Am Nachmittag von Peters letztem Schultag hatte Hester bei den heruntergekurbelten Scheiben seines Pick-ups und der voll aufgedrehten Musik das Gefühl, dass der Sommer nun wirklich gekommen war – und vielleicht auch das Ende einer Ära. Peter und Sam in ihren Anzügen hatten ihre Krawatten gelockert und Hester trug ein hauchdünnes Kleid. Das Wetter war perfekt: nicht zu warm und nicht zu frisch. Vor dem blitzblauen Himmel zeichneten sich die Silhouetten der Steilfelsen gestochen scharf ab. Sam hatte sich zwischen Peter und Hester quetschen müssen und sang die Musik mit – wobei seine Stimme, trotz seiner neuerdings gut zwei Meter großen Statur, noch immer eine wilde Mischung aus hohen und tiefen Tönen hervorbrachte.
»Letting the days go byyyyy, let the water hold me down!«
Hesters Blick wanderte zum Meer. Es glitzerte im Sonnenlicht und funkelte sie an wie tausend Sterne. Gedanken an den Strand, an den Sand, an die Aufschüttungen und an die Höhle blitzten in ihr auf, ohne dass sie sie willentlich heraufbeschwor. Als der Wagen zum Picknickgelände an der Water Street abbog, schüttelte sie ihren halb wachen Zustand ab. »Jungs«, rief sie aufgekratzt, »lasst uns einen Strandspaziergang machen!«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, protestierte Sam, während Peter den Wagen in die Parklücke lenkte. »Das ist nur was für alte Leute. Außerdem bin ich mit ein paar Kumpels im ›Squants Treasure‹ zum Muschelessen verabredet.«
»Und du, Peter?« Hester stieg bereits aus dem Auto.
»Viel Strand wird es im Moment wohl nicht geben, aber ich komme mit.«
»Bis später dann!«, rief Sam und lief gemächlich los Richtung Norden, zum Hafen.
Peter stieg ebenfalls aus und warf seine Jacke auf den Rücksitz. Während er über die Wiese schlenderte, rollte er sich die Ärmel hoch. Er lief entspanntes Sommertempo, so schnell, wie man eben geht, wenn man nichts Genaues vorhat, wenn man nicht den heftigen Drang verspürt, an den Strand zu gelangen. Hester versuchte sich zu beherrschen, legte aber trotzdem noch einen Schritt zu – wobei sie ohnehin schon vorauslief.
»Hey, Hester, wegen der Party ...«, rief Peter ihrem Rücken zu. »Es tut mir wirklich leid, was ich da gesagt habe.«
»Ist schon okay!«, antwortete sie über ihre Schulter. Beeil dich lieber!, dachte sie.
»Du wirst auch ohne meinen Rat, wie du dein Leben zu leben hast, zurechtkommen.«
»Ich weiß schon, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin.«
»Dann bist du eine gute Schauspielerin.«
Sie hatten die Treppe, die zum Strand hinunterführte, fast erreicht. Hester rannte voraus und sah hinab.
»Ach!«, machte sie enttäuscht. Abgesehen von ihren glitschigen grünen Kuppen lagen die Uferfelsen bereits im Wasser. Der schmale Sandstreifen, der vor der Klippe noch sichtbar war, war dunkel und glänzte feucht.
