Ein Gentleman wird verdächtigt
» Wer Weib und Kinder besitzt,
hat dem Schicksal Geiseln gegeben. «
Francis Bacon
City of London
Im ersten Licht des folgenden Tages machten Swanson und Phelps sich zu der Privatadresse auf, die Ernest Miller ihm gegeben hatte. Doch Armitages Zimmer in den Minories, einer Straße am östlichen Rand der City, hatte der Anwaltsgehilfe schon länger nicht aufgesucht. Seine Wirtin, eine freundliche, ältere Dame hatte ihn seit Tagen nicht gesehen. Nachdem sie aus der Zeitung von der Verlobung erfahren hatte, war sie in dem Glauben gewesen, der nette junge Mann habe für sich und seine Braut eine gemeinsame größere Wohnung gefunden. Die zwei Junggesellenzimmer mit Bad auf dem Flur, die er in ihrem Haus bewohnte, waren für weitere acht Wochen im Voraus bezahlt, daher habe sein Fortbleiben sie nicht beunruhigt. Zudem hatte sie hinzugefügt, sei die kleine Wohnung außerordentlich praktisch für ihn. Er könne zu Fuß zur Arbeit gehen, und die Zimmer seien billig für die Gegend. Er wäre schön dumm, sie nicht zu behalten.
Swanson ließ sie sich trotzdem zeigen. Sie waren ebenso langweilig, wie Armitage selbst. Die Einrichtung war zweckmäßig. Ein kleines Schlafzimmer, das Bett ordentlich gemacht, die Tagesdecke faltenlos, wie mit dem Plätteisen glattgezogen. Vergleichbares hatte Swanson zuletzt auf der Polizeischule gesehen. Auf dem Nachtkästchen daneben stand ein Foto von Heather Miller. In der Schublade akkurat gefaltete Taschentücher mit Armitages Initialen darauf. Der Mann schien Unmengen davon zu besitzen. Der Kleiderschrank war vorbildlich sortiert. Im untersten Fach standen drei Paar Schuhe. Sie überprüften sie auf Spuren, doch nicht mal ein Körnchen Staub haftete daran, als wären sie eben vom Schuhmacher geliefert worden. Nirgends eine Unordnung.
Nur das Wohnzimmer, das gleichsam als Studierzimmer fungierte, deutete darauf, dass hier ein lebendiger Mensch mit gewöhnlichen Vorlieben lebte. Eine begonnene Partie auf einem Schachtisch nahe der Tür, Bilder namenloser Maler an den Wänden, zwei gemütliche Korbsessel, die Conan Doyles Freund Sidney Paget sicherlich gefallen hätten, ein runder Tisch, auf dem neben einem aufgeschlagenen Buch eine zwei fingerbreit gefüllte Brandyflasche und ein leeres Glas standen und ein Schreibtisch beim Fenster. Bei dem Buch auf dem Tisch handelte es sich um juristische Lektüre. Zwei Stellen, in denen es um das Eheversprechen ging, waren mit Bleistift unterstrichen. Armitage hatte sich offensichtlich schlau gemacht, ehe er sich zu der Verlobung mit Heather Miller entschlossen hatte. Andererseits mochte es aber auch bedeuten, dass er seinen Entschluss nachträglich bereute. Falls dem so war, steckte der Anwaltsgehilfe in zusätzlichen Schwierigkeiten. Ein einseitig gebrochenes Verlöbnis würde nicht nur seinem Ruf schaden und ihn eine beachtliche Menge Geld kosten, es konnte ihn, falls die Familie der Verlobten klagte, überdies auch ins Gefängnis bringen. Keine guten Aussichten für einen Mann, der eine Karriere bei Gericht anstrebte.
Doch all das war reine Spekulation. So glücklich wie das Paar am Verlobungsabend ausgesehen hatte, handelte es sich wahrscheinlich bloß um Studien oder etwas, das er für die Kanzlei bearbeitete. Swanson würde es in Erfahrung bringen.
Die Fächer des Schreibtisches waren angefüllt mit Papieren und Briefen. Das meiste davon Vertragsentwürfe und juristische Korrespondenz. Auf einem Brett mit Nagel steckten einige lose Zettel. Swanson zog sie ab und sah sie sich an, während Phelps ins Bad ging. Neben dem Schlafzimmer war das der Raum, der am meisten über einen Menschen verriet. Die Notizzettel waren in der kleinen krakeligen Handschrift eines Vielschreibers bekritzelt. Sie gaben nicht viel her. Namen von Anwälten und Barristern mit Uhrzeit und Treffpunkt versehen. Nur einer der Zettel stach daraus hervor. Der Name Bertha stand darauf. Er war mehrfach eingekreist. Darunter die Adresse eines bekannten Freudenhauses in Haymarket. Keine Uhrzeit. Swanson steckte ihn ein.
Der interessanteste Fund jedoch war ein Fläschchen Quecksilber. Phelps hatte es versteckt im Badezimmerschrank gefunden. Es war nicht geöffnet worden, denn die Banderole des Apothekers war noch unversehrt. Auch das nahmen sie mit.
Danach verabschiedeten sie sich von der Vermieterin und begaben sich zu Fuß zu der Kanzlei, bei der Armitage arbeitete. Sie lag abseits der Hauptstraßen in einem Netz enger Seitengassen irgendwo zwischen Fenchurch Street und Tower Hill. Nur ein diskretes Messingschild an einer schwarzen Tür am Ende einer Treppe verriet potenziellen Klienten, dass hier in diesem Winkel die ehrenwerten Advokaten Messrs Paulson & Pilgrim ihre Dienste anboten.
Die Büroräume lagen im ersten Stock und machten auf Swanson einen weit besseren Eindruck, als das Gebäude es von außen hatte vermuten lassen. Drei Schreibtische, hohe Bücherregale, die Wände mit hellem Holz vertäfelt und überall dieselbe makellose Ordnung, die sie bereits bei Henry Armitage vorgefunden hatten.
Es war Sebastian Paulson, der sie begrüßte. Sein Teilhaber Mr Pilgrim war gegenwärtig in Geschäften unterwegs.
»Verschwunden, sagen Sie?« Paulson löste die Ärmelhalter, die er über den Ellenbogen trug und legte sie auf seinen Schreibtisch. »Sie sehen mich erstaunt, Chief Inspector Swanson. Meines Wissens genießt der junge Armitage seinen Urlaub. Er kam neulich Abend her und bat mich darum, eine Woche blau machen zu dürfen.«
»Wann genau war das?«
»Vorgestern gegen Viertel vor neun.«
Das war der Tag, an dem Armitage nachmittags die indische Ausstellung besucht hatte, überlegte Swanson. »Das ist sicher, Mr Paulson?«, fragte er.
»Absolut. Ich bearbeitete eine Anzahl wichtiger Verträge, die am nächsten Morgen dem Mandanten vorliegen mussten, daher weiß ich es so genau. Er meinte, er würde wegen der bevorstehenden Hochzeit eine Woche Urlaub benötigen. Ich sah keinen Grund, es nicht zu tun.«
»Viertel vor neun am Abend ist eine ungewöhnliche Zeit«, sagte Phelps, der mit aufgeschlagenem Notizblock neben Swanson stand. »Wie konnte Armitage sicher sein, Sie noch in der Kanzlei anzutreffen?«
Dieselbe Frage war Swanson durch den Kopf gegangen.
»Weil ich niemals vor Mitternacht zu Bett gehe, deshalb. Selbst wenn –« Er deutete mit dem Daumen nach hinten. »Ich wohne hier. Er brauchte nur anzuläuten.«
»Es sieht aus, als hätten Sie mächtig viel zu tun, Mr Paulson«, sagte Swanson und betrachtete die Aktenstapel auf den Schreibtischen. »Und dennoch gewährten Sie Mr Armitage die freien Tage?«
»Sie müssen es so sehen, Chief Inspector«, entgegnete er und streckte sich. »Mr Armitage bringt mir mehr Nutzen ein, wenn er unserer Kanzlei erhalten bleibt. Er macht seine Arbeit nämlich ausgezeichnet. Und er ist mit der schmalen Entlohnung zufrieden.« Er zog mit einem breiten Grinsen die Augenbrauen hoch. »Damit das auch weiterhin so bleibt, sehe ich zu, dass er sich wohlfühlt. Wenn es in meiner Macht steht, heißt das.«
»Sprach er mit Ihnen darüber, wo er seinen Urlaub zu verbringen gedachte?«
»Nein, Chief Inspector. Nur, dass er binnen einer Woche zurück sei.«
»Mr Armitages zukünftiger Schwiegervater gehört ebenfalls zu Ihren Kunden, nicht wahr?«, fragte Swanson.
