liebevolles Zuhause hatte, konnten nur korrupt sein, dachte er. Auch wenn Swanson ihm versichert hatte, dass dem nicht so war. Korrupt war korrupt – niemand brachte Frederick davon ab.

Er war so dumm gewesen, schalt er sich selbst. Anstatt sich die vermaledeite Adresse aufzuschreiben, hatte er Swanson Stetsons Karte gegeben. Alles, was er wusste, war, dass der Kerl irgendwo in den Docks hauste.

Was, wenn er Lionel Dale anheuerte, um die Adresse herauszubekommen und diesen Stetson auf eigene Faust zur Strecke zu bringen? Der war bestimmt verwegen genug, es mit diesem arroganten Kerl aufzunehmen.

Der Gedanke war allzu verlockend. Derweil er mit der Zigarette in der Hand vom Tisch zum Kamin ging, von dort zur Tür des Balkons und von da wieder zum Tisch, malte er sich aus, wie er den Mann am Kragen packen und so lange schütteln würde, bis er ihn dermaßen eingeschüchtert hatte, dass er ihm Badger freiwillig zurückgab.

Frederick plumpste auf das Sofa, drückte die Zigarette in den Aschenbecker und ließ sich in die Polster zurücksinken. Dann schnappte er sich ein Kissen und legte es sich auf den Bauch und umschlang es mit beiden Armen, wie Badger es jedes Mal tat, wenn er sich verletzlich oder ungerecht behandelt fühlte.

Heute fühlte er, Frederick, sich verletzlich – sehr sogar. Und noch dazu vom Schicksal ungerecht behandelt. Kaum, dass es ihnen nach einer Ewigkeit gelungen war, Badgers Eltern zu finden – auch wenn sie tot waren, gefunden hatten sie sie – verließ ihn das Glück. Er hätte heulen mögen.

Es klopfte an der Tür des Salons und Frederick nahm rasch das Kissen von seinem Schoss und legte es zu den anderen zurück. Nicht auszudenken, wenn Louisa ihn in diesem Zustand zu sehen bekäme. Sie würde vermutlich jeglichen Respekt verlieren. Ein Mann hatte ein Mann zu sein, keine Heulsuse. Das hatte ihm Onkel Henry seit Jahr und Tag eingebläut. Dummerweise fühlte er sich heute alles andere als männlich. Am liebsten hätte er sich einfach unter eine dicke Daunendecke verkrochen und alles um sich herum vergessen.

Es war Morton, sein altersloser Butler, der sich, steif wie immer, danach erkundigte, ob Frederick sein Abendessen im Salon einzunehmen wünsche.

»Ich habe keinen Appetit«, sagte er lahm. Im Grunde zweifelte er daran, überhaupt jemals wieder etwas essen zu können.

»Mit Verlaub, Sir«, sagte Morton, der näher getreten war. »Wenn Sie Tag für Tag tiefer im Selbstmitleid versinken, wird das unseren Badger auch nicht wieder zurückbringen.«

Frederick wollte protestieren, doch dann ging ihm plötzlich auf, wie recht Morton hatte. Anstatt etwas zu unternehmen, saß er hier und bejammerte sein Schicksal.

»Haben Sie gerade nach dem Abendessen gefragt?«

»Ja, Sir. Ich fragte, wo Sie es einzunehmen wünschen.«

Frederick blinzelte wie eine Eule. »Und was habe ich geantwortet?«

»Sie sagten, Sie hätten keinen Appetit, Sir.«

»Hm. Tatsächlich?« Er sah zum Kamin. Die Zeiger der Uhr standen auf zwanzig Minuten vor acht.

Wo zum Teufel war die Zeit geblieben?

Frederick sprang schwungvoll auf die Füße. »Bestellen Sie mir eine Droschke, Morton. Ich werde nach Hatton Garden fahren. Ach so – und ich esse auswärts.

Tick – tack, machte die alte Kaminuhr.

New Scotland Yard, Whitehall

Tief im Bauch des Norman Shaw Gebäudes – noch eine Etage tiefer gelegen, als die Zellen und die Asservatenkammer des Kriminalmuseums, in der zwei Inspektoren den ganzen Tag damit beschäftigt waren, die Relikte berüchtigter Fälle vor Staub und Schimmelpilzbefall zu bewahren – ging Inspector Charles H. Stedman beim Schein von Kohlegaslampen einer Arbeit nach, die außer ihm bloß wenige Männer im Yard für mehr als Zauberei und Alchemistentum hielten. Donald Swanson war einer von ihnen. Wenngleich ihn jedes Mal, wenn er die Gewölbe besuchte, unweigerlich das Gefühl beschlich, jenes sagenumwobene Höhlengrab zu betreten, in dem der Zauberer Merlin noch bis zum Erklingen der Trompeten schlummern würde.

Inspector Charles H. Stedman stand mit Sergeant Phelps an einem der Tische, wandte sich jedoch sogleich um, als er die Tür hörte. Er trug einen weißen Kittel und seine Lupenbrille aus Messing, die er sich auf die Stirn geschoben hatte. »Donald, wie schön, Sie zu sehen.« Wenn Swanson vorbeischaute, freute er sich jedes Mal, als würde er Staatsbesuch erhalten. Er blinzelte wie eine Eule ins Halbdunkel. »Kommen Sie! Kommen Sie!«

Auf einem separaten Tisch links daneben brodelten über drei Bunsenbrennern die vielfarbigen Reagenzien. In den Schatten des spärlich beleuchteten Raums war das Huschen unsichtbarer Gestalten zu hören. Entweder die Ratten, dachte Swanson, oder Stedmans Mitarbeiter Collins und Hunt. Blasse, vampirgesichtige, hochspezialisierte Männer, die nichts anderes als ihre Arbeit kannten. Falls sie die Katakomben überhaupt einmal verließen, was selten vorkam, so trugen sie Sonnenbrillen, um vom wolkenverhangenen britischen Tageslicht nicht geblendet zu werden.

Swanson näherte sich vorsichtig dem Arbeitstisch. »Haben Sie schon etwas für uns, Charly?«

»Die Tatwaffe liegt seit –« Vergeblich suchte er nach einer Uhr, denn die wenigen Mittel des Innenministeriums hatten nie dafür gereicht. »Seit Kurzem auf meinem Tisch. Was erwarten Sie von mir – Wunder?«

»Nichts weniger«, sagte Swanson.