Peter stand nun neben ihr. »Hör mal«, sagte er leise und legte seine Hand auf ihre Schulter, bis sie sich ihm zuwandte und ihn ansah. »Was ich dir neulich Abend eigentlich hätte sagen sollen: dass du immer mit allem zu mir kommen kannst.«
»Danke. Das weiß ich.« Sie konnte sich kaum auf ihn konzentrieren. »Guck mal! Hochwasser. Das war´s mit unserem Spaziergang.«
»Technisch gesehen haben wir immer noch Flut. Hochwasser ist erst um 17:05 Uhr. Wollen wir mit den Füßen durchs Wasser laufen?«
»Du weißt, wann die Gezeiten sind?«
Er sah sie über seine Brille hinweg an. »Falls du dich erinnerst: Ich arbeite auf einem Boot.«
»Heute hast du aber nicht gearbeitet.«
Er zuckte die Schultern und begann die Stufen hinabzugehen. »Die Tabelle klebt auf unserem Kühlschrank.«
Am Fuß der Treppe zog Peter seine Schuhe aus und krempelte seine Hose hoch, während Hester aus ihren Sandalen schlüpfte. Peter öffnete das Tor und sie wateten bis zu den Knien ins kühle Wasser. Eine sanfte Brise wehte. In gleichbleibendem Rhythmus schwappten kleine Wellen an den Strand. Der Widerstand des Wassers erschwerte den Gang, bremste ihre Schritte. Hester wurde ruhiger. Strandläufer folgten dem Saum der Wellen mit kleinen, ruckartigen Schritten und bohrten am Rand der Klippen ihre Schnäbel in den feuchten Sand.
»Die Gezeiten wechseln etwa alle zwölfeinhalb Stunden«, erklärte Peter. »Dadurch bewegen sie sich innerhalb von vierzehn, fünfzehn Tagen einmal rund um die Uhr. Das Ganze ist ziemlich kompliziert – es richtet sich nach der Drehung der Erde und dem Stand des Mondes und der Sonne ... und sogar nach der Struktur des Erdbodens im Küstenbereich. Eine Gezeitentabelle ist das einzig Zuverlässige.«
Hester sah ein Stück voraus, wo die Aufschüttung begann. Die Höhle lag möglicherweise noch ein ganzes Ende weiter – bei Hochwasser sah einfach alles gleich aus.
»Diese Höhle in der Aufschüttung, ist die jetzt schon überflutet?«, fragte sie.
Peter schüttelte den Kopf.
»Warst du schon mal da drin?«
»Natürlich. Als ich mal mit unserem kleinen Ruderboot unterwegs war. Es war gerade Ebbe, darum habe ich das Boot an Land gezogen und mich dort ein bisschen umgesehen. Und du? Warst du auch schon mal dort?«
»Ich? Nein!« Hester schüttelte den Kopf.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was daran so interessant sein soll. Es ist ziemlich dunkel dort drinnen und ziemlich glitschig. Ein paar Kids haben Gras geraucht, ich habe kaum Luft bekommen ...«
Hester hörte schon nicht mehr zu. Die Antwort, die sie Peter gegeben hatte, hatte sie selbst überrascht. Warum hatte sie gelogen und gesagt, sie sei noch nie in der Höhle gewesen? Die ausdrucksvolle Stimme und die klugen Worte des Fremden klangen ihr wieder durch den Kopf. Sie erinnerte sich an ihre anfängliche Wut, dass er sich so hartherzig gezeigt hatte, und wie rasch er dann aber sympathisch geworden war. Als sie schließlich ging, hatte Hester das Gefühl gehabt, er hätte sich gern weiter mit ihr unterhalten. Und noch mehr: Wenn sie wegen der Party, wegen Joeys aggressiver Anmache und wegen der Tatsache, dass die Stimme einem Wildfremden gehörte, nicht so irritiert gewesen wäre, hätte sie durchaus in Versuchung kommen können, zu bleiben und sich weiter mit ihm zu unterhalten.
Sie sah auf die Bucht hinaus. Es war nicht das erste Mal, dass sie vor Peter etwas geheim hielt. Noch nie hatte sie ihm etwas über ihre Familiengeschichte anvertrauen können und über ihre ganz persönliche Angst davor, dass in ihren Genen ein medizinisches Problem lauerte. Peter wusste zwar, dass Hesters Mutter nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war und die Ärzte nie einen Grund dafür gefunden hatten – aber das war auch schon alles.