»Er ist einer unserer Mandanten, ganz recht.«
»Mal angenommen, Henry Armitage hätte es sich mit der Verlobung anders überlegt, was glauben Sie, wie Mr Miller das aufnähme?«
»Er wäre zu Recht erbost, könnte ich mir denken. Ich hoffe doch, an der Sache ist nichts dran.« Er blinzelte nachdenklich. »Das wäre verteufelt schlimm. Für uns, für Armitage, für alle. Mr Miller ist ein wichtiger Mandant. Schlimmstenfalls würde er zu einer anderen Kanzlei abwandern. Von dem Skandal ganz zu schweigen.«
»Bearbeitete Mr Armitage einen ähnlich gelagerten Fall?«
»Einen Verlöbnisbruch, meinen Sie?«
»Ja.«
»Nein, Chief Inspector. Armitage war mit der Abschrift von Patentverträgen mit Übersee beschäftigt. Für eine neuartige Erfindung. Muss ich mir Sorgen machen?«
»Ich glaube nicht«, sagte Swanson. »Sie haben nicht zufällig eine Fotografie von ihm?«
»Doch, doch, die kann ich Ihnen geben.« Er ging zu einem Registrierschrank, zog eine dünne Mappe heraus und entnahm ihr das Foto. »Wenn Sie es nicht mehr benötigen, bräuchte ich es wieder zurück. Es kostet alles Geld, Sie verstehen?«
Swanson versprach es ihm. »Eines noch, Mr Paulson. Sollte Mr Armitage sich bei Ihnen melden, geben Sie bitte Bescheid.«
»Ich rufe Sie an«, sagte er.
»Das wird nicht gehen«, sagte Swanson. »Schicken Sie ein Telegramm.«
»Dafür müsste ich die Kanzlei allein lassen und zum Postamt gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Warum geben Sie mir nicht einfach die Nummer?«
»Ich gebe Ihnen die des Red Lion in der Parliament Street«, meinte Phelps daraufhin, riss ein Blatt aus seinem Block und reichte es Paulson. »Jemand dort wird einen Beamten rufen.«
»Was für eine Art von Polizisten sind Sie denn?« Er hielt den Zettel in der Hand, als handle es sich um ein totes Ungeziefer. »Ein Pub? Ist das Ihr Ernst, Gentlemen?«
Peter Phelps warf Swanson einen hilfesuchenden Blick zu. Dann zog er die Schultern hoch. »Es ist mir ein bisschen peinlich, Mr Paulson. Aber dummerweise haben wir noch keine Telefonapparate im Yard.«
5 Camden Villas, Kennington
An diesem Abend saß Donald Swanson am Küchentisch seines Hauses und schaute Annie bei der Arbeit zu. Sie hatte zahlreiche Dosen vor dem Fenster auf der Anrichte neben dem Spülbecken ausgebreitet und bestäubte die Arbeitsfläche mit Mehl.
Der Tag war lang genug, und er nicht in der Stimmung gewesen, eine weitere Nacht auf der harten Pritsche in seinem Büro zu verbringen. Er brauchte Ruhe, um nachzudenken. Auch wenn er seine Gedanken nicht mit Annie teilte, um sie nicht mit all dem menschenverachtenden Verhalten zu belasten, mit dem er seine Arbeitstage zubrachte, liebte er den Austausch mit ihr. Die Gespräche über ganz alltägliche Dinge, wie Adas verwilderte Gartenecke, die Besorgungen, die für die Woche gemacht werden wollten, oder den Wunsch seines Sohnes Nevill nach einem zahmen Tiger. Annie war sein Ruhepol. Nirgends war er entspannter, nirgends mehr er selbst.
Zwei Männer waren durch fremde Hand gestorben. Und von ihrem Hauptverdächtigen Henry Armitage nach wie vor keine Spur. Immerhin wussten sie nun, dass er nach seinem Verschwinden noch einmal die Kanzlei aufgesucht hatte. Und da waren die Adresse des Freudenhauses in Haymarket und das Fläschchen mit dem Quecksilber. Womöglich litt Armitage an der Syphilis oder vermutete es zumindest. Um den Mann aus seinem Versteck hervorzulocken, hatte Swanson Peter Phelps angewiesen, einen Fahndungsaufruf in den wichtigsten Zeitungen zu veröffentlichen. Darin wurde Henry Armitage gebeten, sich bei der Polizei zu melden, um ihr, wie es so schön hieß, bei den Ermittlungen zu helfen.
Auch der tote Säugling vom Friedhof gab ihnen weiterhin Rätsel auf. Sogar Walter Dew hielt es mittleiweile für wahrscheinlich, dass es zwischen dem unbekannten Toten aus dem Kuriositätenkabinett, dem indischen Schausteller Najuk Singh und der grob zwischen Erde und Steinen versteckten Kinderleiche einen Zusammenhang gab. Es musste ihn geben. Eine derartige Zahl an Zufällen wäre schließlich reiner Zufall gewesen. Und daran glaubte Swanson nicht. Doch bisher hatten sie diesen Zusammenhang noch nicht gefunden. Das würde sich ändern, wenn sie endlich die Identität des Toten geklärt hatten. Er war Swansons Ansicht nach der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Falles. Erst wenn sie seinen Namen kannten, würde sich ein Motiv für die Morde finden lassen.
Alleine mit seinen Gedanken sah er zu, wie Annie in der Küche mit geschickten, hunderte von Malen geübten Griffen, mit Töpfen und Rührstäben hantierte und die verschiedentlichsten Zutaten in einer großen Schüssel vermengte. Er hatte keinen blassen Schimmer, was sie dort trieb, doch es machte Spaß, ihr dabei zuzusehen. Im Gegensatz zu ihm, der beruflich im Dunkeln tappte, schien sie ganz genau zu wissen, was sie dort tat.
Um sich von dem Fall abzulenken, fragte er: »Wird das ein Kuchen, Liebes?«
Sie lachte hell auf. »Ich bitte dich, Don.« Die Hände in der Schüssel, blickte sie ihn über die Schulter hinweg an. »Erzähl mir nicht, du hast noch nie gesehen, wie ich einen Brotteig knete.«
»Gesehen vielleicht schon«, entgegnete er mit einem breiten Lächeln. Er trat von hinten an sie heran, umschloss ihre Taille mit beiden Armen und legte sein Kinn auf ihre rechte Schulter. »Aber geachtet habe ich bestimmt nur auf dich, Liebes, nicht auf deine Arbeit.«
»Ach, Don.« Sie errötete leicht, wie er bemerkte, und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, während sie weiter den Teig in der Schüssel knetete. »Mach mal ein bisschen Platz, ja?«
Er trat einen Schritt zurück. Annie hob den Brotteig heraus und legte ihn auf einem flachen Holzbrett ab. Die Schüssel stellte sie in das Spülbecken. Als sie den Teig hochnahm, um ihn auf die bemehlte Arbeitsfläche zu legen, blieb das Brett daran kleben.
»Annie!« Einer plötzlichen Eingebung folgend, fasste er ihre Schultern und fragte: »Kannst du mir zeigen, wie man das macht?«
Sie kicherte. »Du kannst jederzeit zuschauen, wenn du magst.«
»Nein, nein.« Er holte die Schüssel wieder aus dem Spülbecken. »Du musst es mir schon Schritt für Schritt erklären.« Dann stippte er den Finger in die Dose mit dem Mehl. Er tupfte ihr etwas davon auf die Nasenspitze und sagte: »Ich brauche meinen eigenen Teig.«
An diesem Abend bereitete Donald Swanson unter Annies Anleitung seinen ersten Brotteig zu. Sie scherzten und lachten, während der Mehlstaub durch die heimelige Küche wehte wie feiner Pulverschnee.
13 Palliser Road, Baron’s Court
Loxley’s Kabinett der Kuriositäten war geschlossen. Die Trauer um seinen verstorbenen Freund und Assistenten schien sogar Onsells Geschäftssinn gelähmt zu haben. Als Swanson ihn in dessen Wohnung in Knightsbridge angetroffen hatte, waren Onsells Augen rot vom Weinen gewesen und seine Nase rot vom Wein. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er dem Chief Inspector den Schlüssel zu seinem Museum überlassen und war auf die Chaiselongue zurückgekehrt, auf der er schon die ganze Nacht und den Vormittag verbracht hatte. Entweder, dachte Swanson bei sich, war Edward Onsell der geborene Schauspieler oder aber ein wahrhaft gebrochener Mann.