»Zumindest wissen wir, dass es sich um einen indischen Dolch handelt«, bemerkte Phelps, der die blutverkrustete Klinge mit seinem Bleistift anstupste. »Nicht jeder wird einen wie diesen in der Küchenschublade haben. Wahrscheinlich also ein Inder.«

»Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen«, meinte Swanson und trat ebenfalls an den Arbeitstisch, auf dem, von einer flackernden Lampe beschienen, der Dolch mit dem Elfenbeingriff lag. »Haben Sie schon Säure darauf geschüttet, Charly?«

Stedman bedachte ihn mit einem strengen Seitenblick. »Wüsste nicht, wieso. Mein Bluttest hat jedenfalls nicht angeschlagen, was fürchterlich ist, denn das da auf der Klinge ist eindeutig Blut. Aber ich habe ihn auf Fingerspuren untersucht.«

»Und?«

»Nichts, Donald. Der Täter hat Handschuhe getragen, oder die Spuren gingen verloren, als sie mit dem Taschentuch in Berührung kamen. Sergeant Phelps erwähnte, es sei ursprünglich am Griff festgeknotet gewesen.« Er schnaufte. »Das ist beinahe ebenso fürchterlich, wie das erschütternde Ergebnis des Bluttests. Denn anhand des Knotens hätte man durchaus Rückschlüsse auf den Mörder ziehen können. Ein Fischhändler knotet anders als ein Schuhputzer, müssen Sie wissen. Ein Pfarrer anders als ein Blumenmädchen. Eine Hebamme anders als ein …« Als ihm nichts mehr einfiel, sah er von Phelps zu Swanson und wieder zurück. »Wer von Ihnen hat den Knoten gelöst?«

»Das war ich«, sagte Phelps. Er wirkte ehrlich zerknirscht. »Ich dachte, es sei leichter für Sie, beides zu untersuchen, wenn ich das Tuch abnahm.«

»Nun – Sie haben sich geirrt. Jetzt ist es nicht mehr zu ändern. Der Schaden ist angerichtet.«

»Seien Sie nicht so hart mit ihm«, sagte Swanson. »Keiner von uns kann voraussehen, was Sie in den Dingen zu erkennen vermögen.«

Das wohldosierte Lob schien Wirkung zu zeigen. Stedman nickte und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Sie haben natürlich recht, Donald. Mir ist durchaus bekannt, wie wenig die meisten von Ihnen über unsere Arbeit hier unten wissen.«

»Nun –« Swanson legte ihm die Hand auf die Schulter. »Machen Sie uns ein wenig schlauer, Charly. Sergeant Phelps‘ kleines Missgeschick wird ja nicht gleich alles verdorben haben.«

»Wir wären nicht die Richtigen für diese Arbeit, wenn es so wäre«, sagte Stedman, der sich die Lupenbrille wieder vor die Augen rückte und mit spitzen Fingern den Doch hochhob. »Ich habe mit Dr. Simpson gesprochen«, sagte er. »Das ist der neue Amtsarzt, der die Leiche obduziert.«

Swanson war mehr als verblüfft. »Er hat sie doch vor ein paar Stunden erst abtransportieren lassen.«

Stedman nickte anerkennend. »Schneller Bursche, muss ich sagen. Er kam mit einem vorläufigen Bericht her, noch bevor Sergeant Phelps hier eintraf. Wie dem auch sei, die Klinge drang knapp unter dem Knorpel des Brustbeins ein und durchtrennte die Aorta.«

Phelps, der seinen Notizblock in der Hand hielt und sich Notizen machte, hielt mit dem Schreiben inne.

»Die Hauptschlagader«, erklärte Stedman und Phelps nickte dankbar. »Es bedurfte also keiner allzu großen Kraft, dem Mann die Klinge in den Leib zu stoßen. Das Opfer verblutete innerlich.«

»Wir fanden nicht viel Blut am Tatort«, sagte Swanson, den Blick auf die Tatwaffe geheftet. »Ich nahm an, es sei in der Kleidung versickert.«

»Das wenige, was ausgetreten ist, sicherlich.« Stedman legte den Dolch wieder auf die Arbeitsplatte zurück. »Das Gros lief in den Brustkorb und die Bauchhöhle.«

Phelps ließ Bleistift und Block sinken. »Lässt sich am Tatwerkzeug noch etwas ablesen? Abgesehen von den verwischten Fingerspuren?«

»Durchaus.« Stedman hob die Waffe abermals auf und hielt Swanson den Griff hin. »Sehen Sie diese Nummer, die in den Messingbeschlag geritzt ist? Nehmen Sie eine Lupe, Donald.«

Swanson nahm die Lupe vom Tisch und besah sich die fragliche Stelle. Eine winzige, mit bloßem Auge kaum lesbare Zahlen- und Buchstabenfolge war zu erkennen. »Und was sagt uns das?«

»Es sagt uns, dass dieser Dolch einmal bei einem Pfandleiher gelegen hat. Jemand verpfändete ihn und löste ihn später wieder aus.«

»Oder brachte das Geld nicht mehr auf und überließ ihn dem Leihhaus«, überlegte Swanson.

»Beides ist denkbar.« Stedman legte den Dolch wieder hin. »Ich würde jedoch wetten, der Dolch ging an den ursprünglichen Besitzer zurück. Niemand, der auch nur ein bisschen bei Verstand ist, würde ein kostbares Stück wie dieses, für die bescheidene Summe, die man gewöhnlich dafür erhält, dem Leihhaus überlassen.«

»Sie könnten recht behalten«, sagte Swanson. »Notieren Sie sich die Nummer, Phelps. Leihhäuser registrieren Namen und Adresse ihrer Kunden. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück und finden auf diese Weise unseren Mann. Noch etwas, Charly?«

»Sehen Sie diese grünliche Verfärbung? Das ist Grünspan. Sie stammt von einer erodierten Halterung aus Kupfer. Ich gehe davon aus, der Dolch hing längere Zeit irgendwo und wurde ausgestellt.«

»In einem Kuriositätenkabinett zum Beispiel«, bemerkte Phelps.

Swanson verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Dann hätte Onsell uns belogen, was den Dolch betrifft.«

»Davon gehe ich aus, Sir.« Phelps klemmte sich den Bleistift hinter das rechte Ohr. »Und bei allem anderen auch. Wissen Sie, was ich mir denke?«

»Ich bin kein Hellseher, Phelps.«

»Ich denke, dieser Onsell hat den Burschen erstochen. Warum auch immer. Und dann tischt er uns die Geschichte mit dem verschlossenen Raum auf.«

»Aus welchem Grund?«

»Um uns zu verwirren natürlich. Er ist ein komischer Kauz, das müssen Sie zugeben. Er sammelt all diese fürchterlichen Sachen, die er da in den Schaukästen aufbewahrt.« Phelps zog den Bleistift wieder hinter seinem Ohr hervor. »Er ist ganz der Typ. Es liegt einfach in seiner Natur.«

»Und das Motiv?«

Der Sergeant hielt den Bleistift wie einen Zeigestock in die Luft. »Bei einem Mann wie ihm, würde es mich nicht wundern, wenn er es nur der Publicity wegen getan hat.«

»Warum nicht, Phelps«, meinte Swanson. »Schreiben Sie es als Arbeitshypothese auf. Was ist mit dem Taschentuch?«

»Das«, sagte Stedman, »gibt dagegen nicht sonderlich viel her.« Weil ein gewisser Jemand es dummerweise abgenommen hat, besagte der Blick, mit dem er Peter Phelps bedachte. »Ein gewöhnliches Taschentuch, wie es jeder Gentleman bei sich trägt. Der Täter benutzte es wohl, um seine Hände nach dem Mord vom Blut zu säubern. Die Frage ist nur, warum er es dort zurückließ.« Er beugte sich über den Tisch und nahm einen braunen Briefumschlag aus dem Regal an der Wand darüber. Er öffnete ihn, zog ein ordentlich gefaltetes beiges Taschentuch heraus und schüttelte es aus. »Ein Massenprodukt, auch wenn es die Initialen des Besitzers trägt.« Er hielt es Swanson mit spitzen Fingern hin, ehe er es sorgsam auf der Arbeitsplatte ausbreitete. »Es wird Ihre Aufgabe sein, Donald, den Besitzer ausfindig zu machen. Und damit wahrscheinlich auch den Mörder.«

»H.A.«, sagte Phelps, der die kunstvoll geschwungenen roten Buchstaben betrachtete, die in eine der Ecken eingestickt waren. »Das kann so gut wie alles heißen.«

»Nein, Phelps«, sagte Swanson. »Ich weiß zufällig sehr genau, wem dieses Taschentuch gehört.«

KAPITEL 8

6 Camden Villas, Kennington

Donald Swanson war mehr als überrascht, als ihm auf sein Läuten hin nicht Ernest oder Mary Ann Miller die Tür öffneten, sondern seine eigene Frau Annie. Ihr Gesicht war angespannt und so weiß, wie die Wand, vor der sie stand.