Bereits vor Susans Tod waren ihre Familien gut miteinander befreundet gewesen. Und nachdem sie gestorben war, waren Peters Eltern da gewesen, nicht nur für Malcolm, sondern auch für den alten Großvater, der seine Tochter auf dieselbe grauenvolle Weise verloren hatte wie damals seine Frau und der, durch den Kummer geschwächt, schließlich an Leukämie starb. Um dies alles hatten die Angelns sich gekümmert, auch um Hester. Und zwei Jahre später war Dave Angeln Malcolms Trauzeuge gewesen, als er Nancy heiratete, Hesters Stiefmutter. Und wieder ein Jahr später war der kleine Sam auf die Welt gekommen, und Hester war Nancy wochenlang nicht von der Seite gewichen, um aufzupassen, dass sie nicht starb.
Erst als Hester auf die Highschool ging, hatte sie angefangen, sich Gedanken über sich selbst zu machen. Dazu hatte es einen konkreten Anlass gegeben: Sie hatte sich verliebt. Liebe. Ein ganz neues und fremdes Gefühl, zunächst angenehm, voller Hoffnung und Sehnsucht. Dann aber, bei nüchterner Betrachtung – düster und bedrückend. Und ohne Perspektive. Je öfter Hester in den vergangenen Jahren darüber nachgedacht hatte, umso deutlicher hatte sich gezeigt, dass ihr zukünftiges Problem bereits jetzt seine Wirkung zeigte. Warum sollte sie eine Beziehung eingehen, wenn nichts dabei herauskommen durfte? Es gab immer noch keine narrensichere Methode, zu verhüten, es sei denn, man ließ sich operieren. Worauf sie lange hätte warten können. Denn welcher Arzt würde sich schon bereit erklären, eine gesunde junge Frau zu sterilisieren?
Liebe. Sex. Tod. Die sicherste Methode war, sich auf diesen Ablauf gar nicht erst einzulassen.
Jetzt blieb Peter stehen und langte ins Wasser. Er holte eine große Meeresschnecke heraus, aber nachdem er sie umgedreht hatte und sah, dass sich der weiche Körper in sein Gehäuse zurückzog, legte er sie zurück.
Hester wusste, dass er sie nicht für verrückt erklären würde, wenn sie ihm von ihren Ängsten erzählte. Aber bestimmt würde er eine Diskussion beginnen und sie zu irgendetwas bringen wollen. Dabei hatte sie das Dilemma für sich doch schon gelöst. Sie hatte einen ganz persönlichen Weg gefunden, dem außer ihr niemand zustimmen musste. Er lag auf der Hand und war leicht durchzuführen: Single bleiben! Auf diese Weise konnte sie nichts falsch machen. Sie würde Karriere machen und darin Erfüllung finden. Und eines Tages würde sie Sams Kindern eine liebevolle Tante sein. Von diesem Plan wollte sie sich nicht abbringen lassen.
Sie blieben einen Moment stehen und sahen über das Meer. Eine Möwe schwebte über ihnen. Sie sah Hester an, lachte ihr »Yakyakyak« und flog davon. Peter sah ihr nach, und dann spürte Hester, wie sein Blick zu ihr wanderte. Sie hatte zu lange geschwiegen.
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass mein Vater mal eine Sirene in der Bucht gesehen hat?«, sagte er mit einem Grinsen.
»Himmel – ich glaube schon! Aber es muss eine Ewigkeit her sein«, platzte sie heraus. Sie war dankbar, dass es etwas zu lachen gab. »Erzähl doch noch mal!«
»Das war, bevor ich auf die Welt kam. Sie schwamm neben seinem Boot her, wie ein Delfin. Ihre Haut war so weiß, dass sie durch die phosphoreszierenden Kleinorganismen im Wasser grünlich schimmerte, verstehst du, wie der Bauch eines Buckelwals. Mein Vater meint, sie war so weiß, weil sie vermutlich in großen Tiefen lebte und keinerlei Pigmente als Sonnenschutz brauchte.«
»Kann es nicht einfach eine Robbe während des Fellwechsels gewesen sein?«, schlug Hester vor.