Der Ausstellungsraum, wo sie vor einigen Tagen die Leiche des unbekannten Mannes gefunden hatten, war düster wie eh und je. Swanson wies Phelps und Wensley an, nach Kerzen zu suchen und ihre Polizeilaternen zu entzünden. Nach einer halben Stunde war der Raum so heimelig beleuchtet, man hätte ein romantisches Dinner in ihm geben können, wären da nicht die Skelette an ihren Halterungen und die Schrumpfköpfe gewesen, die die Stimmung beeinträchtigten. Flackernd spiegelten sich die Lichter der Kerzen in den Glasscheiben der deckenhohen Vitrinen.
»Was haben Sie vor, Sir?« Phelps sah Swanson mit gerunzelter Stirn dabei zu, wie dieser einen mitgebrachten Beutel, dem ein würziger Hefeduft entstieg, in der Mitte des Zimmers auf den Boden legte und den Knoten der Schnur löste.
»Wir werden nach diesem Zugang suchen«, erwiderte er, nahm den noch weiter aufgegangenen Brotteig heraus und ließ ihn auf die Bohlen fallen. »Es muss ihn geben. Auf irgendeine Weise ist der Mörder mit seinem Opfer hier hereingekommen. Gibt es ihn nicht, muss zwingend Edward Onsell unser Mann sein. Er ist der einzige mit einem Schlüssel für diese Tür.«
Fred Wensley wartete interessiert ab und ließ die Dinge auf sich zukommen. Phelps jedoch fragte: »Und wofür ist der Teig gut, Sir?«
»Das werden Sie gleich sehen. Gibt es hier irgendwo Wasser?«
Wensley verschwand sogleich durch die Tür und kam kurz darauf mit einem Holzbecher zurück. Swanson nahm ihn und träufelte etwas davon in seine Handflächen, dann bestrich er die flache Unterseite des Brotteigs damit. Unter den staunenden Blicken seiner Kollegen presste er den Klumpen auf den Boden, krallte die Finger in den Teig und hob ihn an. Die Bretter bewegten sich keinen Millimeter.
»Respekt, Sir.« Wensley pfiff anerkennend durch die Zähne. »Das nenne ich innovative Polizeiarbeit.«
Phelps nickte bloß, den Mund offen.
Systematisch bewegte Swanson sich mit dem Brotteig durch den Raum, drückte ihn an, zog, überprüfte, ob sich die Dielenbretter hoben und rückte ein Stück weiter. »Heureka!«, rief er plötzlich aus, als sich ein fingerbreiter Spalt im Boden auftat. Er versetzte den Teig erneut, und dann wuchtete er ihn mitsamt der daran klebenden Bretter nach oben und legte ihn zur Seite.
»Es ist keine Klappe«, sagte Phelps, der näher getreten war. »Es ist ein Deckel.«
»Ja.« Swanson nickte und wischte sich die Hände an seinem Staubmantel ab. »Und zwar einer, der sehr exakt eingepasst worden ist. Geben Sie mir mal die Lampe, Wensley.«
Der Constable reichte sie ihm. »Seien Sie um Himmels willen vorsichtig, Sir. Wer weiß, was da unten ist.«
Halb auf dem Bauch, halb auf der Seite liegend, hielt Swanson die Polizeilaterne in das Loch hinein, das sich aufgetan hatte. Eine ausgetretene Holzstiege führte nach unten. Das Licht reichte nicht aus, um mehr zu erkennen. Er schwang die Beine über den Rand und setzte einen Fuß auf die oberste Stufe. Sie schien zu halten. »Wenn ich unten bin, gebe ich Ihnen Entwarnung«, sagte er. Dann ging er langsam die Stufen hinunter.
Die winzige Laterne erhellte nur einen kleinen Teil des Raumes, zu dem die Treppe hinabführte. Erst als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er mehr erkennen. Er erreichte den Fuß der Stiege und damit sicheren Boden. Dann sah er sich in dem fensterlosen Raum um. Der Fußboden war mit Stroh ausgelegt. Links von ihm führte eine Leiter nach unten in einen weiteren Raum. Rechts stand ein Tisch an der Wand. Ein vertrockneter Kranz aus Pflanzen lag darunter am Boden. Er sah hoch zu dem viereckigen Loch in der Decke.
»Sir?«, hörte er Phelps von oben rufen.
»Alles in Ordnung hier unten!«, rief er zurück. Eine Sekunde später knackte es verdächtig unter seinen Füßen, es gab ein schlimmes Geräusch, als würden Äste zerbrochen. Und dann fiel er, die Füße voran, ins Nichts.
Ein Haufen Säcke bremste seinen Fall. Die Lampe noch fest in der Hand, rappelte Swanson sich auf und kletterte durch den aufgewirbelten, im Licht tanzenden Staub der Jahrzehnte von den Säcken herunter. Erstaunlicherweise war es hier unten etwas heller. Licht drang aus einem Durchgang direkt vor ihm.
»Sir?« Diesmal war es Wensley, der rief, seine Stimme durch die Entfernung gedämpft.
»Alles in Ordnung hier unten!«, wiederholte Swanson. »Kommen Sie runter, aber passen Sie auf, wo Sie hintreten. Da ist ein Loch am Fuß der …«
Ein Schrei ertönte, und fast gleichzeitig schoss ein menschlicher Körper durch die Luft und landete plumpsend zwischen den Säcken. Es war Sergeant Phelps, der sich verwirrt umblickte. Auch er hielt seine Laterne noch in der Hand.
Swanson rechnete jede Sekunde damit, auch Fred Wensley durch das Loch fallen zu sehen, doch er irrte sich. Der Constable kam die Leiter heruntergeklettert und leuchtete mit seiner eigenen Lampe die Wände und den Fußboden ab.
»Sie hatten recht, Wensley«, sagte Swanson. »Da ist ein verborgener Raum. Und sogar noch ein zweiter.«
»Das muss der Keller sein, Sir«, sagte Phelps, der sich mittlerweile von den Säcken befreit hatte und neben Swanson stand.
Vor ihnen lag ein mannshoher, rechteckiger Durchgang, breit genug, um einen Handkarren hindurchzuschieben, dahinter ein Tunnel, von dessen Ende der Lichtschimmer kam. »Kommen Sie«, sagte Swanson. Wollen mal sehen, wohin er führt.«
Nach etwa zwanzig Metern erreichten sie eine schmale Steintreppe. Rechts und links der Stufen führte je eine Steinschräge nach oben.
»Sind wir noch unter dem Garten?«, fragte Phelps.
»Unmöglich.« Wensley hatte die Laterne in seinen Hosenbund gehakt und klopfte gegen das doppelflügelige Holztor über ihnen, was den Ausgang versperrte. Erde und kleine Steine rieselten herab. Durch die Ritzen im Holz drang helles Tageslicht. »Wir müssen irgendwo unter dem Friedhof sein.«
Swanson erinnerte sich daran, dass Onsell gesagt hatte, in dem Haus sei vor vielen Jahren eine Friedhofsgärtnerei ansässig gewesen. Vermutlich hatte der Tunnel tatsächlich einmal dazu gedient, einen Karren vom Haus zum Friedhof zu bringen.
»Gehen Sie mir bitte mal zur Hand, Peter.« Wensley stand mit einem Bein auf den Stufen, mit dem anderen auf der Schräge und stemmte die Hände gegen das Tor. »Alleine schaffe ich es nicht.«
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Flügel hochzuwuchten. Sie knarrten in ihren eingerosteten Angeln, öffneten sich schließlich und fielen mit einem dumpfen Krachen nach rechts und links.
»Da haben Sie Ihren versteckten Zugang, Wensley.« Durch die wild wuchernden Holunderbüsche hindurch, die unmittelbar vor ihnen emporragten, konnte Swanson in wenigen Metern Entfernung den Steinhaufen sehen, in dem ein ‚nekrophiler Spinner` in jener Nacht das Skelett des Säuglings gefunden hatte.
Die Adresse, die Swanson von Walter Dew bekommen hatte, befand sich im vornehmen Mayfair, wo der Verkehr weniger dicht war als in anderen Teilen der Stadt. Schnittige Einspänner, deren Lack in der Herbstsonne glänzte, und prächtige, private Kutschen fuhren rasselnd an ihm vorüber, als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus dem Hansom Cab stieg, das ihn von Whitehall hergebracht hatte. Damen in eleganten Kleidern und distinguierte Gentlemen, deren Anzüge unverkennbar in Savile Row geschneidert worden waren, flanierten ihm auf dem Gehsteig entgegen. Zwischen all der Anmut und teuren Eleganz wirkte er in seinem knitterfaltigen Staubmantel vermutlich wie ein Fremdkörper.