»Komm herein, Don.« Ihre Hände flatterten wie eine aufgescheuchte Schar Fledermäuse durch die Luft. »Dich hat die Vorsehung geschickt.«

Irritiert trat er ein und schloss die Tür. »Annie, was tust du denn hier?«

»Ich versuche, Miss Heather zu trösten«, erwiderte sie mit gesenkter Stimme und winkte ihn durch den kurzen Korridor. »Sie ist in Tränen aufgelöst.«

Unter den gegebenen Umständen bot sich Swanson ein groteskes Bild. Er war hergekommen, um von den Millers die Wohnadresse Henry Armitages zu erfragen, und nun schien er mitten in eine Familientragödie geplatzt zu sein.

Im Wohnzimmer, das nun ohne die vielen Gäste seltsam leer wirkte, hielten sich neben Heather Miller und ihrer Mutter, die beide auf dem Sofa saßen, nur Ernest Miller und Annie auf. Heather schluchzte. Und Mary Ann hatte einen Arm um ihre Tochter gelegt und versuchte sie, so gut es ging, zu trösten. Ihr Gatte stand etwas verloren abseits bei der Anrichte.

»Es ist etwas Fürchterliches geschehen«, sagte Mrs Miller, ehe Swanson eine Frage stellen konnte. »Es muss. Anders können wir es uns nicht erklären.«

Er nahm auf einem Stuhl vor dem Sofa Platz und sagte, so ruhig er konnte: »Ich weiß nicht, was hier bei Ihnen passiert ist. Aber ich habe einige Fragen an Sie.«

»Großer Gott, Donald«, sagte Annie und stellte sich kopfschüttelnd neben ihn, die Hand auf seinem Rücken. »Du siehst doch, wie unangebracht das im Augenblick ist. Deine Fragen kannst du später immer noch stellen.«

Annie hatte ihn Donald, nicht Don, genannt, das tat sie sonst nie. Es musste ihr also wirklich ernst sein. »Könnte mir dann mal jemand erzählen, was hier passiert ist?«, fragte er.

»Henry«, sagte Mary Ann Miller. »Er ist verschwunden.«

Er beugte sich vor. »Sie sprechen von Henry Armitage, das verstehe ich richtig?«

»Natürlich spricht meine Gattin von ihm, Mr Swanson.« Ernest Miller stand nach wie vor bei der Anrichte, die Hände hinter dem Rücken. Sein Blick verhieß nichts Gutes – Ungeduld oder Ärger. Vielleicht beides. Es war schwer zu sagen, doch eine gewisse Erregung war ihm anzumerken. Unruhig wippte er auf den Füßen vor und zurück. Nach einem kurzen inneren Kampf öffnete Miller eine Tür der Anrichte und holte eine Karaffe hervor, aus der er einen Fingerbreit in ein gewöhnliches Wasserglas goss. »Was glauben Sie, wie viele Leute dieses Namens bei uns ein und ausgehen? Henry ist seit heute Nachmittag wie vom Erdboden verschluckt.« Er ging zu seiner Tochter hinüber. Mit einer herrischen Geste hielt er ihr das Glas hin. »Hier«, sagte er. »Trink das. Das wird deine Nerven beruhigen.«

Heather blickte zaghaft von ihrem Taschentuch auf, das sie zwischen den Händen zerknüllt hatte. Die roten Initialen seines Besitzers waren dennoch unschwer zu erkennen. Eine Sekunde starrte sie das dargebotene Glas an, dann nahm sie es, hielt es in der langen, schmalen Hand, ohne jedoch davon zu trinken.

Miller ballte die Fäuste. »Du sollst es trinken, habe ich gesagt.«

»Ernest«, sagte Swanson auf eine Weise, die Miller zusammenfahren ließ. »Tun Sie Ihrer Tochter einen Gefallen, nehmen Sie ihr Glas und gehen Sie in Ihr Arbeitszimmer. Ich komme später zu Ihnen.«

»Was erlauben Sie sich, Mr Swanson?« Ein schwacher Protest, der im Raum verhallte.

»Tu, was er sagt.« Mrs Miller bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Du machst Heather Angst.«

Nach kurzem Zögern fügte Miller sich. Unwillig murmelnd durchmaß er den Raum und ging ins Arbeitszimmer. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Swanson stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Seit wann ist Ihr Verlobter verschwunden, Miss Heather?«

»Seit dem Nachmittag, so, wie Pa es sagte«, antwortete sie mit leiser Stimme. Sie wischte sich die Augen. »Wir waren alle auf dem Jahrmarkt in Earls Court.«

»Die indische Ausstellung«, setzte ihre Mutter hinzu und strich ihr liebevoll übers Haar. »Wir waren alle dort. Henry, Heather, Annie und ich. Nur Ernest nicht. Der hatte zu arbeiten.«

Swanson schaute zu Annie hin. »Du warst dabei, als es passierte?«

Sie nickte. »Mary Ann lud mich ein, mitzukommen. Und da Helen im Haus war, um auf die Kinder aufzupassen –« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich hielt es für eine gute Idee«, sagte Mrs Miller rasch, wie um Annie eine Entschuldigung dafür zu liefern, dass sie mitten am Tag die Hausarbeit vernachlässigte. »Henry und meine Tochter wollten sich unbedingt die Ausstellung ansehen. Ich fand es unschicklich, sie allein gehen zu lassen. Immerhin sind sie noch nicht verheiratet. Daher bat ich – überredete ich – Annie, uns zu begleiten, um nicht das fünfte Rad am Wagen zu sein.« Sie lächelte gequält. »Wenn Sie jemandem die Schuld geben müssen, Mr Swanson, geben Sie sie mir.«

»Ich gebe niemandem die Schuld«, sagte er. »Meine Frau benötigt mein Einverständnis nicht, um mit Freunden einen Ausflug zu machen, Mrs Miller. Sie ist frei darin zu entscheiden, wohin sie geht oder nicht. Und nun erzählen Sie mir möglichst genau, was sich an dem Nachmittag auf dem Ausstellungsgelände abgespielt hat. Was unternahmen Sie dort? Und vor allem: Wo und auf welche Weise verschwand Mr Armitage?«

»Zunächst aßen wir eine Winzigkeit an einem netten kleinen Teestand«, sagte Mary Ann Miller. »Namkeen hieß es, glaube ich. Halb Nudeln, halb Kartoffeln. Sehr scharf. Und jeder nahm ein Getränk ein. Danach stellten wir uns dann alle am Zelt mit dem mechanischen Schachautomaten an, weil Henry darauf bestand, eine Partie gegen den Apparat zu spielen. Er war wie besessen davon. Er ist ein ausgezeichneter Schachspieler, behauptet er jedenfalls von sich.«