Peter schüttelte den Kopf. »Dad kennt die Tiere der Bucht in- und auswendig.«
»Ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Legenden über Sirenen, Nixen und Meerjungfrauen durch die Sichtung von Seekühen entstanden sind. Viele Seeleute, die jahrelang auf dem Meer unterwegs waren, waren wohl einfach einsam genug, um sich vorzustellen, dass da tatsächlich Frauen im Wasser schwammen. Die Dugong-Seekühe haben sehr helle Haut, und wenn man sie unter Wasser schwimmen sieht, sieht es aus, als hätten sie einen Menschenkopf, weil sie einen ziemlich schmalen Nacken haben.«
»Notgeile Seemänner? Hester Goodwin, du hast einfach keinen Sinn für das Fantastische!«
»Aber es ist historisch belegt.«
»Das heißt, all diese Geschichten von Männern, die es mit Meerjungfrauen getrieben haben wollen ...«
Hester nickte schelmisch. »... sind nur die Lügen der Seemänner, die ihren Frauen gegenüber ihre tierischen Sauereien nicht zugeben wollen.«
»Jetzt wirst du aber ordinär.«
Hester lachte. Sie drehten um und gingen zur Treppe zurück. Und plötzlich fiel Hester eine Geschichte ein, die sie Peter noch nie erzählt hatte. Ein echtes Geheimnis, das sie ihm anvertrauen konnte.
»Weißt du noch, als wir klein waren und mein Vater mit uns nach White Horse Beach zum Schwimmen gefahren ist?«, fragte sie.
»An diesen Strand ist er dauernd mit uns gefahren!«
»Ich meine den Tag, an dem ich untergegangen bin.«
Ein düsterer Ausdruck zuckte kurz über Peters Gesicht. »Allerdings erinnere ich mich. Du hast nach Boccia-Kugeln getaucht. Du warst ganz verrückt danach, wie ein Golden Retriever.«
»Dad sollte die kleine Zielkugel für mich werfen ...«
»Und sie war so leicht, dass sie viel zu weit flog. Dein Dad hat dir noch hinterhergerufen, dass du sie nicht holen sollst, aber du bist trotzdem hinuntergetaucht, ins Tiefe, weil du immer so unglaublich dickköpfig warst. Aber du bist nicht mehr hochgekommen.«
»Es ist richtig, was man über das Ertrinken sagt. Es war ganz friedlich.«
Peter trat gegen das Wasser, dass es aufspritzte. »Es war verdammt beängstigend.«
»Für mich nicht. Ich hatte keine Angst. Ich hatte nur einfach vergessen, die Luft anzuhalten. Aber ich bin nicht daran gestorben.«
»Als dein Vater dich vom Grund heraufgeholt hatte, hast du eine riesige Menge Wasser aus deinen Lungen gehustet. Dann sind wir zur Erste-Hilfe-Station gelaufen und du hast den ganzen Weg über beteuert, dass es dir gut ging.«
Hester zog ihre Zehen durch den gewellten Sand. Unter der sonnenerwärmten obersten Schicht war er eiskalt.
»Dort unten war eine Frau.«
»Wie bitte?« Peter blieb stehen und starrte Hester an.
»Ja. Und weißt du, was? Sie war total weiß. Wie ein Albino.« Hester hob die Augenbrauen. »Vielleicht war sie eine von Daves Sirenen.«
»Und was hat sie getan?«
»Sie hat mir zwei Finger auf die Lippen gelegt, als wollte sie mich auffordern zu schweigen. Und dann begann mein Vater mich hochzuziehen und sie verschwand.«
»Eine Halluzination!«
Hester versetzte ihm einen Hieb gegen die Schulter und lachte. »Bei mir ist es eine Halluzination und bei deinem Vater eine wissenschaftlich bedeutende Beobachtung?«
»Also bitte, du warst immerhin schon halb ertrunken ...« Peter ging weiter und Hester folgte ihm.
»Ich habe es noch nie jemand erzählt«, sagte sie und dieses Geständnis ließ sie ein wenig erschaudern. »Aber ich habe im Wasser atmen können, wie ein Fisch.«
»Ich habe auch etwas, das ich noch nie jemand erzählt habe«, sagte Peter. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und beugte seinen Kopf an ihr Ohr. »Dass ich mir in die Hose gepinkelt habe, als du nicht mehr hochgekommen bist.«