Das fragliche Haus selbst lag in der Nähe des Grosvenor Place, war ein schlichter roter Backsteinbau mit schmiedeeisernen Balkonen und einem eindrucksvollen, doppelflügeligen Eingangsportal.
Ein streng dreinblickender Portier in Uniform, der unten in der Eingangshalle an einem Tisch saß und in der Times las, musterte ihn von Kopf bis Fuß. Augenscheinlich behagte ihm nicht, was er sah, denn er fragte Swanson in ziemlich unfreundlichem Ton, zu wem er denn wolle. Erst nachdem der Chief Inspector seinen Dienstausweis gezückt und den Namen des Mannes genannt hatte, den er aufzusuchen gedachte, wurde der Portier zugänglicher. Schweigend geleitete er Swanson zu einem Aufzug und fuhr ihn mit dem klappernden und scheppernden Ding ebenso schweigend in die dritte Etage hinauf, wo er ihn in einem Vorraum warten ließ, bis er Mr Ashbee Swansons Karte gegeben hatte. Als er zurückkam, ließ er die Tür offen.
Die Wohnung war hell und geräumig. Das Erste, was Swanson auffiel, war die Skulptur eines nackten weiblichen Körpers aus weißem Marmor. Sie räkelte sich in anzüglicher Pose auf einem runden Tisch aus poliertem Nussbaum. Darüber an der Wand hing eine kolorierte Federzeichnung, auf der ein Herr in Abendgarderobe und offenem Hosenlatz, aus dem seine ganze Männlichkeit hervorschaute, gerade die Röcke eines vornübergebeugt am Bett stehenden Dienstmädchens anhob und ihren Hintern entblößte.
Die übrige Einrichtung bestand aus zum Sitzen einladenden großen Sesseln aus geschmeidigem Leder, einer Couch und verschiedenen Tischen, auf denen Bücher lagen. Die Wände zierten weitere erotische Zeichnungen und vor den hohen Fenstern hingen hauchzarte Gardinen, die bis zum Boden reichten.
»Hier entlang!«, rief eine fröhliche Bassstimme aus einem angrenzenden Raum linker Hand. »Trauen Sie sich ruhig, Chief Inspector!«
Swanson folgte der Stimme. »Mr Ashbee?«
»Henry Spencer Ashbee, wie er leibt und lebt«, entgegnete der vollbärtige Mann, der dort inmitten von Büchern auf einem breiten Polsterkissen saß, nahm einen Stapel loser Papiere von seinem Schoß und stand auf. »Willkommen in meinem Refugium.«
Das Refugium war etwas kleiner als der Salon, durch den Swanson hereingekommen war, und bis in den letzten Winkel mit Bücherregalen und Vitrinen vollgestellt.
»Es tut mir leid, Sie zu stören«, sagte Swanson und ergriff die Hand, die Ashbee ihm hinhielt. »Wie ich sehe, sind Sie bei der Arbeit.«
»Ich genieße das schöne Privileg, Arbeit und Vergnügen verbinden zu können.« Er hielt ein Blatt Papier in die Höhe, das eine sehr detailliert gezeichnete Vulva zierte, und lachte. »Es ist also noch schlimmer – Sie stören mich bei meinem Vergnügen.«
»Pornografie.«, stellte Swanson fest.
»Erotik, Chief Inspector. Die Wissenschaft der erotischen Literatur, genau genommen. Nun, und ein paar andere Dinge. Rein akademisch, das versichere ich Ihnen.« Das Blatt segelte zu den anderen am Boden. »Sie sind jedoch aus einem anderen Grund hier, nehme ich an.«
Swanson war sich dessen nicht ganz so sicher. Er fragte sich nämlich, ob Edward Onsell mit seiner Einschätzung des nekrophilen Spinners womöglich doch richtig gelegen hatte. »Es geht um die skelettierte Kinderleiche vom Margravine Friedhof«, sagte er. »Sie waren mit einer Frau zusammen, als Sie darauf stießen.«
»Das ist richtig. Recht unangenehme Erfahrung, kann ich Ihnen sagen. Habe ich Unannehmlichkeiten zu befürchten, wenn ich offen mit Ihnen spreche?«
»Ich bin ein toleranter Mensch, Mr Ashbee. Von mir haben Sie nur dann Unannehmlichkeiten zu befürchten, wenn Sie etwas mit dem Tod des Babys zu tun haben.«
»Das habe ich gewiss nicht. Ich war mit einem Mädchen dort.«
Swanson betrachtete einen Phallus aus Jade, der in einer der Vitrinen aufrecht in einer Schale aus demselben Material stand. »Rein akademisch, versteht sich.«
»Nun, nicht ganz.« Er trat neben Swanson. »Das sind übrigens Yoni und Lingam. Ein harmloses hinduistisches Symbol der Reinheit und der Verschmelzung des Männlichen mit dem Weiblichen. Was das Mädchen auf dem Friedhof betrifft … Ich muss gestehen, unser Besuch dort war nicht ganz so harmloser Natur.«
»Sie suchten den abgeschiedenen Flecken auf, um Geschlechtsverkehr auszuüben, denke ich mir.«
»So umständlich, wie Sie es ausdrücken«, meinte Ashbee sichtlich amüsiert, »klingt es ja, als würde man eine komplizierte Arbeit verrichten müssen. Obwohl – das war es letztlich auch. Und bevor es überhaupt dazu kommen konnte, sind wir beide über diesen vermaledeiten Steinhaufen gefallen.«
»Es setzt mich in Erstaunen, dass Sie den verborgenen Platz im Dunkeln überhaupt finden konnten, geschweige denn die Leiche«, sagte Swanson.
»Es gab noch Tageslicht, als wir dort ankamen.«
»Demnach hielten Sie sich länger dort auf?«
»Eine Weile, ja. Es hat alles etwas gedauert.«
»Was alles hat etwas gedauert, Mr Ashbee?«
»Nun –« Gedankenverloren zupfte er an seinem Bart, während er vor Swanson her in den Salon schlenderte. »Die rechte Atmosphäre herzustellen, würde ich sagen. Und ehe wir uns versahen, war es stockfinster.« Er sank in einen der Ledersessel.
Auch Swanson setzte sich. »Wie konnten Sie die Leiche sehen, wenn es so finster war?«
»Zündhölzer, Chief Inspector.« Ashbee griff umständlich in seine Hosentasche und förderte wie zum Beweis eine kleine Blechdose zu Tage. Er schüttelte sie. »Immerhin haben wir den Fund gleich gemeldet. Wir hätten auch einfach abhauen können, und niemand hätte uns bemerkt.«
Das war in der Tat etwas, das Swanson verwunderte. »Warum sind Sie es nicht?«
»Was?«
»Einfach abgehauen.«
»Weil ich ein ehrliches und aufrechtes Mitglied der Gesellschaft bin. Deshalb. Es war meine heilige Pflicht, den Fund der Polizei zu melden.«
»Dennoch haben Sie den Beamten gegenüber zunächst einen falschen Namen angegeben.«, sagte Swanson. »Warum?«
»Wegen des Mädchens, das ich bei mir hatte, natürlich«, gab Ashbee zur Antwort.
»Das verstehe ich nicht.«
»Sehen Sie«, Ashbee zupfte wieder an seinem Bart. »Die Kleine ist eine Dirne. Eine zauberhafte, bildhübsche und von mir hochgeschätzte junge Dame, mit einem Busch, in dem man sich für Stunden verlieren kann, aber eben eine Dirne. Sie arbeitet in einem Bordell, das ich gelegentlich für meine Feldstudien aufsuche. Wie all die anderen kennt sie mich nur unter dem Namen Walter.«
»Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Mannes, dem an seinem gesellschaftlichen Ruf sonderlich gelegen ist, Mr Ashbee. Weshalb dann die Heimlichkeiten?«
»Reine Vorsicht«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie vertraut Sie mit dem Nachwuchs in den Bordellen am Haymarket sind, Chief Inspector. Aus leidvoller Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass sich gerade die jungen Dinger nur allzu leicht in einen aufmerksamen Liebhaber verlieben. So mancher unerfahrene Bursche hat sich dabei im Eifer des Gefechtes schon zu einem Eheversprechen hinreißen lassen, nur um ihr sein Ding mal in das andere Loch stecken zu dürfen – ich nicht ausgenommen. Das ist legitim, wenn die Glut heiß ist. Und doch äußerst gefährlich, wenn man es unter seinem echten Namen tut. Ich kenne einen anständigen jungen Kerl, der durch eine kleine Indiskretion gegenwärtig in solchen Schwierigkeiten steckt. Gegen eine verliebte Dirne ist ja beileibe nichts einzuwenden – solange sie nicht an meiner Wohnungstür auftaucht und ihre vermeintlichen Rechte einfordert.«
Swanson war alt genug, um keine roten Ohren zu bekommen. Dennoch befremdeten ihn Ashbees schamlose Ansichten über die Frauen. Dieser Mann mochte kein Mörder sein, nicht einmal ein nekrophiler Spinner, doch das ehrliche und aufrechte Mitglied der Gesellschaft, als das er sich selbst sah, war er in Swanson Augen sicherlich auch nicht.