»Henry behauptet es nicht nur«, protestierte Heather, »er ist es auch. Gegen Pa hat er einige Male gespielt und ihn jedes Mal geschlagen.«

»Jeder schlägt deinen Vater im Schach, meine Liebe«, sagte Mrs Miller mit hochgezogenen Augenbrauen und tätschelte die Hand ihrer Tochter. »Es war schrecklich viel los an dem Zelt«, fuhr sie fort. »Die Leute standen reihenweise an.«

»Bestimmt eine halbe Stunde warteten wir darauf, eingelassen zu werden«, warf Annie ein. »Mir wurde schon ganz anders vom vielen Stehen.«

»Und von dem scharfen Essen«, meinte Mrs Miller. »Dabei hatten wir ja nicht sehr viel gegessen.« Sie seufzte. »Nun, wie dem auch sei, irgendwann war die Reihe an uns. Wir wurden in das Zelt eingelassen, wo so ein kleiner Inder zwanzig Pence für den Eintritt verlangte. Zwanzig Pence! Können Sie sich das vorstellen? Es gab nicht mal Stühle! Denken Sie mal, wir hätten weiterhin stehen müssen. Und von dem Schachautomaten noch keine Spur. Nur ein großer blauer Vorhang, hinter dem er sich vermutlich befand.«

»Vermutlich?«, fragte Swanson, dessen Gedanken noch schmerzlich am Verlust der zwanzig Pence hingen. »Sie bekamen ihn nicht zu sehen?«

»Die anderen Zuschauer schon«, erklärte Annie. »Aber Mary Ann fühlte sich nicht gut. Und mir war der Eintritt ohnehin viel zu teuer. Es ist ein Unding, dass sie einem den Preis erst verraten, wenn man bereits drin ist.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Wir gingen jedenfalls wieder raus. Nur Mr Armitage weigerte sich mitzugehen.«

Swanson lächelte zufrieden. Die zwanzig Pence lagen also noch sicher verwahrt in der Haushaltskasse. »Sie blieben bei Ihrem Verlobten, Miss Heather?«

Schmollend presste sie die Lippen zusammen. »Ma erlaubte es nicht. Ich ging mit ihr und Annie.«

»Dann sahen Sie Mr Armitage zu dem Zeitpunkt zum letzten Mal?«

»Nein«, sagte sie. »Wir setzten uns auf eine Bank ganz in der Nähe und warteten auf ihn. Henry war mächtig enttäuscht, als er rauskam. Und ärgerlich. Jemand anders hatte gegen den Automaten spielen dürfen. Und natürlich verloren«, setzte sie hinzu.

»Umso besser, dass wir nicht geblieben sind, Liebes«, sagte Mrs Miller zu ihrer Tochter. »Henry fühlte sich richtiggehend betrogen. Am liebsten wäre er wohl gleich wieder heimgefahren, so wütend war er. Immer wieder sah er zu dem Zelt hin. Aber wir konnten ihn am Ende überreden, doch mit uns zum Riesenrad zu gehen. Und dort ist er dann verschwunden.«

»Wie?«

»Wir stiegen in eine Gondel«, sagte Annie. »Mr Armitage muss irgendwie abgedrängt worden sein, denn er stand noch in der Menge der Wartenden, als sich das Rad weiterdrehte.«

»Das heißt«, sagte Swanson, »er fuhr gar nicht mit dem Riesenrad.«

»Oh doch, Don. Wir sahen, wie er die nächste Gondel bestieg. Er winkte uns sogar während der Fahrt. Aber als wir ausstiegen, war er wie vom Erdboden verschluckt.«

»In einem Moment war er noch da, im anderen nicht mehr«, meinte Heather mit hauchiger Stimme. Es klang beinahe, als habe Armitage sich vor ihren Augen in Rauchschwaden aufgelöst.

»Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Miss Heather«, sagte Swanson. »Aber ich fürchte, ihr Verlobter ist nicht ganz unfreiwillig untergetaucht.«

»Henry ist absichtlich verschwunden?« Sie sah ihn aus verheulten Augen an.

»Ja, Miss Heather.« Das Mädchen tat ihm schrecklich leid. »Davon ist auszugehen.«

Mit brüchiger Stimme fragte sie: »Was … was hat das zu bedeuten? Warum hätte Henry das tun sollen?«

»Wir haben leider Grund zu der Annahme, dass Ihr Verlobter Henry Armitage in ein Verbrechen verwickelt ist.«

»In ein Verbrechen?« Heathers Mutter stieß ein meckerndes Lachen aus, eine Mischung aus schierem Unglauben und Entsetzen. »Das ist doch lächerlich. Vollkommen undenkbar. Es muss sich um einen furchtbaren Irrtum handeln.«

»Leider nicht«, sagte er.

»Was denn für ein Verbrechen?«

»Ein Mord, Mrs Miller. Jemand erstach einen Mann. Und so, wie die Dinge liegen, muss ich davon ausgehen, dass dieser Jemand Henry Armitage ist.«

»Gibt es Beweise?«

»Ja.«

»Welche?«

»Darüber möchte ich gegenwärtig nicht sprechen, Mrs Miller.«

Verzweifelt sah Heather ihre Mutter an.

Das Schweigen lag wie ein schweres Tuch auf dem Zimmer, bis Heather schließlich fragte: »Wann? Wo?«

»In einem Haus in Baron’s Court«, entgegnete Swanson. »Irgendwann zwischen gestern Nacht und heute in den frühen Morgenstunden. Können Sie mir sagen, wo Ihr Verlobter sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hat?«

»Nein.« Haltsuchend griff sie nach dem Arm ihrer Mutter. »In seiner Wohnung vermutlich.«

»Ich benötige die Adressen. Sowohl seine private als auch die der Kanzlei, bei der er arbeitet.«

»Natürlich. Natürlich.« Mary Anne Miller massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. »Ernest wird Ihnen geben, was Sie brauchen. Ich hole ihn.«

»Einen Augenblick, bitte.« Swanson hielt sie am Arm zurück. »Mich würde Ihre persönliche Meinung zu Mr Armitage interessieren, Mrs Miller. Was halten Sie von ihm?«

Sie blickte kurz zu ihrer Tochter. Dann sagte sie: »Henry ist ein lieber, netter Kerl. Zurückhaltend, freundlich. Er könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun.«

»Bei der Verlobungsfeier äußerten Sie mir gegenüber, die Verlobungszeit zwischen Ihrer Tochter und Henry Armitage sei eine besonders kurze gewesen. Man kenne sich im Grunde kaum.«

»Ma!«, rief Heather empört und fing wieder an zu weinen.

Sie legte den Arm um ihre Tochter. »So habe ich das nicht gemeint, Mr Swanson. Wir sprachen damals ganz allgemein. Obwohl – es ist durchaus richtig, ich denke, man kennt den wahren Menschen erst, wenn man eine gewisse Zeitlang mit ihm vertraut ist. In einer Ehe nach Jahren.«

»Aber ich liebe Henry.« Heather sah schluchzend zu ihrer Mutter auf und schlang ihre Arme um sie. »Ich liebe ihn so sehr, Ma.«

»Alles wird gut, Liebes.« Sie wiegte Heather flüsternd in den Armen. »Alles wird gut.«

Donald Swanson war sich dessen nicht ganz so sicher.