»Ich habe Sie mit meiner Offenheit schockiert, Chief Inspector«, sagte Ashbee, so als habe er Swansons Gedanken gelesen. »Das lag mir fern.«
»Es ist nicht Ihre Offenheit, die mich schockiert«, entgegnete Swanson. »Es ist Ihre Verachtung den Frauen gegenüber.«
»Aber ich verachte die Frauen nicht!« Ashbee wurde kerzengerade. Das amüsierte Lächeln hatte sich verflüchtigt. »Das genaue Gegenteil ist der Fall, glauben Sie mir. Das ist ja das Verheerende daran.«
»Es klingt nicht gerade danach.«
Ashbee schlug ein Bein über das andere und sagte: »Es waren die alte Köchin und das Hausmädchen meines Vaters, die mich in meiner frühesten Jugend in die Geheimnisse der sexuellen Lust einweihten. Seither studiere ich die Weiblichkeit mit einer Hingabe, die ihresgleichen sucht. Ich hebe die Damen auf den Thron, auf den sie gehören. Ich vergöttere sie. Die meisten Männer sind allein auf ihre eigene Befriedigung aus und haben von der Topographie der Frau nicht den leisten Schimmer. Wissen Sie, wo bei einer Frau die Klitoris liegt?« Und als Swanson nicht darauf antwortete: »Ja, nun, die wenigsten Ehemänner wissen es. Der weiblichen Lust zu ihrem Geburtsrecht zu verhelfen, Chief Inspector, das ist es, was ich als höchstes Ziel verfolge. Allein dazu dienen all meine Studien und diese Sammlung erotischer Literatur hier. Sie ist, nebenbei bemerkt, diewohl größte in England. Macht mich das zu einem besseren oder schlechteren Menschen?«
»Darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben«, sagte Swanson.
Ashbee lümmelte sich in seinen Sessel. »War es nicht Goethe, der sagte, Sammler seien die besseren Menschen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er sich auf Sammlungen wie diese bezog, Mr Ashbee.«
»Soviel ich weiß, war er selbst auch kein Kostverächter, Chief Inspector. Er wusste bestimmt, wo sich die Klitoris befindet.«
»Darüber weiß ich nichts«, sagte Swanson und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Ich kam aus anderen Gründen her.«
»Ich versichere es Ihnen. Meine Frau ist Deutsche. Sie hat ihn im Original gelesen.«
»Sie ist …« Swanson machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum mit einbezog. »… einverstanden mit alledem?«
»Wir haben uns vor drei Jahren getrennt«, entgegnete Ashbee knapp. »Allerdings nicht wegen … alledem. Sie schätzte meine Arbeit, als wir noch miteinander verkehrten. Ich lehrte sie, mutig zu sein, Chief Inspector. Fragen Sie nicht danach, wie schmutzig und verdorben sie zwischen den Laken die Befriedigung ihrer Lust eingefordert hat.«
Swanson hatte es nicht vorgehabt. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, Mr Ashbee. Es war … sehr interessant.« Swanson stand auf.
Ashbee tat es ihm gleich. Dann ging er zu einem Regal im Nebenraum und kam mit einem Buch in der Hand zurück. »Sind Sie mit Fanny Hill vertraut?«
»Nicht so vertraut wie Sie, könnte ich mir vorstellen.« Bei einer Razzia in Limehouse hatte Swanson als junger Constable einmal einen hastigen Blick auf ein Exemplar des verbotenen Buches werfen können, bevor der leitende Inspector es konfisziert hatte, angeblich, um es zu vernichten. »Weshalb fragen Sie?«
»Weil ich der Ansicht bin, dass Fanny Hill das einzige von Frauenhand verfasste Buch lustvoller Anekdoten ist, dessen man habhaft werden kann. Man bemerkt es schon an der Zurückhaltung der Autorin. Trotz seiner Offenherzigkeit, zeigt sich hier die schwere eiserne Fessel, an die die weibliche Lust gelegt ist – nur im übertragenen Sinne selbstverständlich.« Er schmunzelte verschmitzt. »Wäre es von einem Mann geschrieben worden, Chief Inspector, es enthielte gewiss mehr Wörter mit weniger Buchstaben.« Er schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf, las still eine kurze Passage, die ihm offenkundiges Vergnügen bereitete, und klappte es wieder zu. Dann drückte er es Swanson in die Hand und geleitete ihn zur Wohnungstür. »Es enthält einige der schönsten Beschreibungen von Masturbation, die je zu Papier gebracht worden sind. Doch in diesem Buch steht nicht ein obszönes Wort. Aber obszöne Handlungen erfordern vollsaftige erotische Ausdrücke, da stimmen Sie mir sicherlich zu. Ausdrücke, deren sich selbst die tugendhaftesten Leute bedienen, wenn sie mit Wollust und Liebe bei der Sache sind. Jede Frau sollte sich trauen dürfen, sie nach Herzenslust und ohne falsche Scham zu benutzen.« Er strich sich mit beiden Händen über den Bart und sah Swanson an. »Halten Sie mich noch immer für einen Mann, der die Frauen verachtet, Chief Inspector?«
»Darüber denke ich nach, während ich nach Whitehall zurückfahre«, entgegnete Swanson. »Eine Frage noch, Mr Ashbee. Ist Ihnen Loxley’s Kabinett der Kuriositäten ein Begriff?«
»Ich wüsste, wie ich hinkäme, wenn Sie das meinen. Es liegt in der Nähe des Margravine Friedhofs.«
»Das Grundstück grenzt daran an, ja. Haben Sie es besucht?«
»Nein. Getrocknete Meerjungfrauen und Nägel vom Kreuz Christi, irgendwas in der Art, stelle ich mir vor.« Er machte ein angewidertes Gesicht. »So was ist nichts für mich.«
»Das dachte ich mir beinahe.«
»Hoffentlich konnte ich etwas Licht auf Ihre Ermittlungen werfen. Wenn Sie noch Fragen haben, besuchen Sie mich.«
»Das werde ich, Mr Ashbee, wenn es nötig sein sollte.«
Erst, als er wieder in dem kleinen Vorraum vor dem Aufzug stand und die Tür von Henry Spencer Ashbees Wohnung sich hinter ihm geschlossen hatte, stellte Swanson fest, dass er das Buch noch in der Hand hielt.
New Scotland Yard, Whitehall
Zurück im Yard, lief ihm unten im Treppenhaus Sergeant Wilson mit einem Stapel Akten über den Weg. Swanson hielt ihn auf halber Treppe an, das zerlesene Exemplar von Fanny Hill vorsichtshalber unter seinem Staubmantel verborgen.
»Sagen Sie, Wilson …«
»Ja, Mr Swanson, Sir?«
»Wissen Sie zufällig, wo …« Er stockte und behielt den Treppenaufgang im Auge, um sicher zu gehen, dass sie alleine waren. »Wo … die Klitoris liegt?«
»Meine Güte, da fragen Sie mich was, Sir.« Wilson drückte die Akten gegen seine Brust, die Mundwinkel herunter- und die Stirne krausgezogen. »Wo haben Sie sie denn zuletzt gesehen?«
»Danke, Wilson.« Swanson nickte milde und zwängte sich an Wilson vorbei, der mit dem Rücken am Treppengeländer lehnte und angestrengt nachdachte. »Ich wollte nur etwas überprüfen.«
»Warten Sie! Das war mir nicht klar, Sir! Das hätten Sie mir vorher sagen müssen!« Der Sergeant sah ihn entsetzt an. »Es ist nicht fair, mich einfach damit zu überfallen, wenn es etwas so Wichtiges ist. Haben Sie denn schon auf Ihrem Schreibtisch nachgesehen? Wenn nicht da, würde ich wetten, Penwood hat sie. Und wenn er sie nur genommen hat, um mir eins auszuwischen. Sie kennen ihn doch, sie wissen, wie er ist.« Er redete wie im Fieber. »Ich habe sie jedenfalls nicht.«
»Schon gut. Vergessen Sie einfach, dass ich Sie gefragt habe.«
Der Sergeant ließ frustriert die Schultern hängen. »Ich bin durchgefallen, nicht wahr, Sir?«
»Kein Grund zur Sorge, Wilson.« Swanson klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Mindestens guter Durchschnitt, würde ich sagen.«
Erleichtert blies Wilson die Backen auf und schickte einen Stoßseufzer gen Himmel. »Gott sei Dank, Sir. Gott sei Dank.«
Und Swanson ging nach oben.
Auf der Tafel in seinem Büro war kaum noch Platz. Swanson nahm ein Stück Kreide in die Hand.
Henry Armitage war freiwillig untergetaucht. Etwas, das sie bereits vermutet und was sein Arbeitgeber ihnen bestätigt hatte. Am Abend nach seinem Verschwinden war er noch dort gewesen. Angeblich wollte er Urlaub machen. Darüber hinaus hatte Annie den Eindruck gehabt, der Mann habe sich schon auf der Fahrt nach Earls Court verfolgt gefühlt. Doch von wem? Von der Polizei ganz sicher nicht, denn sonst wäre er wohl kaum mit seiner Verlobten auf diese Ausstellung gegangen. Und wenn der Unbekannte aus dem Museum am Verlobungsabend der Überbringer des Briefes im blauen Umschlag gewesen war und Armitage ihn anschließend im Zusammenhang damit getötet hatte, bestand auch von der Seite keine Gefahr mehr. Denn zu dem Zeitpunkt war er bereits tot gewesen. Trotzdem hatte der Anwaltsgehilfe das Gefühl gehabt, er müsse auf der Hut sein. Vor wem?
Swanson verband die Worte »Quecksilber«, »Syphilis«, »Schach«, »Briefumschlag« und »Taschentuch« durch Pfeile mit Armitages Namen. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk.
Ernest Miller behauptete, der Umschlag habe mit einem verspäteten Verlobungsgeschenk zu tun gehabt. Swanson hatte es ihm keine Sekunde lang geglaubt. Eine Reaktion, wie Armitage und Miller sie gezeigt hatten, war mit der bloßen Verspätung eines Geschenkes nicht zu erklären.
Was, wenn Ernest Miller herausgefunden hatte, dass sein zukünftiger Schwiegersohn, nicht ganz das keusche Leben führte, das er von einem Ehemann seiner Tochter erwartete? War es dann nicht denkbar, dass er versuchte, die Hochzeit zu verhindern? Vielleicht, indem er anonyme Briefe an Armitage schickte? Ein Fläschchen Quecksilber, mit dem Hinweis, er könne sich mit der Syphilis angesteckt haben? Die kleine Flasche, die Phelps gefunden hatte, war nicht geöffnet worden. Das bedeutete, Armitage hatte das Mittel nicht benutzt.
Andererseits konnte er sich Miller auch anvertraut haben – ganz gleich, ob er nun von einer verschmähten Liebe erpresst wurde, oder glaubte an einer Geschlechtskrankheit zu leiden –, und der schützte seinen Schwiegersohn. Immerhin war Miller davon ausgegangen, wenn Armitage denn einen Menschen getötet habe, dann mit Sicherheit eine Frau. Und wenn es sich bei dem blauen Brief tatsächlich um den eines Erpressers oder einer Erpresserin gehandelt hatte, dann war davon auszugehen, dass Ernest Miller darüber Bescheid wusste. Eines stand für Swanson außer Frage: Einen Mord begehen würde Ernest Miller nicht. Weder aus dem einen noch aus dem anderen Grund.
Er rieb sich die Stirn. Ihm schwirrte der Kopf. Die schiere Zahl an hypothetischen Möglichkeiten war grenzenlos. Er betrachtete noch immer die fünf Wörter an der Tafel. Zwei stachen heraus. »Taschentuch« und »Schach«.
Angenommen, Armitage hätte den Mann im Kuriositätenkabinett ermordet, wäre er wirklich so unüberlegt oder dreist gewesen, sein Taschentuch an den Dolch zu knoten? Wenn ja, aus welchem Grund? Der Mörder hatte es ja nicht einfach so am Tatort verloren. Es dort zu platzieren, hatte Überlegungen erfordert und eine Entscheidung. Er hätte auch gleich einen Zettel mit seinem Geständnis auf die Klinge spießen können. Das ergab keinen Sinn. Ein Mörder, dem es gelang, sein Opfer vom Friedhof aus durch einen Keller in ein unbekanntes Haus zu locken, ging planvoll vor. Der machte keine solchen Fehler. Je länger Swanson darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien es ihm. Hätte Armitage einen Erpresser loswerden wollen, wäre es sicherer und einfacher gewesen, ihm nachts in einer dunklen Seitengasse aufzulauern und ihm die Kehle durchzuschneiden.
Das Wort »Schach« passte ebenso wenig ins Bild. Nur ein geistig Verwirrter hätte einen Streit mit Najuk Singh vom Zaun gebrochen, hätte er vorgehabt, ihn später zu töten.
Swanson konnte es drehen, wie er wollte, er kam immer wieder auf Ernest Miller und dessen Reaktion auf den blauen Brief zurück. Er wusste gewiss mehr, als er zugab. Eine heikle Angelegenheit, die Fingerspitzengefühl erforderte. Bevor er anfing, vor lauter Verzweiflung in seiner eigenen Nachbarschaft nach Mördern zu jagen, galt es, alle anderen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Ein Satz, den Henry Spencer Ashbee heute zu ihm gesagt hatte, brachte Swanson auf eine Idee.
Da weder Peter Phelps noch Fred Wensley in der Nähe waren, griff der Chief Inspector sich kurzerhand Sergeant Penwood, den er wie üblich in der Teeküche antraf.
»Man könnte fast den Eindruck bekommen, Sie täten nichts anderes, als uns den Tee zu kochen«, sagte er.
»Meinen Sie? Ich möchte eben, dass es allen gutgeht, Sir.« Er trat halb in den Kabuff. »Darjeeling, wie immer?«
»Nein, Clarence. Heute habe ich eine besondere Aufgabe für Sie.«
»Das freut mich, Sir.« Penwood straffte sich und seine Augen leuchteten. »Nun denn, was kann ich für Sie tun?«
»Wir treffen uns in einer Viertelstunde vor dem Haupteingang«, sagte Swanson. »Kommen Sie in Zivil, Sergeant. Aber kommen Sie um Himmels willen nicht verkleidet.«
Er nickte ernst. »Ich dachte gar nicht dran, Sir.«
Im Weggehen drehte sich Swanson noch einmal um. »Ah … etwas noch.«
»Sir?«
»Sagen Sie, Clarence, haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wo die Klitoris liegt?«
Penwoods runde Brillengläser beschlugen, als ein Anflug schamhafter Röte sein Gesicht überzog. »Eine ziemlich exakte sogar, Sir.«
»Gut, der Mann. In einer Viertelstunde also.«
Irritiert blickte der Sergeant ihm nach, als Swanson wieder in seinem Büro verschwand.
26 Haymarket, Mayfair
Das Haus, das Swanson mit Penwood besuchen wollte, lag in St. James’s, und damit im Zentrum der Vergnügungsmeile des Westends, auf der Ostseite der Straße. In den Abendstunden vermischten sich hier die wohlhabenden Theaterbesucher, die nach der Vorstellung aus dem King’s Theatre in die Cafés der Straße strömten, mit den finsteren Typen, die in den Pubs und Freudenhäusern die Nacht zum Tag machten. Nicht selten hatte Swanson, als noch grüner Constable, zwischen Piccadilly und Pall Mall eine Tracht Prügel bezogen, wenn er versuchte, eines Verbrechers habhaft zu werden. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Er war älter geworden, ein angehender Superintendent der Kriminalabteilung, und abgebrühter. Außerdem war es noch heller Tag.
Ausnahmsweise zahlte Swanson den Fahrpreis für die Droschke, da Penwood steif und fest behauptete, seine Brieftasche grundsätzlich daheim bei seiner Frau zu lassen.
Bevor sie anklopften, nahm Swanson Penwood zwischen zwei blickdicht verhängten Fenstern beiseite und erinnerte ihn daran, weshalb sie hier waren. »Wir beide sind inkognito, Clarence«, raunte er ihm zu. »Vergessen Sie den Polizisten. Solange es nicht notwendig ist, unsere Maskerade fallen zu lassen, sind wir zwei gewöhnliche Gentlemen, die nach etwas Vergnügen suchen. Haben Sie das verstanden?«
»Klar, Sir.«
»Und verkneifen Sie sich in Gottes Namen den Sir.«
»Ich kann‘s versuchen, Sir.« Penwood biss sich in die Faust. »Sehen Sie, es wird mir rausrutschen. Es ist die Macht der Gewohnheit. Ich bin besser Ihr Diener.«
»Nun, von mir aus.« Swanson klopfte und sie wurden von einer kräftigen Dame im Brokatkleid und mit leichtem Flaum über der Oberlippe eingelassen. Ihr Dekolletee wölbte sich üppig über dem zu engen Stoff.