Ernest Miller hatte sich merklich beruhigt, als Swanson ihn im Arbeitszimmer aufsuchte. Das mochte an dem Whisky liegen, dem er in der Zwischenzeit offensichtlich zugesprochen hatte. Eine zu Dreivierteln gefüllte Flasche stand auf dem Schreibtisch, an dem er auf einem Drehstuhl saß und aus dem Fenster in die Dunkelheit blickte. Swanson entschuldigte sich trotzdem dafür, ihn vorhin aus dem Zimmer geschickt zu haben und legte ihm in wenigen Worten dar, was er über das plötzliche Verschwinden von Henry Armitage dachte.

»Mord?« Das Wasserglas in der Hand, schloss Miller die Augen, strich sich mit der anderen Hand über den nahezu kahlen Schädel. »Wenn es stimmt, wird es Heather das Herz brechen. Wer ist die Frau?«

»Bei dem Toten handelt es sich um einen älteren Mann.«

»Ein Mann?« Miller öffnete die Augen wieder und setzte sich auf.

»Ja. Er wurde erstochen. Sie wirken überrascht. Wie kommen Sie darauf, es müsse eine Frau sein?«

»Ist es nicht meistens eine Frau, Mr Swanson?« Miller trank das Glas aus und stellte es auf den Schreibtisch. »Außerdem kann ich mir Henry beim besten Willen nicht in der Rolle desjenigen vorstellen, der es mit einem Mann aufnimmt – schon gar nicht mit einem Messer.«

»Sie halten Mr Armitage für einen Schwächling?«

»Ich halte Mr Armitage für einen lieben netten Burschen mit einer ordentlichen Anstellung und guten bis sehr guten Aussichten, was seine berufliche Laufbahn angeht. Und unsere Heather hat offensichtlich eine hohe Meinung von ihm. Hoch genug immerhin, um seine Frau werden zu wollen. Das ist alles, was ich wissen muss.« Er schenkte sich aus der Whiskyflasche nach, ohne Swanson etwas anzubieten.

»Vor den Damen wollte ich es nicht ansprechen«, sagte Swanson und holte den Umschlag mit dem blutbesudelten Tuch aus der Tasche. Er nahm es heraus und legte es ausgebreitet auf den Schreibtisch. »Wir fanden es bei der Leiche.«

Miller betrachtete es lange. »Das gehört ohne Zweifel Henry«, sagte er. »Sähe ich es nicht mit eigenen Augen, ich würde es nicht glauben, Mr Swanson.«

»Nichts darüber zu den Damen.« Er faltete das Taschentuch wieder zusammen und steckte es in den Umschlag. »Ich verlasse mich auf Sie.«

Miller nickte, lehnte sich wieder in seinem Drehstuhl zurück. »Das dürfen Sie. Sonst noch etwas?« Er angelte nach der Whiskyflasche und dem Glas.

»Eines noch«, sagte Swanson. »Während der Verlobungsfeier neulich gab es einen kleinen Zwischenfall.«

»Ich kann mich an keinen Zwischenfall erinnern.« Er sprach das Wort so übertrieben aus, dass es lächerlich klang.

»Nun, ich dagegen kann es.« Er sah zu, wie Miller sich einschenkte und einen kräftigen Schluck nahm. »Schon an jenem Abend kam mir die Sache merkwürdig vor, doch im Licht der neuerlichen Entwicklungen könnte sie sich als wichtig erweisen.«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Mr Swanson. Ich habe wirklich nicht den geringsten Schimmer, wovon Sie sprechen.«

»Jemand war an der Tür und gab einen blauen Umschlag ab. Sie erinnern sich? Es schien eine gewisse Dringlichkeit zu bestehen. Mr Armitage und Sie wirkten ernsthaft besorgt und gingen ins Arbeitszimmer. Ich nehme an, um die Angelegenheit zu besprechen.«

»Und das nennen Sie einen Zwischenfall?« Ernest Miller lachte gekünstelt. »Na, wenn es weiter nichts ist. Das lässt sich leicht aufklären. Es ging um Henrys Überraschung für meine Tochter. Das Verlobungsgeschenk für Heather.« Er setzte sich gerade hin. »Es verspätete sich. Der Juwelier ließ uns durch einen Boten mitteilen, es sei nicht pünktlich fertig geworden.«

»Verstehe. Was hatte Mr Armitage bei dem Juwelier in Auftrag gegeben?«

Miller zögerte, runzelte die Stirn. »Einen Schmuckanhänger mit Kette,«, sagte er dann.

»Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr Miller.«

»Keine Ursache. Es freut mich, dass wir das klären konnten.«

Swanson kam die Geschichte wenig überzeugend vor, doch er wollte es für den Moment dabei belassen. Es gab Dringlicheres zu tun.

»Jetzt, Mr Miller«, sagte er, »brauche ich nur noch Henry Armitages Adressen.«

Im Wohnzimmer nahm er Annie beiseite und ging mit ihr zum Korridor. »Ist dir an Mr Armitages Verhalten irgendetwas aufgefallen?«, fragte Swanson. »Etwas, das dir merkwürdig vorkam?« Es behagte ihm nicht, Annie damit belasten zu müssen, doch sie war eine wichtige Zeugin. Er konnte sie nicht einfach nach Hause schicken und zur Tagesordnung übergehen, nur weil er mit ihr verheiratet war.

»Jetzt, wo du es sagst, ja«, überlegte sie. »Er wirkte irgendwie nervös. Schon im Bus. Eigentlich die ganze Zeit über, als wir nach Earls Court unterwegs waren.«

»Nur dort, oder auch später auf dem Ausstellungsgelände?«

»Wie gesagt, die ganze Zeit über.«

Er nickte, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. »Bitte überlege genau. Wie äußerte sich das?«

»Er blickte sich immer wieder um.«

»Als ob ihn jemand verfolgte?«

»Ja, genauso. Ich scherzte noch darüber. Fragte ihn, ob er nach jemandem Ausschau hielte.«

»Wie reagierte er?«

»Er lachte nur, fasste sich in den Nacken und meinte, es sei nichts weiter. Er habe im Kontor wohl bloß etwas Zug bekommen.« Sie blinzelte im Zwielicht. »Was wirst du jetzt tun, Don?«

Annie – wie lange war es ihm gelungen, seine schrecklich ernüchternde Arbeit aus ihrem Leben herauszuhalten?

»Zum Yard zurückfahren und mich mit den Kollegen besprechen«, antwortete er. »Wir werden versuchen, Armitages Aufenthaltsort festzustellen. Es natürlich auch bei ihm zu Hause versuchen, obwohl ich nicht daran glaube, dass er sich noch dort aufhält. Nicht, wenn er untergetaucht ist. Er wird sich woanders verborgen halten.« Und dann sagte Donald Swanson etwas, von dem er nie im Leben geglaubt haben würde, es einmal zu seiner Ehefrau zu sagen: »Hör zu, Annie, es fällt mir nicht leicht, dich darum zu bitten, aber du musst mir einen Gefallen erweisen.«

»Sicher, Don. Jeden.« Sie nickte eifrig. »Was für einen Gefallen?«

»Ich möchte dich darum bitten, ein Auge auf die Millers zu haben, Annie. Für den Fall, dass Armitage hier auftaucht.«

Sie erschrak. »Denkst du wirklich, er kommt her?«

»Es ist nicht gänzlich unwahrscheinlich«, sagte er. »Falls er sich blicken lässt, schickst du ein Telegramm. Meinst du, du kannst das für mich tun?«

»Ich bin die Frau eines Chief Inspectors«, gab sie zur Antwort. »Natürlich kann ich das tun.«

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie kurz und heftig. Dann wünschte sie ihm Glück, und er trat eilig in die Dunkelheit der Straße hinaus.