»Willkommen, Gentlemen«, säuselte sie übertrieben freundlich. »Ich bin Miss Georgina.«
Der Herr des Hauses war also eine Frau, dachte Swanson. Die Welt hatte sich auch hier weitergedreht. Zu seiner Zeit war der Türsteher noch ein echter Eunuch gewesen. Miss Georginas schwerem, scharfkantigem Akzent nach stammte sie aus Deutschland. Sie bot ihnen zwei neue Mädchen an, kaum dass sie »Guten Tag« gesagt hatten.
»Frisch vom Land«, fügte sie hinzu, als handle es sich um zwei Pfund Kalbfleisch auf dem Markt von Smithfield. »Beides noch Jungfrauen.«
»Ich bevorzuge die erfahreneren Damen«, sagte Swanson mit einem, wie er hoffte, lüsternen Lächeln und legte Penwood sanft eine Hand auf den Arm. »Das tun wir beide.«
Penwood nickte eifrig, die Wangen rot.
»Zwei Genießer, die Erfahrung zu schätzen wissen«, sagte Miss Georgina augenzwinkernd. »Ich bin sicher, wir haben genau das Richtige für Ihren Geschmack. Folgen Sie mir zu den Separees, Gentlemen.«
Swanson sah sich in der großzügigen Eingangshalle um, an deren Decke ein mächtiger Kristallkronleuchter hing, derweil Miss Georgina sie zu einer breiten Holztreppe geleitete, die rechterhand nach oben führte. Der Fußboden war mit flauschigen Teppichen ausgelegt. Das Licht war gedämpft. Bunte Tücher bespannten die tiefen Sessel, die in den Wandnischen standen. Der Duft von Jasmin lag in der Luft.
Sechs oder sieben Türen gingen von dem Flur im nächsten Stockwerk ab, den sie nun erreichten. Die am äußersten Ende öffnete sich. Gedämpftes Kichern und Stöhnen war aus den anderen Zimmern zu vernehmen. Ein Herr im Leinenanzug trat heraus, warf eine Kusshand nach drinnen ins Zimmer und schloss die Tür. Als er sich in ihre Richtung wandte, erkannte Swanson ihn. Es war Howard Carter, der Archäologe, den er auf Miss Millers Verlobungsfeier gesprochen hatte. Augenscheinlich grub er noch nach ganz anderen Dingen als nur nach toten Pharaonen.
Um nicht erkannt zu werden, zog Swanson den Bowler ins Gesicht, doch es nützte nichts. Carter kam geradewegs auf sie zu. Wenn der Archäologe ihn zuerst erkannte und Penwood oder Swanson sich daraufhin merkwürdig verhielten, war ihre schöne Verkleidung beim Teufel.
Swanson entschloss sich zur Offensive. Als sich die Begegnung nicht mehr vermeiden ließ, tippte er an seinen Bowler, lächelte und grüßte. »Mr Carter.«
»Ich muss doch sehr bitten, Sir!« Pikiert blickte Carter um sich. »Mein Name ist Walter. Wüsste nicht, woher wir uns kennen.« Und er strauchelte leicht, als er eilig die Treppe nach unten nahm.
Miss Georgina schmunzelte nur. Vor einer der Türen blieb sie schließlich stehen. »Sie haben Glück, es ist noch nicht viel Verkehr um diese Tageszeit. Bis auf drei von ihnen stehen die Mädchen Ihnen die nächste Stunde zur Verfügung. Sie haben reichlich Auswahl.«
Penwood, offenbar mutig geworden, fragte: »Dürfen wir sie vorher ansehen?«
»Ein Frischling, stimmt‘s? Die sind mir persönlich die Liebsten.« Sie knuffte ihn süffisant in die Seite. »Keine Angst, Herzchen, Sie dürfen sie sogar küssen.«
»Ein guter Freund legte mir eines der Mädchen besonders ans Herz«, sagte Swanson, ehe Penwood noch auf dumme Gedanken kam. »Leider habe ich mir den Namen nicht gemerkt.«
»Dann wird es schwierig.« Miss Georgina wackelte mit dem Kopf. »Hat er Ihnen das Mädchen beschrieben?«
»Nein. Doch Sie kennen ihn vielleicht. Sein Name …«
Sie verschloss Swansons Mund mit ihrem rot lackierten Zeigefinger. »Nicht doch, Walter«, sagte sie sanft. »Keine Indiskretionen. Nur die Mädchen haben in diesem Haus Namen.« Sie lächelte wieder. »Wer immer ihr lieber Freund ist, er wird Walter heißen, Walter.«
Eine der Türen ging plötzlich auf und zwei junge Damen lugten heraus. Eine anmutige Schönheit, deren schwarze Locken ihr bis auf die breiten Hüften fielen, und eine hellblonde, sehr schlanke Frau mit Sommersprossen auf den nackten Schultern. Als sie die beiden Männer im Flur stehen sahen, begannen sie zu giggeln und streckten die Arme nach ihnen aus. Eine, die Dunkelhaarige, krallte sich wie eine Katze in den Saum von Penwoods Jackett, die andere ergriff Swansons Hand.
»Kommt rein, ihr Süßen«, schnurrte die eine.
»Bei uns habt ihr es schön warm«, schnurrte die andere.
Penwood, dem offenkundig bereits warm genug war, lockerte seinen Kragen. »Ich … weiß nicht, Sir.«
»Mein Diener hat keine Erfahrung in solchen Dingen«, sagte Swanson rasch, um Penwoods kleinen Ausrutscher ungeschehen zu machen. »Ich brachte ihn her, um zu lernen.«
Miss Georginas Augen leuchteten. »Dann ist unsere Isabell genau die Richtige für ihn.«
Die Schwarzhaarige nickte und umschlang wie eine exotische Schlingpflanze Penwoods Arm. Als er nicht gleich mitging, schob sie die Unterlippe vor. »Komm, Walter, komm.«
»Gehen Sie nur, Walter«, sagte Swanson. »Wie sie sehen, komme ich zurecht.«
»Aber, Sir. Ich bin verheiratet.«
»Das sind sie alle, Süßer.« Isabell maunzte und der Sergeant gab seine Gegenwehr auf. Sie zog ihn hinter sich her ins Zimmer. Die Tür klappte zu.
»Sie, Walter, können mit Hetty gehen, jetzt, wo Ihr Diener versorgt ist«, sagte Miss Georgina. In einer mütterlichen Geste strich sie dem blonden Mädchen über den Kopf. »Sie wird sie nicht enttäuschen. Und wenn sie ihnen gefällt, empfehlen Sie uns weiter.«
Er entschied, dass es besser war, darauf einzugehen. Er bedankte sich bei der Hausherrin und folgte Hetty ins Nebenzimmer. Es bestand hauptsächlich aus einem mächtigen Himmelbett. Auf dem Boden verstreut lagen Kissen. Das Mädchen war nicht halb so aufdringlich, wie die Schwarzhaarige es gewesen war. Sie kicherte zwar noch immer, aber sie blickte ihn etwas schüchtern mit ihren blauen Augen an, als er auf der Bettkante Platz nahm.
Vor ihm blieb sie stehen. Unter dem dünnen Nachthemd, das sie trug, zeichnete sich ihr schlanker Körper ab. »Wie ham‘ Sie’s denn am liebsten?«, fragte sie schließlich.
»Angezogen«, sagte er und schenkte ihr ein Lächeln, das, wie er hoffte, sein Wohlmeinen zum Ausdruck brachte.
Hetty hingegen sah ihn an, als sei sie solche Antworten gewohnt. »Soll ich es machen, oder willst du ihn dir selber rausholen?«
Er klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Bettdecke. »Ich möchte mich nur eine Weile mit dir unterhalten«, sagte er.
»Is‘ gut. Is‘ aber nich‘ billiger.« Sie setzte sich neben ihn.
Er zog das Portraitfoto von Henry Armitage hervor und zeigte es ihr. »Ich frage mich, Hetty, ob du diesen Mann kennst.«
Entsetzt wich sie zurück. »Das darf ich nicht, Sir!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Ein schmaler Träger rutschte ihr über die Schulter. Dann sprang sie auf. »Sie sind‘n Bulle, was? Ich darf mit Ihnen nich‘ reden.«
»Bitte setz dich wieder. Niemand wird davon erfahren.«
Sie ließ sich auf das Bett fallen, schlang die Arme um ihren Körper, als sei ihr in dem warmen Zimmer plötzlich kalt geworden. Sie seufzte schwer. Dann sagte sie: »Das is‘ Henry.«
»Du erinnerst dich an seinen richtigen Namen?«
Die Andeutung eines Nickens.