Für Donald Swanson fühlte es sich an, als habe er soeben den ersten weiblichen Constable der Geschichte rekrutiert.

KAPITEL 9

Ye Olde Mitre Tavern, Hatton Garden

»Nichts dergleichen wirst du tun, schicker Freddie«, sagte der Mann im fleckigen Unterhemd und grober Leinenhose, der in der schummerigen Bar neben Frederick Greenland auf dem Barhocker herumlümmelte und sich an seinem zur Hälfte geleerten Pintglas mit Porter festhielt. »Der Chief Inspector hat dir gesagt, du sollst abwarten.«

Frederick grummelte leise vor sich hin. Er hatte sich von Lionel Dale etwas mehr Unterstützung erwartet. Schließlich lag ihm Badger ebenso sehr am Herzen wie Frederick selbst. Vor ein paar Wochen noch hatte Dale ihn auf Louisas Bitte hin nach Schottland begleitet. Und auch wenn Frederick es ungern zugab, war Lionel Dale – genannt Schippen-Dale – ihnen eine große Hilfe gewesen.

Frederick stieß einen solch sorgenschweren Seufzer aus, dass ihn vermutlich selbst die Engelein im Himmel vernahmen. Ein sorgenvoller Mann in einer sorgenvollen Welt.

Hier saß er, mit einem Bauarbeiter vom Saffron Hill, der billige Zigaretten rauchte, viel zu viel Alkohol trank und nichts weiter am Leib zu tragen pflegte, als ein verschwitztes Unterhemd und ein Paar abgetragene Hosen. Letzteres, wenn man Glück hatte. Und nichtsdestotrotz war dies der einzige Mensch gewesen, der Frederick eingefallen war, um ihn um Rat zu fragen.

»Warum, verdammt noch mal, reden Sie so vernünftig daher?« Der Bursche war ein Schlägertyp mit Muskeln wie Schlepptaue. Genau der, den man anheuern würde, um jemandem wie William Stetson, Esq. eins über die Rübe zu ziehen. Und dieser Jemand erklärte ihm gerade, dass es besser sei, abzuwarten.

»Weil’s dummes Zeug wär‘, den Kerl auch noch zu verärgern.« Dale kippelte auf dem Barhocker herum, dann hob er die Hand und winkte der Bedienung. »Hey, Polly, Schätzchen. Komm mal hier rüber gewackelt und zapf uns mal noch zwei.«

Polly, die selbst mit allen Wassern gewaschen zu sein schien, beäugte ihn von oben bis unten. Sie warf das Geschirrtuch, das sie sich über die linke Schulter gelegt hatte, auf die Theke. »Wie oft hab‘ ich dir schon gesagt, du sollst dir was überziehen, ehe du herkommst, Dale?«

Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung?« Es klang wie eine Gegenfrage. Dann breitete er die Arme aus, wie Flügel und sah an sich hinunter. »Was passt dir denn an meinem Aufzug nicht, Schätzchen? Den schicken Freddy hier scheint es jedenfalls nicht zu stören.«

»Der ist verzweifelt«, sagte Polly und strich Frederick sanft über die Wange. »Und du nutzt das weidlich aus, Dale.«

»Ich bin nicht verzweifelt«, sagte Frederick. So weit war er also mittlerweile gesunken. Jetzt hatten sogar schon die Kneipenwirtinnen von Hatton Garden Mitleid mit ihm.

»Und ich nutze das nicht aus«, rief Dale, als Polly im Durchgang nach hinten verschwand. Er knallte sein leeres Glas auf die Theke. »Zwei neue!« Er drehte sich zu Frederick um und fragte: »Wie stellst du dir das denn vor? Denkst du, wir können da einfach so mir nichts, dir nichts bei diesem Stetson aufmarschieren und ihm sagen wo’s langgeht?«

Frederick nickte schwach. »So in etwa.«

»Mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen, schicker Freddy. Die schneiden uns in ganz, ganz kleine Teile und verkaufen uns als Trockenfleisch nach Asien. Willst du das?«

»Das ist doch wohl ein wenig übertrieben, nicht?« Frederick war sich nicht sicher, ob Stetson wirklich dermaßen gefährlich war. »Wir könnten hinfahren und ihn etwas einschüchtern.«

Dale lachte. »Au Mann, du hast Vorstellungen.«

Polly kam von hinten zurück und näherte sich der Theke.

»Seien Sie so gut und geben Sie uns noch zwei, bitte«, sagte Frederick matt, worauf sie sogleich reagierte. Sie nahm seins und Lionel Dales Glas an sich und stellte sie wieder unter die Zapfhähne.

»Das gibt’s ja wohl nicht.« Dale stützte die Ellenbogen auf die Theke und schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf. »Von unsereins nimmst du keine Bestellung entgegen. Aber auf diesen gelackten Toff hörst du.«

Polly zuckte mit den Schultern und grinste. »Er hat die Kohle, Dale. Er hat die Kohle.«

Frederick versuchte den gelackten Toff und das Gerede über die Kohle zu ignorieren. Bislang hatte er angenommen, hier unter Freunden zu sein. Er nahm sein Glas, betrachtete die dunkle, fast schwarze Flüssigkeit darin und dachte, dass selbst das Bier seiner Stimmung entsprach.

Er trank einen Schluck und sagte: »Ich brauche Hilfe, keine Bedenken. Dieser Kerl hat Badger irgendwo hingebracht, wo er ihn versteckt. Ich muss ihn da rausholen.«

»Gar nichts musst du.« Dale rührte sein Bier nicht an. Stattdessen fummelte er seinen Tabakbeutel aus der Hosentasche und begann, sich auf beinahe meditative Weise eine Zigarette zu drehen. »Stell dir nur vor, du findest tatsächlich raus, wo Badger steckt – selbst wenn dieser Stetson es dir verrät – was willst du denn dann machen? Reinstürmen und ihn dir unter den Arm klemmen?«

Frederick hatte an das genaue Vorgehen noch keinen Gedanken verschwendet. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vermutlich irgendwas in der Art.«

Dale zupfte etwas Tabak von seiner kunstvoll gerollten Zigarette und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Das ist dein Problem, schicker Freddy. Du hast gar keine Ahnung. Schon mal drüber nachgedacht, weshalb die stinkreichen Edelsteinhändler hier in Hatton Garden nicht jeden Tag überfallen werden? Obwohl gleich nebenan das Armenviertel liegt?«

»Nein.« Er sah einem Tropfen Porter dabei zu, wie er wie eine schwarze Träne am Glas hinablief. »Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht.«

»Sollte es aber.« Ein Streichholz flammte auf und Dale nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. »Sie werden deshalb nicht oft überfallen, weil die meisten Verbrecher viel zu schlau sind.«

»Verstehe ich nicht.« Die Träne erreichte den Rand des Glases und verschwand darunter. »Was, zum Teufel, soll daran schlau sein?«