»Wieso?«
»Er is‘ nett.« Sie wiegte den Kopf. »Bertha hat ihn vergrault.«
Swanson horchte auf. »Bertha? Womit hat sie ihn vergrault?«
»Bildete sich ein, er würde sie heiraten. Sagt, sie sei seine Braut oder sowas. Irgendwann kam er dann nicht mehr her.«
»Traf Henry diese Bertha hier in diesem Haus?«
»Ja. Sie hatte das Zimmer ganz am Ende des Flurs.«
»Hatte?«
»Sie is‘ weg«, gab Hetty zur Antwort. »Das Gezeter von wegen Henry und ihn heiraten wollen, hat Georgina irgendwann gereicht. Sie hat sie fortgejagt.«
»Weißt du, wo sie jetzt lebt?«
»Nee. Kenn ja nich‘ mal ihren Nachnamen. Bloß, dass sie zu ihm wollte.« Eine senkrechte Falte entstand zwischen ihren hellen Augenbrauen. »Rumgeschrien hat sie, dass sie seine Frau wird und eine richtige Dame. ‚Ihr werdet es alle noch erleben!‘, hat sie geschrien, als sie raus is‘.
Swanson nickte. Das war mehr, als er erwartet hatte. »Du hast mir sehr geholfen, Hetty. Kannst du dich erinnern, wann Henry das erste Mal herkam?«
»Vor ungefähr `nem Jahr, oder so.«
Swanson konnte sich kaum vorstellen, dass der Bordellbesuch Armitages Idee gewesen war. Dazu hatte er auf Swanson zu verstaubt gewirkt. Er fragte: »Kam er damals allein oder in Begleitung.«
»Mit einem anderen Gentleman«, sagte sie.
»Kannst du ihn mir beschreiben?«
»Älter, hat ausgesehen wie alle. Aber fast kahl war er. Um ein Haar hätte er eine Glatze bekommen.« Sie kicherte zum ersten Mal wieder, seit sie miteinander sprachen, und bemühte sich, die schmalen Träger ihres durchsichtigen Nachthemdes daran zu hindern, über ihre Schultern zu rutschen. »Aber nichts zu Georgina.«
»Danke, Hetty.« Er steckte das Foto ein und stand auf. »Was hier geredet wurde, bleibt unter uns, versprochen.« Zum Abschied nahm er sachte ihre Fingerspitzen und hauchte Hetty einen Kuss auf den Handrücken.
Miss Georgina hatte auf einem rotbepolsterten Stuhl im Gang gesessen und in einem Buch gelesen. Jetzt stand sie auf, einen Finger zwischen den Seiten. »War das Mädchen zu Ihrer Zufriedenheit, Walter?«
»Durchaus«, sagte er. »Doch bestimmt nicht das Mädchen, das mein guter Freund Henry Armitage mir empfahl.«
Sie starrte ihn entgeistert an. »Was soll das? Wer sind Sie?«
»Walter«, sagte er ernst.
»Hören Sie auf damit.« Sie funkelte ihn böse an. »Sie sind wegen Bertha gekommen.«
»Sie kennen ja doch die Namen Ihrer Kundschaft, Miss Georgina.« Er hielt ihr seinen Dienstausweis unter die Nase. »Ich habe kein Interesse an den Mädchen. Ich benötige den Namen des Mannes, der Mr Armitage bei Ihnen einführte.«
Als sie begriffen hatte, dass dieser Walter nicht wegen der fleischlichen Genüsse gekommen war, wurde ihr Verhalten abweisender.
»Zum Teufel mit euch Engländern«, schnarrte sie. »Das Einzige, was bei euch immer steif ist, ist eure Oberlippe. Und richtig feucht ist nur Mutter Themse.«
»Ich bin Schotte«, sagte Swanson. »Ist Ihnen der Name des Mannes nun bekannt oder nicht?«
Sie zögerte.
»Ich kann auch zur besten Zeit mit meinen Kollegen wiederkommen und all die Walters befragen lassen. Also – wer brachte ihn her?«
Sie klappte ärgerlich das Buch zu. »Sein Schwiegervater.«
Swanson war zufrieden. Er hatte bekommen, was er wollte.
Miss Georgina stand noch immer wie versteinert bei dem Stuhl, als Swanson die Tür zu Isabells Zimmer öffnete, um nach seinem Sergeant zu sehen. Die anmutige Schwarzhaarige im bauschigen Unterkleid fummelte gerade an Penwoods Hosenknöpfen. Dann schwang sie einen weißen Oberschenkel über ihn, und sein Kopf verschwand unter ihren Röcken.
Swanson schloss diskret die Tür.
Clarence Penwood war ein erwachsener Mann. Er würde selbstständig in sein Teekabuff zurückfinden.
New Scotland Yard, Whitehall
»Wir haben einen Treffer, Sir!«, rief Frederick Wensley von der Schultafel her, als Swanson im Büro eintraf. »Der Tote aus Edward Onsells Museum – wir haben ihn identifiziert.«
»Seine Wohnung liegt nicht weit vom Friedhof in einer der Nebenstraßen«, bemerkte Phelps, der hinter ihm stand. »Spencer Mews heißt sie. Und er lebte wohl sehr zurückgezogen. Deshalb hat es ein bisschen länger gedauert, ihn zu finden. Die Frau, die uns reingelassen hat, meinte, keiner habe groß etwas mit ihm zu schaffen haben wollen. Er galt als Lustmolch. Hat alles begrapscht, was ihm unter die Finger kam.«
»Gut gemacht.« Swanson war im Türrahmen stehen geblieben. »Ist er deswegen mal polizeilich in Erscheinung getreten?«
»Kann ich noch nicht sagen, Sir.«
»Lassen Sie Stewart Evans danach suchen, Phelps. Irgendwelche Verbindungen zu Onsell oder Armitage?«
»Sie werden staunen, Sir«, sagte Wensley. »Es gibt in der Tat eine Verbindung. Der Name des Mannes ist Loxley. Owen Joseph Loxley. Ihm gehörte das Haus, bevor Onsell sein Museum darin unterbrachte. «
»Dann muss Onsell ihn gekannt haben«, stellte Swanson fest. »Er hat uns belogen.«
»Leider ist es nicht so einfach.« Phelps kratzte sich am Kopf. »Onsell behauptet weiterhin, er habe diesen Loxley nie getroffen. Das scheint zu stimmen. Zumindest, was den Kauf des Hauses betrifft. Onsell erwarb es von einem reichen Inder. Zuvor hatte es über ein Jahr leer gestanden. Wenn er den Mann nicht bei einer anderen Gelegenheit getroffen hat, stimmt, was er sagt.« Er zuckte die Achseln. »Wir haben das überprüft.«
»Haben Sie sich in der Wohnung umgesehen?«
»Nicht gründlich.« Wensley legte die Kreide in das Fach. »Nachdem wir mit der Frau geredet hatten, sprachen wir zunächst mit Edward Onsell, und dann suchten wir den Makler auf, der ihm das Haus vermittelte – und uns die Sache mit dem Inder bestätigte. Wir können aber gleich hinfahren, Sir.«
»Das hat bis morgen Zeit«, sagte Swanson. »Ich habe nämlich auch einen Treffer. Henry Armitage wurde höchstwahrscheinlich von einer Prostituierten aus einem Freudenhaus im Westend erpresst. Im Eifer des Gefechts hat er ihr die Ehe versprochen, wie es scheint. Vermutlich ist er deshalb untergetaucht.«
Phelps stieß einen leisen Pfiff aus. »Was es alles gibt.«
»Und wissen Sie, wer ihn dort eingeführt hat?« Swanson blickte von einem zum anderen. Allgemeines Kopfschütteln. »Mr Ernest Miller. Sein zukünftiger Schwiegervater.«
»Dann wird Miller bestimmt auch wissen, wo Armitage sich versteckt hält«, sagte Phelps.
Swanson nickte. »Das war exakt mein Gedanke.«
Wensley stemmte entschlossen die Hände in die Hüften. »Sollen wir uns diesen Gentleman morgen mal vorknüpfen, Sir?«
»Wir statten den Millers jetzt gleich einen Besuch ab«, sagte Swanson. »Ob Ernest Miller wirklich ein Gentleman ist, wird sich dagegen erst noch herausstellen.«