»Nur die Dummen wagen es manchmal«, sagte Dale, ohne seine Frage direkt zu beantworten. »Rennen rein, greifen, was sie in die Finger kriegen und türmen. Und die werden geschnappt. Weil sie keinen Plan haben, was sie machen wollen, wenn sie mit der Beute wieder aus dem Laden raus sind.« Er blies einen dünnen Rauchfaden aus dem Mundwinkel. »Kapiert?«

»Ich bin ja nicht schwachsinnig. Klar habe ich es kapiert.« Dale hatte recht. Er hatte keinen Plan, was er mit Badger anstellen wollte, sollte es ihm tatsächlich gelingen, ihn den Klauen des Diamantenhändlers zu entreißen. Wohin würde er ihn bringen? Ins Ausland vielleicht? Stetson hatte das Gesetz auf seiner Seite. Zumindest bis die Sache vor Gericht kam. Vermutlich würde es seine Chancen, den Jungen auf legalem Wege zurückzubekommen, sogar noch schmälern, wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ. Und Einbruch und Entführung fielen mit Sicherheit in diese Kategorie. »Also? Was schlagen Sie vor?«

»Abwarten.« Dale hob grinsend sein Glas. »Und Bier trinken.«

»Sehr witzig.«

Polly, die einen anderen Gast bedient hatte, kam wieder zu ihnen. »Es ist das Beste, Mr Greenland. Ich halt ja wirklich nicht viel von unserem Dale. Aber wo er recht hat, hat er recht.«

»Siehst du, schicker Freddy? Sogar die Vogelscheuche ist auf meiner Seite.«

Polly schlug mit dem Handtuch nach ihm. »Glaub‘ man – das war dein letztes Bier heute Abend, Dale.«

»Nicht, wenn der schicke Freddy mir noch eins ausgeben will.«

Frederick griff nach Dales Tabakbeutel und drehte sich in aller Ruhe eine Zigarette. Dann beugte er sich zu ihm hinüber, ließ ein paar Münzen in der Hand klimpern und sagte: »Sie kriegen noch eins, Dale. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Ach, und die wäre?«

»Sie verraten dem schicken Freddy, was die schlauen Verbrecher tun.«

New Scotland Yard, Whitehall

»Deutlicher geht es doch wohl nicht«, stellte Sergeant Peter Phelps fest, nachdem Donald Swanson ihm und Wensley ausführlich von seinem Besuch bei den Millers erzählt hatte. Fred Wensley, der zwischendurch kurz vor die Tür gegangen war, um ihnen Tee zu holen, saß jetzt auf der Fensterbank und hörte schweigsam zu. »Armitage bringt den Mann um, und nachdem die Leiche entdeckt wird, verschwindet er. Offensichtlich das Verhalten eines schuldigen Mannes.«

Auf der Fahrt zurück zum Yard hatte Swanson genau darüber nachgedacht. Doch obwohl sie das blutbefleckte Taschentuch vom Tatort hatten, das eindeutig Henry Armitage gehörte, und die Aussage Annies, Armitage habe sich möglicherweise verfolgt gefühlt, passten die Puzzleteile noch nicht zusammen. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas daran nicht stimmte.

Swanson ging zu der alten Schultafel hinüber, auf die sie die wenigen Fakten geschrieben hatten. »Hätten Sie so gehandelt, wenn Sie der Täter wären, Phelps?«

»Ich bin nicht der Täter.« Phelps verschränkte die Arme vor der Brust. »Und nein, das hätte ich nicht. Es ist äußerst dumm, eine Leiche in einem Ausstellungsraum abzulegen, weil sie ziemlich bald nach der Tat gefunden wird.«

»Sehen Sie?« Swanson nahm die Kreide und unterstrich das Wort: Kuriositätenkabinett. »Versuchen wir mal, wie der Täter zu denken. Aus welchem Grund wählt man einen solchen Ort?«

»Weil es keine andere Möglichkeit gibt, zum Beispiel«, meinte Phelps. »Aber das können wir in dem Fall ausschließen, denke ich. Armitage hätte den Mann viel leichter woanders töten können. Das Opfer hatte mit dem Kuriositätenkabinett nichts zu schaffen.«

»Laut Aussage von Edward Onsell«, warf Wensley vom Fenster aus ein. »Aber können wir uns darauf verlassen? Sagt er die Wahrheit?«

»Gut, der Mann.« Swanson schrieb Onsells Namen neben den Henry Armitages auf die Tafel und bemerkte, wie Phelps genervt die Augen verdrehte. »Jede Idee ist erlaubt, Gentlemen. Wenn es Onsell war, weshalb hat er die Leiche nicht weggeschafft?«

»Weil das immer das Schwierigste ist«, sagte Phelps mit einem Seitenblick auf Wensley, der anerkennend grinsend den Zeigefinger hob. Phelps verdrehte abermals die Augen. »Denkbar ist, er erstach den Mann im Affekt – wohin dann mit der Leiche? Sie war vielleicht zu schwer.«

»Nicht, wenn man sie zerteilt«, sagte Wensley.

»Das Dümmste, was man tun kann«, sagte Phelps. »Es hinterlässt zu deutliche Spuren. Onsell hat ein Museum, schon vergessen?«

Fred Wensley nickte. »Er hätte den Toten in Säure auflösen können.«

»Das hat noch nie jemand versucht.«

»Jemand wird es noch«, meinte Wensley. »Warten Sie es nur ab.«

»Das hier ist nicht der Wettbewerb ‚Wie lasse ich eine Leiche verschwinden‘«, sagte Swanson, dem das Gespräch zu weit vom Thema abkam. »Wie wir wissen, hat der Mörder die Leiche weder zerstückelt noch aufgelöst. Er hat sie aus dem einen oder anderen Grund zurückgelassen. Warum? Setzen wir da an.«

»Ich stimme Sergeant Phelps zu«, sagte Wensley und hüpfte elegant von der Fensterbank. »Er tat es nicht, weil es zu schwierig war. Onsell ist kein kräftiger Mann. Es wäre ihm gar nichts anderes übrig geblieben, als die Leiche an Ort und Stelle zu belassen, wenn er keine Hilfe hatte.«

Phelps wuchs um einige Zentimeter.

»Die hätte er unter Umständen von seinem Schützling Najuk Singh bekommen«, gab Swanson zu bedenken.

Phelps schüttelte vehement den Kopf. »Ich bitte Sie, Sir! Würde Wensley einen Mord begehen, ich würde ihm nicht aus der Patsche helfen, so viel ist sicher.«

Fred Wensley schenkte sich aus der Kanne, die Penwood ihm vorhin mitgegeben hatte, einen Becher Tee ein. »Sie würden ihn nicht einmal bemerken, Sergeant.«

»Sie würden ihm deshalb nicht beistehen, Phelps«, sagte Swanson, »weil Sie beide nicht das gleiche Verhältnis zueinander haben wie Onsell und Najuk. Onsell hat dem Inder das Leben gerettet – das hat er jedenfalls gesagt. Der Schützling hätte sich möglicherweise verpflichtet gefühlt, seinem Retter zu helfen.«

»Klingt … interessant«, sagte Phelps. »Doch solange wir nicht wissen, was dieser Najuk überhaupt für ein Mensch ist, reine Spekulation.«

»Sie haben recht«, sagte Swanson. »Ich werde ihn morgen aufsuchen und mich mit ihm unterhalten. Dann werden wir mehr wissen.«

»Bleibt außerdem die Frage nach dem Motiv«, meinte Wensley. »Bis die Identität des Opfers feststeht, lässt sich rein gar nichts sagen. Ich werde gleich morgen früh mit dem Foto des Toten in Palliser Road hausieren gehen.«

»Denken Sie daran, mir auch einen Abzug zu machen«, sagte Swanson.

»Liegt in Ihrer Ablage, Sir.« Wensley warf Phelps, der missbilligend die Lippen verzog, einen entschuldigenden Seitenblick zu.

Swanson, der das bemerkt hatte, sah Phelps ernst an und sagte: »Sie beide hören schleunigst mit diesem Konkurrenzdenken auf, ehe es noch ernsthafte Konsequenzen hat.« Einer der Gründe, weshalb die Morde des Rippers offiziell noch immer als ungelöst galten, war der Tatsache geschuldet, dass Metropolitan und City Police nicht Hand in Hand gearbeitet hatten, weil jede Einheit die Lorbeeren für die Festnahme des Frauenmörders zu ernten hoffte. Am Ende hatte niemand gewonnen, wegen der fehlenden Zusammenarbeit und weil wichtige Informationen nicht weitergeleitet worden waren. »Sollte ich Sie beide auch nur noch einmal dabei erwischen, werde ich das in Ihrer Personalakte vermerken. Bin ich deutlich genug gewesen?«

»Ja, Sir.« Phelps nickte betroffen. »Kommt nicht wieder vor, Sir.«

Auch Frederick Wensley entschuldigte sich und versprach Besserung, obgleich ihn, aus Swansons Sicht, keinerlei Schuld daran traf.

»Und nun zurück zu dem toten Mann aus dem Kuriositätenkabinett«, sagte Swanson in deutlich milderem Tonfall. »Sie, Phelps, hatten den Gedanken, Onsell könne es aus Publicitygründen getan haben.«

»Ja. Das ging mir durch den Kopf. Was meinen Sie dazu, Fred?« Ein unterschwelliges Friedensangebot. Swanson honorierte es, indem er das Wort Publicity neben Onsells Namen schrieb.

»Denkbar, wenn auch unwahrscheinlich«, gab Wensley zur Antwort. »Ich habe in der Zwischenzeit, als die Fotografien trockneten, Erkundigungen über Edward Onsells finanzielle Lage eingeholt.« Er wackelte mit dem Kopf. »Der Mann hat mehr Geld, als er in seinem Leben ausgeben kann. Um noch mehr Besucher seines Museums kann es ihm nicht gegangen sein, falls er der Täter ist.«

»Verlieren wir Henry Armitage nicht ganz aus dem Blick«, meinte Swanson. »Das Taschentuch gehörte ihm. Und er ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.«

»Zwei Dinge die dafürsprechen, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat«, sagte Wensley.

»Aber wie ist er an den Schlüssel gelangt?« Phelps rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn. »Onsell sagte aus, der Raum sei verschlossen gewesen, er besäße den einzigen Schlüssel.«

»Noch etwas, das gegen Onsell als Täter spricht«, sagte Wensley. »Denn es macht eine komplizierte Sache noch komplizierter für ihn. Wären die Türen offen oder aufgebrochen gewesen, wäre er wenigstens zum Teil aus dem Schneider. Aber nein, er besteht darauf, die Räume waren versperrt.«

»Wie ist Armitage dann in den Besitz des Schlüssels gelangt?«, fragte Swanson. »Wenn er der Mörder ist, muss er einen Schlüssel besessen haben. Anders funktioniert es nicht.«

»Möglicherweise hat jemand ihm einen Nachschlüssel besorgt«, sagte Phelps. Augenscheinlich war er selbst nicht sehr davon überzeugt, denn er schüttelte unmerklich den Kopf und zuckte schwach mit den Schultern.

Wensley nahm trotzdem die Kreide und schrieb Nachschlüssel mit einem Fragezeichen unter Armitages Namen. »Es ist immerhin nicht auszuschließen, Peter.«

»Das wiederum würde bedeuten, Armitage habe den Mann auf irgendeine Weise dazu gebracht, ihn in das Kuriositätenkabinett zu begleiten«, überlegte Phelps. »Das ist komisch.«

»Wieso?« Swanson war für jede Überlegung offen.

»Weil er ihn dann zwingend gekannt haben muss«, antwortete er. »Und er muss zudem völlig arglos gewesen sein und ihm vertraut haben. Sonst wäre er ihm wohl kaum dorthin gefolgt.«

Das war in der Tat ein interessanter Ansatz, dachte Swanson. Zwar wiesen die Hände des Opfer Abwehrspuren auf, doch der Raum selbst sah nicht so aus, als habe dort ein Kampf stattgefunden. Vermutlich hatte der alte Mann bereits auf dem Stuhl gesessen, als der Mörder auf ihn eingestochen hatte.

»Fassen wir zusammen:«, sagte Wensley im Schulmeisterton, nahm Swansons Schlagstock vom Haken an der Wand und benutzte ihn an der Tafel wie einen Zeigestock. »Derjenige, der dem alten Burschen das Leben nahm, muss ihn gekannt haben.« Er klopfte auf Onsells und Armitages Namen. »Wenigstens lange genug, um ihm nicht zu misstrauen, denn das Opfer ging höchstwahrscheinlich freiwillig mit dem Mörder mit.« Der Schlagstock verharrte auf dem Wort Nachschlüssel. »Wer immer die Tat beging, besaß einen Schlüssel oder gelangte auf andere Weise in diesen Raum. Henry Armitage hat etwas mit der Sache zu tun. Entweder war er dumm genug, sein Taschentuch zurückzulassen, und ist deshalb auf der Flucht, oder jemand wollte ihm die Tat anlasten.« Er hängte den Schlagstock an den Haken zurück. »Trifft es das in etwa?«

Swanson trank einen Schluck Tee aus dem angeschlagenen Henkelbecher, den er seit Jahren benutzte und sagte: »Letztlich hängt alles an der Identität des toten Mannes. Wenn es uns gelingt, zwischen ihm und einem von unseren Verdächtigen eine Verbindung herzustellen, wird es leichter werden.« Er stellte den Becher hin, griff in den Ablagekorb und angelte die Fotografie heraus, die Wensley angefertigt hatte. Es war ihm ein Rätsel, wie der Constable es schaffte, jede Leiche so aussehen zu lassen, als schliefe sie bloß. »Ich werde sehen, ob Najuk Singh etwas damit anfangen kann. Und Sie beide fahren jetzt gleich zu Armitages Wohnung. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er sich dort versteckt hält, aber einen Versuch ist es allemal wert. Für einen frühen Feierabend ist es ohnehin zu spät.«

»Sergeant Wilson und Walter Dew sind doch bereits dorthin unterwegs, Sir«, sagte Fred Wensley, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt.

Überrascht starrte Swanson ihn an. »Wie kann das sein?«

»Nun, Sir, ich nahm doch an, es eilt«, entgegnete er. »Ich gab ihnen die Wohnadresse, als ich vorhin den Tee holte.«

»Gut, der Mann!« Peter Phelps klopfte Fred Wensley anerkennend auf den Rücken. »Was würden wir nur ohne Sie tun, Fred?«

Swanson schmunzelte. Phelps machte sich.

Es gab also noch Hoffnung.